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Seite 137 - 142

Natur als Kompensationsort für alltägliche soziale Ausgrenzungen – Potenziale für die Arbeit mit sozialökonomisch benachteiligten Menschen

Nature as a place of compensation for everyday social exclusion – Potential for working with socio-economically disadvantaged people

DOI: 10.19217/NuL2022-03-04 • Manuskripteinreichung: 6.4.2021, Annahme: 14.12.2021

Hans-Werner Frohn und Hans-Peter Ziemek

Zusammenfassung

Die qualitative Studie „Perspektivwechsel: Naturpraktiken und Naturbedürfnisse sozialökonomisch benachteiligter Menschen“ zeigt, dass sich entgegen gängiger Vorstellungen bei Bewohnerinnen und Bewohnern sozialer Brennpunkte nicht nur eine Vielzahl konkreter Praktiken des alltäglichen Naturerlebens und sehr konkrete Bedürfnisse nach Naturerleben nachweisen lassen. Die Pionierstudie verdeutlicht auch, dass in der Zielgruppe Natur als ein Kompensationsort für alltägliche soziale Ausgrenzungen dient. Der Beitrag diskutiert zudem die Potenziale, die sich aus den Naturaneignungen in negativer wie in positiver Art für die Arbeit mit Angehörigen der Zielgruppe für den Naturschutz, insbesondere die Umweltbildung, ergeben können.

Naturschutzbildung – Bildung für nachhaltige Entwicklung – soziale Fragen – soziale Ausgrenzungen – Naturvorstellungen

Abstract

The qualitative study “Change of perspective: Practices in and with nature and needs for nature of socio-economically disadvantaged people” shows – contrary to prevalent conceptions – that residents of socially deprived areas have a multitude of concrete practices of everyday nature experience and very specific needs to experience nature. The pioneering study also illustrates that people of that target group perceive nature as a place of compensation for social exclusions experienced in their daily life. The article furthermore discusses the potential that can be derived from the uses of nature – both negative and positive – by people of the target group for nature conservation work and particularly environmental education.

Conservation education – Education for sustainable development – Social issues – Social exclusion – Conceptions of nature

Inhalt

1 Einführung

2 Konzept des Perspektivwechsels

3 Zielgruppenangemessenes Studiendesign

4 Auswahlstädte und Gewinnung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

5 Datenanalyse

6 Ergebnisse

Typ 1: „Schön und gut, aber anderes ist wichtiger“

Typ 2: „Pragmatisch-genügsam“

Typ 3: „Ordnung muss sein!“

Typ 4: „Natur als Projektionsfläche und Sehnsuchtsort“

Typ 5: „Natur aktiv aufsuchend, nutzend und bearbeitend“

7 Fazit: neue Perspektiven für die Naturschutzarbeit

Konfliktpotenzial

Natur als Ort der „Freiheit“

Potenziale für die Natur- und Umweltschutzbildung

8 Literatur

1 Einführung

Erwachsene sozialökonomisch benachteiligte Menschen erleben tagtäglich immer wieder soziale Ausgrenzungen. Sie haben aber offenbar einen Kompensationsort für diese negativen und belastenden Erlebnisse: die Natur. Aufenthalte in der Natur erleben sie als eine Art Freiheit. Dies ist einer von vielen Befunden einer kürzlich abgeschlossenen qualitativen Studie (Frohn et al. 2020).

Diese Befunde entsprechen nicht den gängigen Vorstellungen von der Naturferne sozialökonomisch benachteiligter und/oder bildungsbenachteiligter Menschen. Das Narrativ von der Naturferne dieser Menschen entstand schon in den Anfängen des Naturschutzes (Berger, Frohn 2021) und hält sich bis heute hartnäckig. Die Ergebnisse der seit 2009 erhobenen Daten der Naturbewusstseinsstudien zu den Milieus im unteren Drittel der Gesellschaft, insbesondere die zum Indikator „Bewusstsein für biologische Vielfalt“, scheinen dieses Narrativ alle zwei Jahre erneut zu bestätigen (BMU, BfN 2020). Nun gibt es aber in den letzten Jahren vermehrt Angebote – insbesondere in der Naturschutzbildung – speziell für sozialökonomisch benachteiligte Menschen. Nach unseren Beobachtungen werden diese nur wenig nachgefragt.

Auch im Bereich der Sozialen Arbeit ist das Narrativ von der Naturferne dieser Menschen verbreitet. Hier lauten die Debattenbegriffe „Verinselung“ oder „Verhäuslichung“. So meint der Familienbildner Martin Vollmar (2018: 36) etwa, bei sozialökonomisch benachteiligten Familien sei „eine tiefer verankerte naturdistanzierende Überzeugung bzw. Habitusformation“ vorhanden. Dabei stehen seine referierten konkreten, sehr positiven Erfahrungen mit der Zielklientel in einem ausgesprochenen Widerspruch zu seinem theoretischen Intro, ohne dass er diese Widersprüchlichkeit thematisiert.

Narrative wie das von der Naturferne sozialökonomisch benachteiligter Menschen, die im Naturschutz und in der Sozialen Arbeit begrifflich unterschiedlich, aber inhaltlich übereinstimmend immer wieder tradiert werden, können den Blick auf die Realität verstellen. Um sich dieser Wirklichkeit zu nähern, erscheint es sinnvoll, die gewohnte Perspektive aufzugeben, d. h. sozialökonomisch benachteiligte Menschen nicht als Objekte der Beobachtung anzusehen, denen unreflektiert Angebote unterbreitet werden, sondern dieser Zielgruppe die Möglichkeit zu eröffnen, mit ihren eigenen Worten ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Dazu bedarf es eines anderen, der Zielgruppe angemessenen Methodensets. Die eingangs erwähnten überraschenden Ergebnisse der qualitativen Studie bieten Potenzial für die zukünftige Naturschutzarbeit mit dieser Zielgruppe.

2 Konzept des Perspektivwechsels

Der Ansatz eines Perspektivwechsels fokussiert das Erkenntnisinteresse bei der vorliegenden Problematik nicht auf die Angebote, sondern auf die potenziellen Nachfragen nach Naturerleben bei sozialökonomisch benachteiligten Menschen. Diesem Zugang liegt die Annahme zugrunde, dass die bisherigen Ansätze und Projekte vorwiegend vom Erfahrungshorizont ihrer Inititatorinnen und Initiatoren geleitet sind. Diese entstammen zumeist dem humanistisch orientierten und/oder naturwissenschaftlich gebildeten Bürgertum. Auf dieser Basis unterbreitet man Angebote für sozialökonomisch benachteiligte Personen und registriert, dass es sich bei diesen Menschen offenbar um „schwierige Kunden“ (Kappauf 2012: 32) handele. Will man aber die Zielklientel nicht nur als bloßes Objekt wahrnehmen und/oder Angebote nicht nur auf der Basis von Projektionen oder Vermutungen entwickeln, dann wird man die Perspektive wechseln und zunächst die Bedürfnisse der Zielklientel ermitteln müssen.

3 Zielgruppenangemessenes Studiendesign

Um die Vergleichbarkeit mit anderen großen Umweltstudien zu gewährleisten, greifen die Naturbewusstseinsstudien einige Items aus großen standardisierten Befragungen auf. Da die hierbei verwendeten Fragen oftmals in schwer verständlicher Sprache formuliert sind, steht zu befürchten, dass deren Kerngehalt nicht in allen Milieus gleich gut verstanden wird. Zwar erreichen die Naturbewusstseinsstudien aufgrund des hohen Befragungsaufwands ein Optimum hinsichtlich der einmal gewählten Methode, mit Anke Blöbaum (2020: 132) ist aber zu fragen, ob nicht andere, den Zielgruppen angemessenere Wege zielführender sind, um Naturpraktiken und Bedürfnisse nach Naturerleben zu eruieren. So entwickelte ein transdisziplinäres Team ein eigens der Zielgruppe angepasstes Methodendesign aus problemzentrierten Interviews, Fotodokumentationen und Gruppendiskussionen. Dieser Methodenmix sollte im Sinne einer Triangulation „unterschiedliche Perspektiven auf denselben Forschungsgegenstand“ (Hussy et. al. 2010) ermöglichen.

Bei problemzentrierten Interviews greifen die Interviewenden nur minimal ein (Hussy et al. 2010). Hier können sich die Interviewten als „Expertinnen und Experten in eigener Sache“ einbringen (Gläser, Laudel 2004). Um einen an der Lebenswelt der Interviewten orientierten Einstieg zu finden, lautete die Einstiegsfrage: „Wie sieht für Sie ein schöner Tag aus?“ Die hier angelegte Offenheit sollte den Perspektiven der Teilnehmerinnen und Teilnehmer größtmöglichen Raum geben und es ihnen erlauben, Aspekte anzusprechen, die für ihre Lebensqualität Relevanz besitzen. Man erhält schnell einen Überblick, ob Natur für die Interviewpartnerinnen und -partner eine Rolle spielt, aber auch, ob und, wenn ja, welche konkreten Praktiken des alltäglichen Naturerlebens bereits bei ihnen vorliegen.

Fotodokumentationen erlauben es Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihr alltägliches Erleben ohne große Verbalisierungen zu dokumentieren (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014). Das Projektteam bat, die Aufnahmen mit kurzen schriftlichen bzw. mündlichen Kommentaren zu versehen. Die Eigenkommentierung erschien notwendig, um nicht später aus der Perspektive der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Analysen und Interpretationen vorzunehmen, die nicht den Intentionen der Fotografinnen und Fotografen entsprechen. Um keine sozial erwünschten Antworten zu erhalten, lautete die Bitte an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, „Dinge in der Umgebung“ zu fotografieren. Dies zielte strategisch darauf, in Erfahrung zu bringen, ob sie eigeninitiativ Natur in ihrer Umgebung aufnahmen.

Den Einstieg in die Gruppendiskussionen (Bohnsack 2004) boten die angefertigten Fotodokumentationen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellten ihre Aufnahmen jeweils selbst vor. Sie sortierten diese dann zunächst nach eigenen Kriterien (Abb. 1). Von Interesse war, ob sie selbst bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Diskussionen bzw. der Sortierungen Natur thematisierten.

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Abb. 1: Sortierungen der Fotos während einer der Gruppendiskussionen in Gelsenkirchen.
Fig. 1: Sorting photographs during one of the group discussions in Gelsenkirchen.
(Foto: Stiftung Naturschutzgeschichte)

4 Auswahlstädte und Gewinnung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Die Daten für die qualitative Studie wurden zwischen 2017 und 2019 in Gelsenkirchen, Leipzig und Köln erhoben. Dieser Auswahl lagen die Kriterien zugrunde, dass diese drei Städte durch einen hohen Wohnanteil sozialökonomisch benachteiligter Menschen geprägt sind und seit Jahrzehnten unterschiedlich stark unter den langfristigen Folgen der Deindustrialisierung leiden.

Hinsichtlich der Zielgruppe der sozialökonomisch benachteiligten Menschen erfolgten zwei Eingrenzungen. Es wurden nur Erwachsene einbezogen und nicht zuletzt aus Gründen des Respekts vor der jeweiligen Privatsphäre fanden keine Besuche und Befragungen in Privatwohnräumen statt. So nutzte das Team Anlaufpunkte, die von sozialökonomisch benachteiligten Menschen eigenmotiviert aufgesucht werden, z. B. Lebensmittelausgabestellen oder Einrichtungen der örtlichen Träger der Sozialen Arbeit (Wohlfahrts- oder Sozialverbände), die (Beratungs)informationen oder andere Formen der Unterstützung anbieten. Darüber hinaus wurden Kindergärten, Kindertagesstätten oder Schulen in Stadtteilen mit einem hohen Anteil sozialökonomisch benachteiligter Familien einbezogen. Über die dort betreuten oder in Ausbildung befindlichen Kinder und Jugendlichen ließen sich die Eltern erreichen. Sozialdemografisch war festgelegt, dass die Anzusprechenden Leistungen bis zur maximalen Höhe gesetzlicher Transfergeldleistungen beziehen (Hartz IV bzw. „Transfergeldbezieher“).

Die konkrete Gewinnung von Personen, die an den problemzentrierten Interviews teilnahmen, erfolgte vor allem per direkter persönlicher Ansprache an Lebensmittelausgabestellen und einem Sozialkaufhaus. Die direkte persönliche Ansprache für Fotodokumentationen und Gruppendiskussionen erfolgte bei Einrichtungen kommunaler oder freier Stadtteilarbeit oder bei Einrichtungen für Suchterkrankte, bei Kindertagesstätten sowie bei Maßnahmenträgern für Langzeitarbeitslose. Insgesamt beteiligten sich 69 Personen, die unbestreitbar die soziodemografischen Vorgaben (maximale Höhe von Transferleistungen) erfüllten, an der Studie. Die Altersspannbreite lag zwischen 26 und 82 Jahren. Das Durchschnittsalter betrug 47 Jahre. 15 Personen wiesen einen Migrationshintergrund auf.

5 Datenanalyse

Die erhobenen Daten wurden einer qualitativen Inhaltsanalyse nach dem Ablaufschema von Kuckartz (2012) unterzogen.

Um dem Konzept des Perspektivwechsels gerecht zu werden, wurde zwischen der Perspektive der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und derjenigen Perspektive, die die Forscherinnen und Forscher auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bzw. deren Aussagen einnahmen, unterschieden. So unterteilte das Team die Aussagen bei der Zuordnung zu Kategorien im entwickelten Codierungssystem jeweils strikt danach, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Aussagen über ihre Praktiken, Werte und Vorstellungen selbst aktiv eingebracht und unzweifelhaft ihren Vorstellungen von Natur, ihren Praktiken des alltäglichen Naturerlebens und ihren Bedürfnissen nach Naturerleben Ausdruck verliehen hatten. Hiervon getrennt wurden Aussagen erfasst, die seitens des Teams durch den inhaltlichen Kontext oder die Interpretation von Aussagen (z. B. „Grün“) Natur zugeordnet wurden.

6 Ergebnisse

Die Analyse des umfänglichen Datenpools ergab Folgendes:

    Bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ließen sich konkrete Praktiken des alltäglichen Naturerlebens feststellen.

    Diese Praktiken stellen für sie eine Form der Lebensqualität dar (Abb. 2).

    Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben konkrete Vorstellungen von „Natur“.

    Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehen „Natur“ entweder explizit oder implizit als ein Gemeingut an, d. h. „‚Natur‘ ist für alle da!“

    Sie eignen sich „Natur“ selbstbestimmt an.

    Es herrschen konkrete Bedürfnisse nach Naturerleben. Dabei stellt „Natur“ einen Kompensationsort für im Alltag erlebte soziale Ausgrenzungen dar. „Natur“ erleben Teilnehmerinnen und Teilnehmer explizit oder implizit als „Ort der Freiheit“.

    Das alltägliche Naturerleben findet ganz überwiegend in der Nähe ihrer Wohnungen statt.

Diese Gemeinsamkeiten erlauben aber nicht den Schluss, es handele sich um eine homogene Gruppe:

    Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmer stieß das Projektteam auf ein breites Spektrum von Naturvorstellungen. Diese entsprechen weitgehend der Variationsbreite der gesellschaftlichen Diskurse um „Natur“.

    Die Intensität und die Art und Weise des Naturerlebens waren sehr unterschiedlich ausgeprägt.

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Abb. 2: Aufnahme einer Gelsenkirchenerin, versehen mit dem Kommentar: „Natur ist etwas Besonderes für mich. […] Ich sehe etwas Besonderes, weil das sehr schön, ne. Alles. Natur ist super, ist ach, perfekt.“
Fig. 2: Photo of a woman from Gelsenkirchen, provided with the comment: “Nature is something special for me. [...] I see something special, because that very beautiful, yep. Everything. Nature is super, is oh, perfect.”
(Quelle: Stiftung Naturschutzgeschichte; Arbeitsfoto aus dem Kontext der Studie „Perspektivwechsel“)(Source: Stiftung Naturschutzgeschichte; working photo from the context of the “change of perspective” study)

Eine Datenaggregation nach Kluge (2000: 2 – 6) erlaubte es, fünf Typen des alltäglichen Naturerlebens zu unterscheiden:

Typ 1: „Schön und gut, aber anderes ist wichtiger“

Der ästhetische Wert von „Natur“ und ihre wohltuenden Wirkungen werden wahrgenommen, spielen aber eine untergeordnete Rolle im Leben von Personen dieses Typs. Andere Dinge und Aktivitäten stehen im Zentrum des Alltags. Dies kann in dem Wunsch nach einem geselligen Sozialleben begründet sein oder an der Konzentration auf die Bewältigung des Alltagslebens liegen. Es ist schön, dass „Natur“ da ist, aber sie stellt mehr die Kulisse dar, vor der das eigene Leben stattfindet. Zudem soll Natur pflegeleicht sein. Die Distanz zur aktiv gestaltenden Aneignung von „Natur“ steht jedoch nicht immer im Widerspruch zu einem umfangreichen Wissen über Natur bzw. zu einem reflektierten Umgang mit ihr.

Typ 2: „Pragmatisch-genügsam“

Personen dieses Typs arrangieren sich mit dem, was an Natur in ihrem Wohnumfeld vorhanden ist, und sie stellen keine großen Ansprüche an sie (Abb. 3). Dort kann man Hunde ausführen, Kinder betreuen, spazierengehen oder man ist an der frischen Luft. Zum Teil betonen Personen dieses Typs den gesundheitlichen Nutzen von Natur. Es geht ihnen eher darum, „im Freien“ als explizit „in der Natur“ zu sein. Sie schätzen Natur, eine unstillbare Sehnsucht nach ihr besteht jedoch nicht.

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Abb. 3: Aufnahme einer Gelsenkirchenerin, versehen mit dem Kommentar: „Für Gelsenkirchener Verhältnisse ist das Natur.“
Fig. 3: Photo of a woman from Gelsenkirchen, provided with the comment: “By Gelsenkirchen standards, this is nature.”
(Quelle: Stiftung Naturschutzgeschichte; Arbeitsfoto aus dem Kontext der Studie „Perspektivwechsel“)(Source: Stiftung Naturschutzgeschichte; working photo from the context of the “change of perspective” study)

Typ 3: „Ordnung muss sein!“

Für Personen dieses Typs stehen Ordnung und Struktur im Vordergrund. Natur hat sich auf eine bestimmte Weise in das Leben einzufügen. Unkraut und Wildnis mag man nicht. Brachen stehen für Verwahrlosung. Gärten und Parks werden aufgesucht, diese sollen aber so gestaltet sein und sich in einem solchen Zustand befinden, dass sie dem Bedürfnis nach Ordnung entsprechen: Pflanzen sollen in Reih und Glied stehen, Tiere keinen Dreck machen.

Typ 4: „Natur als Projektionsfläche und Sehnsuchtsort“

Für Personen dieses Typs spielt Natur in der Vergangenheit, in der Fantasie oder in einer virtuellen Welt eine bedeutende Rolle. Mit Natur verbindet man positive Erfahrungen oder erfüllte Bedürfnisse, ob man diese real erlebt oder sich nur vorstellt. Die ersehnten Naturräume und Landschaften fehlen nun im Alltag. Es gibt nur einen mäßigen Ersatz: eine Halde statt Berge, ein PC-Spiel statt eines „wilden“ Walds. Natur bietet einen emotionalen Zufluchtsort und eine Projektionsfläche für ein erfüllteres Leben: durch Abenteuer oder durch soziale Eingebundenheit. Positiv besetzte Erlebnisse stammen aus der Vergangenheit, sie sind im jetzigen Leben nicht erreichbar. Natur ist der Gegenentwurf zum Hier und Jetzt – und wird vermisst.

Typ 5: „Natur aktiv aufsuchend, nutzend und bearbeitend“

Natur spielt im alltäglichen Leben von Personen dieses Typs eine wichtige Rolle. Sie trägt ganz wesentlich zur Lebensqualität bei. Natur wird aufgesucht, um sie bewusst zu genießen, gestalterisch in ihr tätig zu sein oder sich für sie zu engagieren. Die in der Natur ausgeführten Tätigkeiten reichen vom Radfahren um den See bis hin zum Gärtnern. Die Orte, an denen Naturaktivitäten stattfinden, wie einzelne Naturobjekte und -gebiete, begeistern auf die eine oder andere Weise (Abb. 4). Man schätzt Natur. Bei einigen zeigt sich dies auch darin, dass man Naturschutzbelange aktiv unterstützt.

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Abb. 4: Aufnahme einer Gelsenkirchenerin, versehen mit dem Kommentar: „Bei mir vorm Haus, ich höre gern dem Rauschen der Blätter zu.“
Fig. 4: Photo of a woman from Gelsenkirchen, provided with the comment: “In front of my house, I like to listen to the rustling of the leaves.”
(Quelle: Stiftung Naturschutzgeschichte; Arbeitsfoto aus dem Kontext der Studie „Perspektivwechsel“)(Source: Stiftung Naturschutzgeschichte; working photo from the context of the “change of perspective” study)

7 Fazit: neue Perspektiven für die Naturschutzarbeit

Aus den Ergebnissen lassen sich ambivalente Schlussfolgerungen für die künftige Naturschutzarbeit ziehen: Es zeichnen sich Konflikte ab, vor allem aber positive Potenziale.

Konfliktpotenzial

Da die Selbstaneignungen von „Natur“ individuell erfolgen, liegt hier auch Konfliktpotenzial vor. Dies betrifft – nach Typen sehr unterschiedlich – z. B. die Bereitschaft, sich auf notwendige Regeln zum Schutz von Natur und Landschaft einzulassen.

Natur als Ort der „Freiheit“

Die Selbstaneignungen stehen in einer engen Beziehung zum eingangs erwähnten Verständnis von „Freiheit“, das mit dem Aufenthalt in der Natur konnotiert ist. Natur, das Erleben von Natur, der Aufenthalt in ihr – dies stellt für die Zielgruppe einen Kompensationsort für alltäglich erlebte soziale Ausgrenzungen dar. Dieser Freiheitsbegriff unterscheidet sich aber fundamental von dem, der in bürgerlichen Kreisen und im Naturschutz weit verbreitet ist. „Freiheit“ liegt jeweils ein spezifisches Relationsverhältnis zugrunde.

Natur zählt der Soziologe Hartmut Rosa „zu einer – oder vielleicht sogar zu der – zentralen Resonanzsphäre der Moderne“ (Rosa 2016: 455 f.). Der Aufenthalt in der Natur steht für „Freiheit“ vor allem von Zivilisation; Natur ist ein Kompensationsort zivilisatorischer Zwänge und technischer Einflüsse. Die nähere Betrachtung der Quellen, die der Aussage Rosas zugrunde liegen, zeigt allerdings, dass sich seine Analyse auf die bürgerliche Sphäre beschränkt. Auch in der Historie des Naturschutzes zeigt sich unter bürgerlichen Naturschützern – oft unter zivilisationskritischen Vorzeichen – ein solcher Freiheitsbegriff (Frohn 2009). Auf die Zielgruppe trifft die Aussage Rosas nicht zu. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer verbinden – implizit, aber auch explizit – Natur auch mit „Freiheit“: Hier sind sie „frei“ von den alltäglichen sozialen Ausgrenzungen.

Potenziale für die Natur- und Umweltschutzbildung

Aus Sicht der Autoren überwiegt hinsichtlich des Potenzials das Positive. Allerdings muss man mit Mark Terkessidis (2018: 87) selbstkritisch fragen, ob die eigenen Strukturen im Naturschutz „eigentlich ‚fit‘ für eine Vielheit der Gesellschaft“ sind. Zudem wird es nur gelingen, Natur als Kompensationsort für alltägliche soziale Ausgrenzungen zu nutzen*, wenn man konsequent die Perspektive wechselt. Hätte das Team in schwer verständlicher Sprache des bürgerlichen Codes mit den Angehörigen der Zielgruppe kommuniziert, hätte es wahrscheinlich eine ähnliche Fehlanzeige hinsichtlich einer Naturaffinität zu Tage gefördert wie die bisherigen großen repräsentativen Umfragen. Auch wenn viele naturschutzspezifische Begriffe bekannt sind, so kommuniziert man in der Zielgruppe anders als in Naturschutzkreisen. Nicht selten reagierten Naturschutzakteurinnen und -akteure auf Zwischenergebnisse mit dem Hinweis „Das ist ja nur Grün“. Wer sich in der Zielgruppe gleichsam gespiegelt sehen will, wer mit dem Anspruch auftritt, dass Menschen aus der Zielgruppe zu Naturschützerinnen und Naturschützern mutieren sollen, wird das Potenzial nicht erkennen und auch nicht nutzen können. Dann bleiben Angehörige der Zielgruppe weiterhin „schwierige Kunden“ (Kappauf 2012, s. o.). Sie sind aber nur „andere Kunden“, denen man mit neuen Ansätzen und Didaktiken begegnen muss.

Erfolg versprechend erscheint der Ansatz einer „aufsuchenden Umweltbildung“ (Kappauf 2012: 32). Nun werden Personen, die in der Natur- und Umweltschutzbildung tätig sind, sich nicht einfach in städtische soziale Brennpunkte begeben können, um dort neue Angebote „an der Tür anzupreisen“. Besser erreicht man zumindest Teile der Zielgruppe über bestehende Einrichtungen der Sozialen Arbeit vor Ort. Kooperationen liegen hier nahe. Doch man wird beim potenziellen Kooperationspartner keine offenen Türen einlaufen, denn auch in der Sozialen Arbeit ist, wie der oben erwähnte Beitrag von Vollmar (2018) zeigt, das Narrativ von der Naturferne sozialökonomisch benachteiligter Menschen verbreitet. Man wird um die Zusammenarbeit werben müssen. Ein zentrales Argument bei Kooperationen ist das des beiderseitigen Interesses.

Ansatzpunkte für konkrete gemeinsame Aktivitäten bieten beispielsweise die Debatten um das Insektensterben. Der massive Rückgang an Insektenpopulationen erreichte Menschen aus der Zielgruppe mittelbar über Kindergärten, Kitas und Schulen. Kinder und Jugendliche brachten ihren Eltern oder Großeltern das Problem anhand des Bienensterbens nahe. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bezogen nicht nur allgemein Position und leiteten daraus Forderungen ab. Etliche hatten sich bereits über kleinere niedrigschwellige Projekte praktisch für den Schutz der Insekten engagiert, indem sie sogenannte Insektenhotels, in denen Wildbienen ihre Eier ablegen können, gebaut und in ihrem direkten Wohnumfeld platziert hatten (Abb. 5). Mögliche weitere Arbeitsfelder, auf denen man miteinander kooperieren könnte, wären niedrigschwellige Projekte zur Anlage und Pflege wohnortnaher Wildblumenstreifen oder Pflanzaktionen im Bereich von Baumscheiben.

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Abb. 5: Aufnahme eines Leipzigers mit Hinweis darauf, dass die Insekten-Nisthilfe im Kontext einer Gruppenarbeit eines sozialen Trägers entstanden sei.
Fig. 5: Photo of a man from Leipzig with reference to the fact that the insect nesting aid was created in the context of group work carried out by a charity organisation.
(Quelle: Stiftung Naturschutzgeschichte; Arbeitsfoto aus dem Kontext der Studie „Perspektivwechsel“)(Source: Stiftung Naturschutzgeschichte; working photo from the context of the “change of perspective” study)

Zusammenarbeiten lässt es sich beispielsweise auch bei Pflegeaktionen stadtnaher Streuobstwiesen. Solche niedrigschwelligen Angebote fördern die Gesundheit (durch körperliche Tätigkeit bzw. Bewegung an der „frischen Luft“), würden aber auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sicherlich zu unmittelbaren Erfolgserlebnissen führen, d. h. sie würden aus Sicht der Sozialen Arbeit direkt ihre Selbstwirksamkeit erleben. Insofern stünde dies auch im Kontext der Empowerment-Arbeit (Herriger 2020). Niedrigschwellige Angebote trügen aber auch dazu bei, das Bewusstsein um den Schutz der biologischen Vielfalt zu steigern und konkrete Beiträge dazu zu leisten. Solche Formen der Zusammenarbeit lägen im beiderseitigen Interesse. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen zunehmend über den Zusammenhang von Zoonosen, intakter Natur und Pandemien (BfN 2020) debattiert wird, lässt sich ein Bogen von der „großen“ Nachhaltigkeitsstrategie zur konkreten Zusammenarbeit im beiderseitigen Interesse schlagen.

8 Literatur

  Berger L., Frohn H.-W. (2021): Historie und Aktualität der Beziehungen zwischen Naturfragen und sozialen Fragen – ein Plädoyer für ein stärkeres Engagement des Naturschutzes in sozialpolitischen Debatten. Natur und Landschaft 96(11): 531 – 535.

  BfN/Bundesamt für Naturschutz (2020): Corona-Krise und Handel mit Wildtieren. BfN. Bonn: 5 S.

  Blöbaum A. (2020): Kommentar: Naturbedürfnisse sozialökonomisch benachteiligter Menschen – Perspektivwechsel gelungen? Eine Reflexion aus umweltpsychologischer Perspektive. In: Frohn H.-W., Birkenstein G. et. al. (2020): Perspektivwechsel: Naturpraktiken und Naturbedürfnisse sozialökonomisch benachteiligter Menschen. Eine qualitative Pionierstudie. BfN-Skripten 559: 132 – 137.

  BMU, BfN/Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.) (2020): Naturbewusstsein 2019. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt. BMU, BfN. Berlin, Bonn: 107 S.

  Bohnsack R. (2004): Gruppendiskussion. In: Flick U., Kardorff E. von, Steinke I. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 3. Aufl. Rowohlt. Reinbeck: 369 – 384.

  Fraser N., Honneth A. (2017): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Suhrkamp. Frankfurt am Main: 320 S.

  Frohn H.-W. (2009): Das Stiefkind der Bewegung: Sozialpolitischer Naturschutz und die Bemühungen um Erholungsvorsorge 1880 bis 1969. In: Frohn H.-W., Rosebrock J., Schmoll F. (Bearb.): „Wenn sich alle in der Natur erholen, wo erholt sich dann die Natur?“ Naturschutz, Freizeitnutzung, Erholungsvorsorge und Sport – gestern, heute, morgen. Naturschutz und Biologische Vielfalt 75: 39 – 124.

  Frohn H.-W., Birkenstein G. et al. (2020): Perspektivwechsel: Naturpraktiken und Naturbedürfnisse sozialökonomisch benachteiligter Menschen. Eine qualitative Pionierstudie. BfN-Skripten 559: 171 S.

  Gläser J., Laudel G. (2004): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden: 340 S.

  Herriger N. (2020): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 6. Aufl. Kohlhammer. Stuttgart: 274 S.

  Hussy W., Schreier M., Echterhof G. (2010): Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften. Springer. Berlin: 318 S.

  Kappauf T. (2012): Erfolgsbedingungen milieuspezifischer Umweltbildung für bildungsferne Schichten. In: DUH/Deutsche Umwelthilfe (Hrsg.): Umweltgerechtigkeit & biologische Vielfalt. Stadtnatur und ihre soziale Dimension in Umweltbildung und Stadtentwicklung. DUH. Radolfzell: 32 – 33.

  Kluge S. (2000): Empirisch begründete Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung. Forum Qualitative Sozialforschung (FQS) 1(1): 1 – 11.

  Kuckartz U. (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Beltz Juventa. Weinheim: 188 S.

  Przyborski A., Wohlrab-Sahr M. (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4. Aufl. Oldenbourg Wissenschaftsverlag. München: 462 S.

  Rosa H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 3. Aufl. Suhrkamp. Berlin: 815 S.

  Terkessides M. (2018): Vielheit, Interkultur und Zusammenarbeit. Was hat das alles mit Naturschutz zu tun? In: Frohn H.-W., Wichert F. (Hrsg.): Naturschutz: natürlich sozial, interkulturell und inkludierend?! BfN-Skripten 514: 87 – 100.

  Vollmar M. (2018): Familienbildung in der Natur. Ein Projekt mit sozial benachteiligten Familien. erleben und lernen 3 & 4: 35 – 38

Fußnoten

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Dr. Hans-Werner Frohn

Korrespondierender Autor

Stiftung Naturschutzgeschichte

Drachenfelsstraße 118

53639 Königswinter

E-Mail: frohn@naturschutzgeschichte.de Internet: http://www.naturschutzgeschichte.de Der Autor studierte Geschichte, Politologie und Germanistik in Bonn, Köln und Siegen. Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Naturschutzgeschichte. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Akzeptanz von Naturschutzanliegen, sozialpolitisch, interkulturell und inklusiv ausgerichteter Naturschutz, Naturschutz und Erholungsvorsorge sowie Naturschutz und Shoah.

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Prof. Dr. Hans-Peter Ziemek

Universität Gießen

Institut für Biologiedidaktik

Karl-Glöckler-Straße 21c

35394 Gießen

E-Mail:hans.p.ziemek@didaktik.bio.uni-giessen.de

Internet: https://www.uni-giessen.de/fbz/fb08/Inst/biologiedidaktik.

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