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Vilmer Thesen: Neue Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft – Herausforderungen und Chancen

Vilm Theses: New coalitions between nature conservation and agriculture – Challenges and opportunities

DOI: 10.19217/NuL2023-02-04 • Manuskripteinreichung: 16.2.2022, Annahme: 9.11.2022

Lieske Voget-Kleschin, Simon P. Meisch, Konrad Ott, Gisela Stolpe und Thomas Potthast

Zusammenfassung

Unter den vorherrschenden Landwirtschaftspraktiken kommt es auf landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen zu einem dramatischen Rückgang der biologischen Vielfalt. Viele Akteure aus Landwirtschaft und Naturschutz sind mit der Situation unzufrieden: Landwirtinnen und Landwirte sehen durch Forderungen nach mehr Umwelt-, Klima- und Naturschutz ihre betriebswirtschaftlichen Grundlagen bedroht und ihre bisherigen Leistungen nicht wertgeschätzt; Naturschützerinnen und -schützer kritisieren in deutlicher Form negative Effekte der industrialisierten Landwirtschaft. So entstehen wechselseitige Entfremdungen, Frustrationen und „Polarisierungen“. In jüngerer Zeit ist aber auch eine wechselseitige Annäherung beobachtbar, insbesondere im Zuge der Arbeit der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL). Die vorliegenden Vilmer Thesen argumentieren, dass das Zusammenspiel von Agrarwende und Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis, den Werten und Zielen von Landwirtschaft und Naturschutz Möglichkeiten für produktive, zukunftsweisende Koalitionen bietet. Im ersten Teil verortet These 1 die Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft bei der gesamten Gesellschaft. Im zweiten Teil arbeiten die Thesen 2 – 5 die zentrale Rolle angemessener politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen heraus. Im dritten Teil zeigen die Thesen 6 – 8 auf, wie eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Naturschutz und Landwirtschaft aussehen kann. Im vierten Teil werden in den Thesen 9 – 12 wichtige Akteursgruppen und Ansätze im Ringen um mehr Naturschutz in der Landwirtschaft benannt.

Landwirtschaft – Agrarwende – Gemeinwohl – berufliches Selbstverständnis – Anerkennungsverhältnisse – ökologischer Landbau – biologische Vielfalt

Abstract

Under prevailing agricultural practices, biodiversity on agricultural land has declined dramatically. This frustrates many stakeholders in both agriculture and nature conservation: Farmers perceive demands for more environmental, climate and nature protection as threatening their businesses and do not see their previous achievements appreciated; nature conservationists complain about negative effects of industrialised agriculture. This results in mutual alienation and polarisation. More recently, however, stakeholders have been finding some common ground, especially in the course of the work of the German Commission on the Future of Agriculture (ZKL). The present Vilm Theses argue that the interplay of a paradigm shift in agricultural policies and a debate regarding the self-perception, values and goals of agriculture and nature conservation offer opportunities for productive, forward-looking coalitions. In the first part, Thesis 1 assigns responsibility for more conservation in agriculture to society as a whole. In the second part, Theses 2 – 5 point to the focal importance of suitable political and economic frameworks. In the third part, Theses 6 – 8 discuss how a critical and constructive debate between nature conservation and agriculture could look like. In the fourth part, Theses 9 – 12 identify groups of actors and approaches that play a vital role in achieving more nature conservation in agriculture.

Agriculture – Paradigm shift in agricultural policies – Common good – Agriculture's professional self-image – Recognition – Organic agriculture – Biodiversity

Inhalt

Einleitung

I. Zur Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft

1. Landwirtinnen und Landwirte können stärker als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen Einfluss darauf nehmen, ob die Ziele des Naturschutzes erreicht werden. Die Verantwortung für das Gemeinwohlinteresse Naturschutz liegt jedoch bei der gesamten Gesellschaft.

II. Zur Notwendigkeit einer Agrarwende

2. Eine Agrarwende muss Rahmenbedingungen schaffen, die es landwirtschaftlichen Betrieben besser ermöglichen, Naturschutz und die Produktion weiterer Gemeinwohlleistungen in ihr Betriebskonzept zu integrieren.

3. Größere Spielräume auf Betriebsebene, die Reduktion von Sanktionsrisiken und Beratungsangebote können entscheidend dazu beitragen, dass landwirtschaftliche Betriebe Naturschutz besser in ihr Betriebskonzept integrieren können.

4. Politisch einflussreiche Akteursgruppen verhindern die Transformation zu einer „anderen“, dem Natur-, Umwelt- und Klimaschutz förderlichen Landwirtschaft.

5. Aufgrund ihrer Kompetenz im Bereich der kritischen Strukturanalyse von Agrarpolitik können und sollten Naturschutzverbände wichtige Koalitionspartner für Landwirtinnen und Landwirte sein.

III. Gegenseitige Anerkennung, gemeinsame Praxis und kritisches Selbstverständnis

6. Naturschutzakteure, die eine konstruktive Rolle in der Agrarwende spielen wollen, sollten die Ziele und Werte von Landwirtinnen und Landwirten verstehen und anerkennen, dass politisch-ökonomische Rahmenbedingungen deren Handlungsmöglichkeiten wesentlich beeinflussen.

7. Jenseits politischer Debatten ergibt sich für Naturschützerinnen, Naturschützer, Landwirtinnen und Landwirte gerade durch die Begegnung in der Praxis die große Chance, ein geteiltes Problemverständnis und gemeinsame Handlungsoptionen zu entwickeln.

8. Eine kritische Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses im Rahmen der Ausbildung kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Landwirtinnen und Landwirte fähig und bereit sind, mehr Naturschutz in ihrem Betrieb umzusetzen.

IV. Wichtige Akteursgruppen und Ansätze für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft

9. Der ökologische Landbau leistet einen maßgeblichen Beitrag zum Naturschutz in der Landwirtschaft. Er bietet zudem hervorragende Voraussetzungen für darauf aufbauende weitere produktionsintegrierte Naturschutzmaßnahmen.

10. Eine Vielzahl unterschiedlichster Akteure besitzt Land und bestimmt daher mit, wie es (landwirtschaftlich) genutzt wird. Landbesitzerinnen und Landbesitzer können und sollen Verantwortung dafür übernehmen, dass die Bewirtschaftung ihres Landes Gemeinwohlinteressen dient.

11. Ein Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher ist bereit, einen Aufpreis für naturschutzverträglich produzierte Lebensmittel zu bezahlen. Ein klar definiertes Biodiversitätslabel würde es ermöglichen, diese Präferenzen in tatsächliche Nachfrage zu übersetzen.

12. Die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse bedingen einander. Zusammen ermöglichen sie Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, die auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe praktikabel und auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig sind.

Literatur

Einleitung

Ohne Landwirtschaft gibt es keine Lebensmittelerzeugung und -versorgung. Auch Naturschutz in der Kulturlandschaft ist auf Landwirtschaft angewiesen: Ohne sie käme ein Großteil der Offenland besiedelnden Zielarten des Naturschutzes in Deutschland nicht vor. Zugleich ist der Beitrag des Sektors Landwirtschaft zu vielen globalen Umweltproblemen offensichtlich: Unter den vorherrschenden Praktiken kommt es auf landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen zu einem dramatischen Rückgang der biologischen Vielfalt. Damit einhergehend führt die intensive landwirtschaftliche Flächennutzung zu Bodenerosion und -verdichtung, Nitratbelastung des Grundwassers, Eutrophierung von Oberflächengewässern und hohen Treibhausgasemissionen. Nicht nur aus Naturschutz-, sondern auch aus Umwelt- und Klimaschutzperspektive ist eine „Agrarwende“ im Sinne einer grundlegenden Transformation des Sektors dringend notwendig. Sie wird mit guten Gründen seit Jahrzehnten von Fachleuten und -gremien gefordert. Letztlich liegt der Schutz von Natur, Umwelt und Klima insofern auch im Eigeninteresse von Landwirtinnen und Landwirten, als die Qualität der Gemeingüter Boden, Grundwasser, Klima und Biodiversität wichtige Basis für die Landwirtschaft selbst ist und die Erzeugung gesellschaftlich gewünschter Gemeinwohlleistungen für Landwirtinnen und Landwirte mit gesellschaftlicher Anerkennung verbunden ist.

In jüngerer Zeit gibt es neue Ansätze des wechselseitigen Entgegenkommens von Naturschutz und Landwirtschaft auf verschiedenen Ebenen, von viel versprechenden lokalen Initiativen bis hin zur Arbeit der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL; ZKL 2021). Die vorliegenden Vilmer Thesen* argumentieren, dass die Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Naturschutz produktive, zukunftsweisende Koalitionen für die besagte Agrarwende ermöglicht. Im ersten Teil verortet These 1 die Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft bei der gesamten Gesellschaft. Im zweiten Teil arbeiten die Thesen 2, 3, 4 und 5 die zentrale Rolle angemessener politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen heraus: Um den erforderlichen Mindestanteil von 20 bis 30 % der Agrarfläche in biodiversitätsfreundlicher Bewirtschaftung (Oppermann et al. 2020) zu erhalten, reicht es nicht aus, allein auf freiwillige Maßnahmen zu setzen, sondern es bedarf auch verbindlicher Vorgaben in Form entsprechender Regelwerke. Die Thesen stellen heraus, dass eine Honorierung der Erzeugung von Gemeinwohlleistungen sowie die Eröffnung von Gestaltungsspielräumen auf Betriebsebene komplementär zu verbindlichen Vorgaben einen wichtigen Beitrag leisten, dass die Realisierung von mehr Naturschutz auf dem Betrieb für Landwirtinnen und Landwirte praktikabel ist; sie weisen darauf hin, welche Akteure sich gegen eine entsprechende Änderung von Rahmenbedingungen wehren und wie der Naturschutz konstruktiv auf eine entsprechende Änderung von Rahmenbedingungen hinwirken kann. Im dritten Teil zeigen die Thesen 6, 7 und 8 auf, wie eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Naturschutz und Landwirtschaft aussehen kann. Im vierten Teil werden in den Thesen 9, 10, 11 und 12 wichtige Akteursgruppen und Ansätze im Ringen um mehr Naturschutz in der Landwirtschaft benannt.

Die Thesen sind von der Überzeugung geprägt, dass die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen – sich also gegenseitig bedingen und fördern (können). Die Verfasserinnen und Verfasser der Thesen möchten einen Beitrag dazu leisten, neue Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft zu motivieren, die auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe praktikabel und auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig sind.

I. Zur Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft

1. Landwirtinnen und Landwirte können stärker als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen Einfluss darauf nehmen, ob die Ziele des Naturschutzes erreicht werden. Die Verantwortung für das Gemeinwohlinteresse Naturschutz liegt jedoch bei der gesamten Gesellschaft.

Naturschutz in der Agrarlandschaft ist ein gut begründetes legitimes Interesse heutiger und zukünftiger Generationen. Darüber hinaus werden Naturschutz und die Erhaltung der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft von der Bevölkerung gewünscht (BMU, BfN 2016) und sind wichtiger Bestandteil politischer Strategien (vgl. die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, BMU 2007; siehe dazu Meisch et al. 2021) und entsprechender Rechtsnormen (§ 1 des Bundesnaturschutzgesetzes – BNatSchG; UN-Konvention über die biologische Vielfalt – CBD).

Etwa die Hälfte der Fläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt. Die Art und Weise, in der auf diesen Flächen Landwirtschaft betrieben wird, ist entscheidend dafür, inwieweit Ziele des Naturschutzes realisiert werden können. Landwirtinnen und Landwirte haben daher – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – sehr große Einflussmöglichkeiten auf das Gemeinwohlinteresse Naturschutz. Dies bedeutet weder, dass Landwirtinnen und Landwirte allein oder überwiegend für den Schutz der Natur verantwortlich sind, noch, dass sie die durch Naturschutz entstehenden Kosten allein tragen müssen. Für das Gemeinwohlinteresse Naturschutz ist die Gesellschaft als Ganze verantwortlich. Sie kann dieser Verantwortung nachkommen, indem sie Rahmenbedingungen schafft, die es Landwirtinnen und Landwirten ermöglichen, ihre Einflussmöglichkeiten für mehr Naturschutz zu nutzen (vgl. These 2).

II. Zur Notwendigkeit einer Agrarwende

2. Eine Agrarwende muss Rahmenbedingungen schaffen, die es landwirtschaftlichen Betrieben besser ermöglichen, Naturschutz und die Produktion weiterer Gemeinwohlleistungen in ihr Betriebskonzept zu integrieren.

Landwirtinnen und Landwirte bewegen sich in schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen, die sie nur sehr bedingt selbst gewählt haben. Eine Agrarwende könnte Bedingungen schaffen, die es ermöglichen, dass Landwirtinnen und Landwirte für die Erbringung von Gemeinwohlleistungen (z. B. über eine Gemeinwohlprämie, vgl. DVL 2020) angemessen honoriert werden und als Erzeugerinnen und Erzeuger von Gemeinwohlleistungen eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung erfahren als bisher. Nur wenn Betriebe mit Gemeinwohlleistungen Geld verdienen (können), können sie als „Manager unserer Umwelt auf […] rund 50 % der Fläche der Bundesrepublik“ agieren (DVL 2021: 3).

Das Leitbild des „Zukunftsbauern“ (DBV o. J.; DVL 2021; Lönneker et al. 2022) betont die entscheidende Rolle, die Landwirtinnen und Landwirte in Bezug auf flächenbezogene Aufgaben der Zukunft, wie die Erhaltung der Biodiversität und den Klimaschutz, spielen (DVL 2021). Es zielt darauf ab, die gesellschaftliche Wertschätzung der Landwirtschaft in der Öffentlichkeit zu steigern. Eine solche höhere gesellschaftliche Wertschätzung ist wünschenswert. Die Erzeugung von Gemeinwohlleistungen bietet gute Gründe, Landwirtschaft gesellschaftlich höher wertzuschätzen (für eine Position, die unter „Zukunftsbauern“ das Leitbild der Versorgungssicherheit in den Vordergrund stellt, vgl. dagegen https://www.bauernverband.de/themendossiers/zukunftsbauern, für einen Fokus auf „Gestaltung öffentlichen Vertrauens“ – so der Untertitel des Buches – vgl. Lönneker et al. 2022).

3. Größere Spielräume auf Betriebsebene, die Reduktion von Sanktionsrisiken und Beratungsangebote können entscheidend dazu beitragen, dass landwirtschaftliche Betriebe Naturschutz besser in ihr Betriebskonzept integrieren können.

Welche Maßnahmen auf landwirtschaftlichen Flächen zur Realisierung von mehr Naturschutz in der Agrarlandschaft beitragen, ist wissenschaftlich gut ausgearbeitet; es liegen konkrete, anwendbare Maßnahmenkataloge vor (z. B. Gottwald, Stein-Bachinger 2016; DVL 2020; Lüth et al. 2022). Ein darauf abgestimmtes Förderinstrumentarium existiert jedoch allenfalls in Ansätzen. Damit landwirtschaftliche Betriebe Naturschutz bzw. die Produktion von Gemeinwohlleistungen einfacher und besser in ihr Betriebskonzept integrieren können, sind Veränderungen der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen dringend erforderlich (Hampicke 2013; DVL 2020; ZKL 2021). Dazu gehören insbesondere:

    Das Ermöglichen von Spielräumen auf Betriebsebene.

    Die Reduktion von Sanktionsrisiken, d. h. dem Risiko, aufgrund von (unabsichtlicher) Nichteinhaltung von Auflagen finanziell sanktioniert zu werden. So wird z. B. bei der Erfüllung der Verpflichtung zur Ausweisung ökologischer Vorrangflächen (ÖVF) über das Anlegen naturschutzfachlich wünschenswerter Streifenelemente von Landwirtinnen und Landwirten u. a. die geforderte Abmessungsgenauigkeit als Sanktionsrisiko eingeschätzt (vgl. Röder et al. 2019) – das Risiko, aufgrund einer unbeabsichtigten Nichteinhaltung dieser Auflage sanktioniert zu werden, wird als so groß wahrgenommen, dass Landwirtinnen und Landwirte das Anlegen von Streifenelementen als ÖVF als unattraktiv ansehen. Hier geht es also nicht darum, Kontroll- und Sanktionsregelungen auszusetzen, sondern sie so auszugestalten, dass die Durchführung von Naturschutzmaßnahmen für Landwirtinnen und Landwirte praktikabler und dadurch attraktiver wird und so naturschutzfachlich unerwünschte Nebeneffekte (hier etwa, dass ÖVF nicht für die Anlage von Streifenelementen genutzt werden) verringert bzw. vermieden werden (hier etwa durch die Entschärfung der Abmessungsproblematik) (Röder et al. 2019).
    Beratungsangebote, die Landwirtinnen und Landwirte bei der Auswahl und Umsetzung passender Maßnahmen mit dem größtmöglichen ökologischen Effekt unterstützen und begleiten (Oppermann et al. 2018).

4. Politisch einflussreiche Akteursgruppen verhindern die Transformation zu einer „anderen“, dem Natur-, Umwelt- und Klimaschutz förderlichen Landwirtschaft.

Gerade bezüglich der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union (EU) sind überzeugende Vorschläge für eine Agrarwende ausgearbeitet worden (vgl. Birkenstock, Röder 2018; DVL 2020). Wie auch das Ergebnis der letzten GAP-Reform zeigt, wird die Umsetzung dieser Vorschläge jedoch blockiert. Es sind primär nicht die einzelnen Landwirtinnen und Landwirte, die die dringend notwendigen Änderungen verhindern. Hinter den Blockaden stehen vielmehr Teile der Finanzwirtschaft, Agrochemie, Agrar- und Ernährungswirtschaft, die vom bestehenden System der Flächenprämie und der (Welt)marktordnung direkt oder indirekt profitieren. Verflochten und vertreten werden diese Interessen nicht zuletzt durch den Deutschen Bauernverband (DBV) (Nischwitz, Chojnowski 2019). Gleichzeitig fühlen sich Landwirtinnen und Landwirte gemäß einer Forsa-Umfrage durch den Deutschen Bauernverband zu 56 % als „eher schlecht“ bis „sehr schlecht“ vertreten (Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH 2019).

Das Problem besteht also nicht nur und häufig auch nicht primär in Konflikten zwischen konkreten Personen aus Landwirtschaft und Naturschutz, sondern darin, dass politisch einflussreiche Akteursgruppen die Transformation zu einer „anderen“, dem Natur-, Umwelt- und Klimaschutz förderlichen Landwirtschaft verhindern (Hampicke 2013).

5. Aufgrund ihrer Kompetenz im Bereich der kritischen Strukturanalyse von Agrarpolitik können und sollten Naturschutzverbände wichtige Koalitionspartner für Landwirtinnen und Landwirte sein.

Seit Langem haben sich Naturschutzverbände, aber auch überparteiliche Zusammenschlüsse wie etwa das Agrarbündnis e. V. (https://agrarbuendnis.de/ mit dem jährlichen „Kritischen Agrarbericht“) mit Strukturfragen der EU-Agrarpolitik sowie mit lokalen Agrarfragen befasst. Mit dieser Expertise können und sollen diese Verbände daher wichtige Koalitionspartner für landwirtschaftliche Betriebe sein, denen an einer Agrarwende gelegen ist. Dafür ist es nicht notwendig, dass sich beide auf vollständig übereinstimmende Detailziele verständigen – dies könnte ggf. sogar zu einem schlechten Kompromiss im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners führen. Stattdessen können und sollten Akteure aus Landwirtschaft und Naturschutz auf Basis der Strukturanalysen von Agrarpolitik (vgl. These 4) sowie angesichts ihrer (teilweise) unterschiedlichen Interessen viel versprechende Verhandlungsspielräume sondieren. Positiv ist hier aktuell die Arbeit der ZKL (ZKL 2021) hervorzuheben.

III. Gegenseitige Anerkennung, gemeinsame Praxis und kritisches Selbstverständnis

6. Naturschutzakteure, die eine konstruktive Rolle in der Agrarwende spielen wollen, sollten die Ziele und Werte von Landwirtinnen und Landwirten verstehen und anerkennen, dass politisch-ökonomische Rahmenbedingungen deren Handlungsmöglichkeiten wesentlich beeinflussen.

Neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln sehen Landwirtinnen und Landwirte nach eigener Aussage das Bewahren und Schützen von Natur als Kern ihrer Tätigkeit an (DBV 2011). Geschützt werden soll Natur hier in ihrer Rolle als Produktionsgrundlage, d. h. als Teil des Betriebs, den es – zumindest gemäß einem bäuerlichen Selbstverständnis – in guter oder besserer Verfassung an die nächste Generation weiterzugeben gilt (DBV 2011). Somit verstehen Landwirtinnen und Landwirte Umwelt- und Naturschutz durchaus als eines ihrer Anliegen.

Allerdings führen die meisten Naturschutzmaßnahmen für landwirtschaftliche Betriebe zu geringeren Flächenerträgen. Wer einen landwirtschaftlichen Betrieb führen will, kann Naturschutz in der Agrarlandschaft nur so weit realisieren, wie dies mit der dauerhaften Erhaltung eines Einkommens und damit des Betriebs vereinbar ist. Inwiefern dies möglich ist, hängt entscheidend von politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Dies müssen Naturschützerinnen und Naturschützer anerkennen. Zugleich sollten sich alle Akteure auch bewusst machen, dass Naturschutz nicht allein auf unbewirtschafteten Flächen in Schutzgebieten stattfinden kann, weil viele Zielarten gänzlich (z. B. Ackerwildkräuter) oder zum Teil (z. B. Feldvögel) auf bewirtschaftete Flächen als Lebensraum angewiesen sind.

7. Jenseits politischer Debatten ergibt sich für Naturschützerinnen, Naturschützer, Landwirtinnen und Landwirte gerade durch die Begegnung in der Praxis die große Chance, ein geteiltes Problemverständnis und gemeinsame Handlungsoptionen zu entwickeln.

Viele konkrete Projekte (vgl. z. B. https://gai-ev.de/veranstaltungen/) zeigen: Begegnungen und Gespräche in den Betrieben ermöglichen, dass Naturschützerinnen und Naturschützer Verständnis für Betriebsabläufe entwickeln und dass umgekehrt Landwirtinnen und Landwirte individuell über die Naturausstattung und Verbesserungspotenziale der von ihnen bewirtschafteten Flächen informiert werden. Solche Begegnungen können dazu beitragen, dass sich unterschiedliche Akteure aus Naturschutz und Landwirtschaft auf konkrete Nutzungsauflagen bzw. Schutzziele einigen können, auch wenn sie unterschiedliche Motivationen dazu haben, warum bestimmte Maßnahmen durchgeführt bzw. Arten geschützt werden sollen.

8. Eine kritische Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses im Rahmen der Ausbildung kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Landwirtinnen und Landwirte fähig und bereit sind, mehr Naturschutz in ihrem Betrieb umzusetzen.

Die Umsetzung von dem Naturschutz förderlichen Maßnahmen kann sich nicht allein auf das Ordnungsrecht verlassen, sondern sie muss auch auf die Bereitschaft von Landwirtinnen und Landwirten setzen, Verantwortung zu übernehmen und freiwillig auch Maßnahmen umzusetzen, zu denen sie rechtlich nicht verpflichtet sind, für die sie allerdings entsprechend honoriert werden müssen.

Für das tatsächlich realisierte Niveau von Naturschutz in der Agrarlandschaft sind daher nicht nur Wissen über Umwelt- und Naturschutz und mögliche wirksame Maßnahmen maßgeblich, sondern auch die agrarethisch fundierte Bereitschaft und die Befähigung von Landwirtinnen und Landwirten, Naturschutz (bzw. die Produktion von Gemeinwohlleistungen) in ihr Betriebskonzept zu integrieren. Zur Entwicklung einer solchen Befähigung und auch Bereitschaft können die kritische Diskussion, Reflexion und Weiterentwicklung des beruflichen Selbstverständnisses und des Berufsethos im Rahmen der landwirtschaftlichen Aus- und Weiterbildung entscheidend beitragen (ähnlich z. B. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina e. V. et al. 2020; ZKL 2021). Eine integrierte Umwelt- und Agrarethik sollte solche Reflektionen und Diskussionen konstruktiv fördern und begleiten (vgl. etwa Núñez et al. 2013; Dürnberger 2020).

IV. Wichtige Akteursgruppen und Ansätze für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft

9. Der ökologische Landbau leistet einen maßgeblichen Beitrag zum Naturschutz in der Landwirtschaft. Er bietet zudem hervorragende Voraussetzungen für darauf aufbauende weitere produktionsintegrierte Naturschutzmaßnahmen.

Aufgrund vielfältiger Fruchtfolgen, des Verzichts auf chemisch-synthetische Pestizide sowie mineralische Stickstoffdünger und einer geringeren Dichte in den Kulturpflanzenbeständen weisen ökologisch bewirtschaftete Flächen im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft zumeist eine höhere Artenvielfalt auf (Stein-Bachinger et al. 2019). Über die eigentlichen Kriterien des Ökolandbaus hinausgehende zusätzliche produktionsintegrierte Maßnahmen sowie die Erhaltung bzw. das Anlegen von Strukturelementen (z. B. Hecken, Gewässer, ungenutzte Offenflächen) auf für diese geeigneten Flächen können die Leistungen des Ökolandbaus für den Naturschutz in der Agrarlandschaft weiter steigern (vgl. Gottwald, Stein-Bachinger 2016).

10. Eine Vielzahl unterschiedlichster Akteure besitzt Land und bestimmt daher mit, wie es (landwirtschaftlich) genutzt wird. Landbesitzerinnen und Landbesitzer können und sollen Verantwortung dafür übernehmen, dass die Bewirtschaftung ihres Landes Gemeinwohlinteressen dient.

Möglichkeiten, die Bewirtschaftung ihres Landes naturschutzverträglicher zu gestalten, haben Grundeigentümerinnen und -eigentümer vor allem über Pachtauflagen. Im Rahmen des Projekts „Fairpachten“ (https://www.fairpachten.org/) bietet bspw. der Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) – auf der Grundlage eines durch das Bundesumweltministerium (BMUV) geförderten und von Seiten des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) fachlich begleiteten Projekts – Beratungs- und Informationsangebote für Grundeigentümerinnen und -eigentümer, die ihre Pachtauflagen naturschutzverträglicher gestalten wollen. Gegenstand der Beratung ist bspw. die Vereinbarung von Naturschutzmaßnahmen im Rahmen von Pachtverträgen, etwa der Anlage dauerhafter Randstreifen, einer mehrgliedrigen Fruchtfolge oder des Stehenlassens von Altgrasstreifen.

Mit der Rolle eines institutionellen bzw. öffentlichen Grundeigentümers (wie z. B. Kommunen, Universitäten oder Kirchengemeinden) geht der Anspruch einher, eine Vorbildfunktion einzunehmen bei der Umsetzung gesellschaftlich vereinbarter Ziele und Maßnahmen (Meisch et al. 2021). Dazu gehört auch Naturschutz in der Landwirtschaft. Aber auch bei nicht zum Agrarsektor gehörenden privaten Eigentümerinnen und Eigentümern landwirtschaftlicher Flächen ist ein steigendes Interesse an mehr gemeinwohlorientierter Bewirtschaftung von Land zu erkennen. Diese Akteure können neue Ansätze für die Ausbalancierung von Ökonomie und Ökologie aufzeigen. Auch diejenigen Landbesitzerinnen und Landbesitzer, die sich bislang nicht oder wenig für Naturschutz interessieren, sollten hier angesprochen werden.

11. Ein Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher ist bereit, einen Aufpreis für naturschutzverträglich produzierte Lebensmittel zu bezahlen. Ein klar definiertes Biodiversitätslabel würde es ermöglichen, diese Präferenzen in tatsächliche Nachfrage zu übersetzen.

Durch Änderungen des politisch-ökonomischen Rahmens kann das Niveau der gesetzlich verpflichtend zu erhaltenden Biodiversität erhöht werden (vgl. These 2). Allerdings wird es auch dann noch Bürgerinnen und Bürger geben, die sich einen darüber hinausgehenden Schutz biologischer Vielfalt wünschen und die über eine entsprechende Zahlungsbereitschaft verfügen. Ihnen würde ein klar definiertes Biodiversitätslabel ermöglichen, diesen Wunsch in tatsächliche Nachfrage zu übersetzen. Dies setzt voraus, dass die über das Label erzielten Mehrpreise zu einem relevanten Anteil bei den Erzeugerinnen und Erzeugern ankommen. So bietet etwa das Projekt „Landwirtschaft für Artenvielfalt“ mit dem gleichnamigen Logo einen Leistungskatalog an, in dem teilnehmende Bio-Betriebe aus über 100 Naturschutzmaßnahmen auswählen können, die mittels eines Punktesystems bewertet werden. Erreichen die Betriebe eine bestimmte Punktzahl, erhalten sie ein Projektzertifikat und einen Aufpreis auf ihre Ware durch den Handelspartner EDEKA-Verbund (vgl. https://www.landwirtschaft-artenvielfalt.de). Ein solches Modell kann Betriebe motivieren, Maßnahmen zu erproben, die zur Erhaltung bzw. gezielten Förderung der Biodiversität beitragen. Darüber hinaus könnte eine entsprechende Nachfrage nach besonders biodiversitätsfördernd produzierten Lebensmitteln auch als (politisches) Signal wirken. Zugleich könnten entsprechende Betriebe als Beispiele guter Praxis für andere Betriebe dienen (vgl. Gundlach et al. 2019).

12. Die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse bedingen einander. Zusammen ermöglichen sie Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, die auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe praktikabel und auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig sind.

Die Agrarwende ist lange überfällig. Das konstatiert eindrücklich auch die ZKL (ZKL 2021). Eine Agrarwende könnte dazu beitragen, dass Landwirtinnen und Landwirte für die Erzeugung von Gemeinwohlleistungen angemessen honoriert und gesellschaftlich wertgeschätzt werden. Sie wird jedoch von finanzkräftigen, politisch einflussreichen Akteursgruppen blockiert. Naturschutzverbände können – und müssen – wichtige Koalitionspartner für landwirtschaftliche Betriebe sein, denen aus eigenem Interesse an einer Agrarwende gelegen ist. Damit solche Koalitionen möglich und fruchtbar werden, bedarf es des wechselseitigen Verständnisses von Zielen, Werten und Kompetenzen. Gemeinsame Arbeit in praktischen Projekten kann positiv zu einer solchen Anerkennung beitragen und so einer Agrarwende den Boden bereiten. Insofern die Agrarwende eine praktische Zusammenarbeit ermöglichen und fördern würde, könnte sie ihrerseits zur Stärkung gegenseitiger Anerkennung beitragen. In diesem Sinne sind die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse komplementär – sie bedingen einander.

Mögliche Widersprüche lassen sich nicht allein theoretisch, sondern v. a. in der Praxis aufheben; allerdings lassen sie sich durch konzeptionelle Analysen entflechten und besser verstehen. Zur gesellschaftlichen Bearbeitung kontroverser Konstellationen bedarf es einer neuen agrarpolitischen Konstellation, die unterschiedliche Ethosformen, ökonomische Interessen und Anreize (wie Subventionen), Naturschutzziele und nicht zuletzt Anerkennungsverhältnisse (Honneth 2010) zusammenfügt, neue Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft ermöglicht und auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe praktikabel sowie auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig ist. Zur Schaffung einer solchen Konstellation wollen die vorliegenden Thesen beitragen.

Literatur

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Fußnoten

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Dr. Lieske Voget-Kleschin

Korrespondierende Autorin

Eberhard Karls Universität Tübingen

Lehrstuhl für Ethik, Theorie und

Geschichte der Biowissenschaften

Wilhelmstraße 56

72074 Tübingen

und

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Philosophisches Seminar

Leibnizstraße 6

24118 Kiel

E-Mail: voget-kleschin@philsem.uni-kiel.de Die Autorin studierte Landschaftsökologie und Naturschutz in Greifswald und promovierte dort 2012 zu normativen Fragen nachhaltiger Lebensstile am Beispiel des Praxisfelds Ernährung. Nach einer Tätigkeit als Referentin beim Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) arbeitete sie an den Universitäten Greifswald, Kiel, Duisburg-Essen und Tübingen zu Gerechtigkeit, zum Fähigkeitenansatz sowie zu umwelt-, agrar- und klimaethischen Fragen. Seit 2015 ist sie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz am Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL).

NuL_02_2023_Voget-Kleschin_Vita.jpg

Dr. Simon P. Meisch

Eberhard Karls Universität Tübingen

Internationales Zentrum

für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wilhelmstraße 19

72074 Tübingen

E-Mail: simon.meisch@uni-tuebingen.de

Prof. Dr. Konrad Ott

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Philosophisches Seminar

Leibnizstraße 6

24118 Kiel

E-Mail: ott@philsem.uni-kiel.de

Gisela Stolpe

Bundesamt für Naturschutz

Internationale Naturschutzakademie (INA)

Insel Vilm

18581 Putbus

E-Mail: gisela.stolpe@bfn.de

Prof. Dr. Thomas Potthast

Eberhard Karls Universität Tübingen

Lehrstuhl für Ethik, Theorie

und Geschichte der Biowissenschaften

Internationales Zentrum

für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Wilhelmstraße 56

72074 Tübingen

E-Mail: potthast@uni-tuebingen.de

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