Lieske Voget-Kleschin, Simon P.
Meisch, Konrad Ott, Gisela
Stolpe und Thomas Potthast
Zusammenfassung
Unter den vorherrschenden Landwirtschaftspraktiken kommt es auf landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen zu einem dramatischen
Rückgang der biologischen Vielfalt. Viele Akteure aus Landwirtschaft und Naturschutz sind mit der Situation unzufrieden: Landwirtinnen
und Landwirte sehen durch Forderungen nach mehr Umwelt-, Klima- und Naturschutz ihre betriebswirtschaftlichen Grundlagen bedroht und
ihre bisherigen Leistungen nicht wertgeschätzt; Naturschützerinnen und -schützer kritisieren in deutlicher Form negative Effekte der
industrialisierten Landwirtschaft. So entstehen wechselseitige Entfremdungen, Frustrationen und „Polarisierungen“. In jüngerer Zeit ist
aber auch eine wechselseitige Annäherung beobachtbar, insbesondere im Zuge der Arbeit der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL). Die
vorliegenden Vilmer Thesen argumentieren, dass das Zusammenspiel von Agrarwende und Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis, den
Werten und Zielen von Landwirtschaft und Naturschutz Möglichkeiten für produktive, zukunftsweisende Koalitionen bietet. Im ersten Teil
verortet These 1 die Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft bei der gesamten Gesellschaft. Im zweiten Teil arbeiten
die Thesen 2 – 5 die zentrale Rolle angemessener politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen heraus. Im dritten Teil zeigen die
Thesen 6 – 8 auf, wie eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Naturschutz und Landwirtschaft aussehen kann. Im vierten Teil
werden in den Thesen 9 – 12 wichtige Akteursgruppen und Ansätze im Ringen um mehr Naturschutz in der Landwirtschaft benannt.
Landwirtschaft – Agrarwende – Gemeinwohl – berufliches Selbstverständnis – Anerkennungsverhältnisse – ökologischer Landbau – biologische VielfaltAbstract
Under prevailing agricultural practices, biodiversity on agricultural land has declined dramatically. This frustrates many
stakeholders in both agriculture and nature conservation: Farmers perceive demands for more environmental, climate and nature
protection as threatening their businesses and do not see their previous achievements appreciated; nature conservationists complain
about negative effects of industrialised agriculture. This results in mutual alienation and polarisation. More recently, however,
stakeholders have been finding some common ground, especially in the course of the work of the German Commission on the Future of
Agriculture (ZKL). The present Vilm Theses argue that the interplay of a paradigm shift in agricultural policies and a debate regarding
the self-perception, values and goals of agriculture and nature conservation offer opportunities for productive, forward-looking
coalitions. In the first part, Thesis 1 assigns responsibility for more conservation in agriculture to society as a whole. In the
second part, Theses 2 – 5 point to the focal importance of suitable political and economic frameworks. In the third part, Theses 6 – 8
discuss how a critical and constructive debate between nature conservation and agriculture could look like. In the fourth part,
Theses 9 – 12 identify groups of actors and approaches that play a vital role in achieving more nature conservation in
agriculture.
Agriculture – Paradigm shift in agricultural policies – Common good – Agriculture's professional self-image – Recognition – Organic agriculture – BiodiversityInhalt
Einleitung
Ohne Landwirtschaft gibt es keine Lebensmittelerzeugung und -versorgung. Auch Naturschutz in der Kulturlandschaft ist auf
Landwirtschaft angewiesen: Ohne sie käme ein Großteil der Offenland besiedelnden Zielarten des Naturschutzes in Deutschland nicht vor.
Zugleich ist der Beitrag des Sektors Landwirtschaft zu vielen globalen Umweltproblemen offensichtlich: Unter den vorherrschenden Praktiken
kommt es auf landwirtschaftlich bewirtschafteten Flächen zu einem dramatischen Rückgang der biologischen Vielfalt. Damit einhergehend
führt die intensive landwirtschaftliche Flächennutzung zu Bodenerosion und -verdichtung, Nitratbelastung des Grundwassers, Eutrophierung
von Oberflächengewässern und hohen Treibhausgasemissionen. Nicht nur aus Naturschutz-, sondern auch aus Umwelt- und Klimaschutzperspektive
ist eine „Agrarwende“ im Sinne einer grundlegenden Transformation des Sektors dringend notwendig. Sie wird mit guten Gründen seit
Jahrzehnten von Fachleuten und -gremien gefordert. Letztlich liegt der Schutz von Natur, Umwelt und Klima insofern auch im Eigeninteresse
von Landwirtinnen und Landwirten, als die Qualität der Gemeingüter Boden, Grundwasser, Klima und Biodiversität wichtige Basis für die
Landwirtschaft selbst ist und die Erzeugung gesellschaftlich gewünschter Gemeinwohlleistungen für Landwirtinnen und Landwirte mit
gesellschaftlicher Anerkennung verbunden ist.
In jüngerer Zeit gibt es neue Ansätze des wechselseitigen Entgegenkommens von Naturschutz und Landwirtschaft auf verschiedenen
Ebenen, von viel versprechenden lokalen Initiativen bis hin zur Arbeit der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL; ZKL 2021). Die vorliegenden Vilmer Thesen argumentieren, dass die Zusammenarbeit von Landwirtschaft und Naturschutz produktive, zukunftsweisende Koalitionen für die besagte
Agrarwende ermöglicht. Im ersten Teil verortet These 1 die Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft bei der gesamten Gesellschaft. Im zweiten Teil arbeiten die Thesen 2, 3, 4 und 5 die zentrale Rolle angemessener politisch-ökonomischer Rahmenbedingungen heraus: Um den
erforderlichen Mindestanteil von 20 bis 30 % der Agrarfläche in biodiversitätsfreundlicher Bewirtschaftung (Oppermann et al. 2020) zu erhalten, reicht es nicht aus, allein auf freiwillige Maßnahmen zu
setzen, sondern es bedarf auch verbindlicher Vorgaben in Form entsprechender Regelwerke. Die Thesen stellen heraus, dass eine Honorierung
der Erzeugung von Gemeinwohlleistungen sowie die Eröffnung von Gestaltungsspielräumen auf Betriebsebene komplementär zu verbindlichen
Vorgaben einen wichtigen Beitrag leisten, dass die Realisierung von mehr Naturschutz auf dem Betrieb für Landwirtinnen und Landwirte
praktikabel ist; sie weisen darauf hin, welche Akteure sich gegen eine entsprechende Änderung von Rahmenbedingungen wehren und wie der
Naturschutz konstruktiv auf eine entsprechende Änderung von Rahmenbedingungen hinwirken kann. Im dritten Teil zeigen die Thesen 6, 7 und 8 auf, wie eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von
Naturschutz und Landwirtschaft aussehen kann. Im vierten Teil werden in den Thesen 9, 10, 11 und 12 wichtige Akteursgruppen und
Ansätze im Ringen um mehr Naturschutz in der Landwirtschaft benannt.
Die Thesen sind von der Überzeugung geprägt, dass die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer
Anerkennungsverhältnisse in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen – sich also gegenseitig bedingen und fördern (können). Die
Verfasserinnen und Verfasser der Thesen möchten einen Beitrag dazu leisten, neue Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft zu
motivieren, die auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe praktikabel und auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig
sind.
I. Zur Verantwortung für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft
1. Landwirtinnen und Landwirte können stärker als die meisten anderen Bevölkerungsgruppen Einfluss darauf nehmen, ob die Ziele des
Naturschutzes erreicht werden. Die Verantwortung für das Gemeinwohlinteresse Naturschutz liegt jedoch bei der gesamten
Gesellschaft.
Naturschutz in der Agrarlandschaft ist ein gut begründetes legitimes Interesse heutiger und zukünftiger Generationen. Darüber hinaus
werden Naturschutz und die Erhaltung der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft von der Bevölkerung gewünscht (BMU, BfN 2016) und sind wichtiger Bestandteil politischer Strategien (vgl. die Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt, BMU 2007; siehe dazu Meisch et al. 2021) und entsprechender Rechtsnormen (§ 1 des Bundesnaturschutzgesetzes –
BNatSchG; UN-Konvention über die biologische Vielfalt – CBD).
Etwa die Hälfte der Fläche Deutschlands wird landwirtschaftlich genutzt. Die Art und Weise, in der auf diesen Flächen Landwirtschaft
betrieben wird, ist entscheidend dafür, inwieweit Ziele des Naturschutzes realisiert werden können. Landwirtinnen und Landwirte haben
daher – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – sehr große Einflussmöglichkeiten auf das Gemeinwohlinteresse Naturschutz. Dies bedeutet
weder, dass Landwirtinnen und Landwirte allein oder überwiegend für den Schutz der Natur verantwortlich sind, noch, dass sie die durch
Naturschutz entstehenden Kosten allein tragen müssen. Für das Gemeinwohlinteresse Naturschutz ist die Gesellschaft als Ganze
verantwortlich. Sie kann dieser Verantwortung nachkommen, indem sie Rahmenbedingungen schafft, die es Landwirtinnen und Landwirten
ermöglichen, ihre Einflussmöglichkeiten für mehr Naturschutz zu nutzen (vgl. These 2).
II. Zur Notwendigkeit einer Agrarwende
2. Eine Agrarwende muss Rahmenbedingungen schaffen, die es landwirtschaftlichen Betrieben besser ermöglichen, Naturschutz und die
Produktion weiterer Gemeinwohlleistungen in ihr Betriebskonzept zu integrieren.
Landwirtinnen und Landwirte bewegen sich in schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen, die sie nur sehr bedingt selbst gewählt
haben. Eine Agrarwende könnte Bedingungen schaffen, die es ermöglichen, dass Landwirtinnen und Landwirte für die Erbringung von
Gemeinwohlleistungen (z. B. über eine Gemeinwohlprämie, vgl. DVL 2020) angemessen
honoriert werden und als Erzeugerinnen und Erzeuger von Gemeinwohlleistungen eine höhere gesellschaftliche Wertschätzung erfahren als
bisher. Nur wenn Betriebe mit Gemeinwohlleistungen Geld verdienen (können), können sie als „Manager unserer Umwelt auf […] rund 50 % der
Fläche der Bundesrepublik“ agieren (DVL 2021: 3).
Das Leitbild des „Zukunftsbauern“ (DBV o. J.; DVL 2021; Lönneker et al. 2022) betont die
entscheidende Rolle, die Landwirtinnen und Landwirte in Bezug auf flächenbezogene Aufgaben der Zukunft, wie die Erhaltung der
Biodiversität und den Klimaschutz, spielen (DVL 2021). Es zielt darauf ab, die
gesellschaftliche Wertschätzung der Landwirtschaft in der Öffentlichkeit zu steigern. Eine solche höhere gesellschaftliche Wertschätzung
ist wünschenswert. Die Erzeugung von Gemeinwohlleistungen bietet gute Gründe, Landwirtschaft gesellschaftlich höher wertzuschätzen (für
eine Position, die unter „Zukunftsbauern“ das Leitbild der Versorgungssicherheit in den Vordergrund stellt, vgl. dagegen https://www.bauernverband.de/themendossiers/zukunftsbauern, für einen Fokus auf „Gestaltung öffentlichen Vertrauens“ – so der
Untertitel des Buches – vgl. Lönneker et al. 2022).
3. Größere Spielräume auf Betriebsebene, die Reduktion von Sanktionsrisiken und Beratungsangebote können entscheidend
dazu beitragen, dass landwirtschaftliche Betriebe Naturschutz besser in ihr Betriebskonzept integrieren können.
Welche Maßnahmen auf landwirtschaftlichen Flächen zur Realisierung von mehr Naturschutz in der Agrarlandschaft beitragen, ist
wissenschaftlich gut ausgearbeitet; es liegen konkrete, anwendbare Maßnahmenkataloge vor (z. B. Gottwald, Stein-Bachinger 2016; DVL 2020; Lüth et al. 2022). Ein darauf abgestimmtes Förderinstrumentarium existiert jedoch allenfalls
in Ansätzen. Damit landwirtschaftliche Betriebe Naturschutz bzw. die Produktion von Gemeinwohlleistungen einfacher und besser in ihr
Betriebskonzept integrieren können, sind Veränderungen der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen dringend erforderlich (Hampicke 2013; DVL 2020; ZKL 2021). Dazu gehören insbesondere:
4. Politisch einflussreiche Akteursgruppen verhindern die Transformation zu einer „anderen“, dem Natur-, Umwelt- und Klimaschutz
förderlichen Landwirtschaft.
Gerade bezüglich der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union (EU) sind überzeugende Vorschläge für eine
Agrarwende ausgearbeitet worden (vgl. Birkenstock, Röder 2018; DVL 2020). Wie auch das Ergebnis der letzten GAP-Reform zeigt, wird die Umsetzung dieser
Vorschläge jedoch blockiert. Es sind primär nicht die einzelnen Landwirtinnen und Landwirte, die die dringend notwendigen Änderungen
verhindern. Hinter den Blockaden stehen vielmehr Teile der Finanzwirtschaft, Agrochemie, Agrar- und Ernährungswirtschaft, die vom
bestehenden System der Flächenprämie und der (Welt)marktordnung direkt oder indirekt profitieren. Verflochten und vertreten werden diese
Interessen nicht zuletzt durch den Deutschen Bauernverband (DBV) (Nischwitz, Chojnowski
2019). Gleichzeitig fühlen sich Landwirtinnen und Landwirte gemäß einer Forsa-Umfrage durch den Deutschen Bauernverband zu
56 % als „eher schlecht“ bis „sehr schlecht“ vertreten (Forsa Politik- und Sozialforschung GmbH
2019).
Das Problem besteht also nicht nur und häufig auch nicht primär in Konflikten zwischen konkreten Personen aus Landwirtschaft und
Naturschutz, sondern darin, dass politisch einflussreiche Akteursgruppen die Transformation zu einer „anderen“, dem Natur-, Umwelt- und
Klimaschutz förderlichen Landwirtschaft verhindern (Hampicke 2013).
5. Aufgrund ihrer Kompetenz im Bereich der kritischen Strukturanalyse von Agrarpolitik können und sollten Naturschutzverbände
wichtige Koalitionspartner für Landwirtinnen und Landwirte sein.
Seit Langem haben sich Naturschutzverbände, aber auch überparteiliche Zusammenschlüsse wie etwa das Agrarbündnis e. V. (https://agrarbuendnis.de/ mit dem jährlichen „Kritischen Agrarbericht“) mit
Strukturfragen der EU-Agrarpolitik sowie mit lokalen Agrarfragen befasst. Mit dieser Expertise können und sollen diese Verbände daher
wichtige Koalitionspartner für landwirtschaftliche Betriebe sein, denen an einer Agrarwende gelegen ist. Dafür ist es nicht notwendig,
dass sich beide auf vollständig übereinstimmende Detailziele verständigen – dies könnte ggf. sogar zu einem schlechten Kompromiss im Sinne
eines kleinsten gemeinsamen Nenners führen. Stattdessen können und sollten Akteure aus Landwirtschaft und Naturschutz auf Basis der
Strukturanalysen von Agrarpolitik (vgl. These 4) sowie angesichts ihrer (teilweise)
unterschiedlichen Interessen viel versprechende Verhandlungsspielräume sondieren. Positiv ist hier aktuell die Arbeit der ZKL (ZKL 2021) hervorzuheben.
III. Gegenseitige Anerkennung, gemeinsame Praxis und kritisches Selbstverständnis
6. Naturschutzakteure, die eine konstruktive Rolle in der Agrarwende spielen wollen, sollten die Ziele und Werte von Landwirtinnen
und Landwirten verstehen und anerkennen, dass politisch-ökonomische Rahmenbedingungen deren Handlungsmöglichkeiten wesentlich
beeinflussen.
Neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln sehen Landwirtinnen und Landwirte nach eigener Aussage das Bewahren und Schützen von Natur
als Kern ihrer Tätigkeit an (DBV 2011). Geschützt werden soll Natur hier in ihrer Rolle
als Produktionsgrundlage, d. h. als Teil des Betriebs, den es – zumindest gemäß einem bäuerlichen Selbstverständnis – in guter oder
besserer Verfassung an die nächste Generation weiterzugeben gilt (DBV 2011). Somit
verstehen Landwirtinnen und Landwirte Umwelt- und Naturschutz durchaus als eines ihrer Anliegen.
Allerdings führen die meisten Naturschutzmaßnahmen für landwirtschaftliche Betriebe zu geringeren Flächenerträgen. Wer einen
landwirtschaftlichen Betrieb führen will, kann Naturschutz in der Agrarlandschaft nur so weit realisieren, wie dies mit der
dauerhaften Erhaltung eines Einkommens und damit des Betriebs vereinbar ist. Inwiefern dies möglich ist, hängt entscheidend von
politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Dies müssen Naturschützerinnen und Naturschützer anerkennen. Zugleich sollten sich alle
Akteure auch bewusst machen, dass Naturschutz nicht allein auf unbewirtschafteten Flächen in Schutzgebieten stattfinden kann, weil viele
Zielarten gänzlich (z. B. Ackerwildkräuter) oder zum Teil (z. B. Feldvögel) auf bewirtschaftete Flächen als Lebensraum angewiesen
sind.
7. Jenseits politischer Debatten ergibt sich für Naturschützerinnen, Naturschützer, Landwirtinnen und Landwirte gerade durch die
Begegnung in der Praxis die große Chance, ein geteiltes Problemverständnis und gemeinsame Handlungsoptionen zu entwickeln.
Viele konkrete Projekte (vgl. z. B. https://gai-ev.de/veranstaltungen/) zeigen: Begegnungen und Gespräche in den Betrieben ermöglichen, dass Naturschützerinnen und
Naturschützer Verständnis für Betriebsabläufe entwickeln und dass umgekehrt Landwirtinnen und Landwirte individuell über die
Naturausstattung und Verbesserungspotenziale der von ihnen bewirtschafteten Flächen informiert werden. Solche Begegnungen können dazu
beitragen, dass sich unterschiedliche Akteure aus Naturschutz und Landwirtschaft auf konkrete Nutzungsauflagen bzw. Schutzziele einigen
können, auch wenn sie unterschiedliche Motivationen dazu haben, warum bestimmte Maßnahmen durchgeführt bzw. Arten geschützt werden
sollen.
8. Eine kritische Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses im Rahmen der Ausbildung kann einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, dass Landwirtinnen und Landwirte fähig und bereit sind, mehr Naturschutz in ihrem Betrieb umzusetzen.
Die Umsetzung von dem Naturschutz förderlichen Maßnahmen kann sich nicht allein auf das Ordnungsrecht verlassen, sondern sie muss
auch auf die Bereitschaft von Landwirtinnen und Landwirten setzen, Verantwortung zu übernehmen und freiwillig auch Maßnahmen umzusetzen,
zu denen sie rechtlich nicht verpflichtet sind, für die sie allerdings entsprechend honoriert werden müssen.
Für das tatsächlich realisierte Niveau von Naturschutz in der Agrarlandschaft sind daher nicht nur Wissen über Umwelt- und
Naturschutz und mögliche wirksame Maßnahmen maßgeblich, sondern auch die agrarethisch fundierte Bereitschaft und die Befähigung von
Landwirtinnen und Landwirten, Naturschutz (bzw. die Produktion von Gemeinwohlleistungen) in ihr Betriebskonzept zu integrieren. Zur
Entwicklung einer solchen Befähigung und auch Bereitschaft können die kritische Diskussion, Reflexion und Weiterentwicklung des
beruflichen Selbstverständnisses und des Berufsethos im Rahmen der landwirtschaftlichen Aus- und Weiterbildung entscheidend beitragen
(ähnlich z. B. Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina e. V. et al. 2020;
ZKL 2021). Eine integrierte Umwelt- und Agrarethik sollte solche Reflektionen und
Diskussionen konstruktiv fördern und begleiten (vgl. etwa Núñez et al. 2013; Dürnberger 2020).
IV. Wichtige Akteursgruppen und Ansätze für mehr Naturschutz in der Landwirtschaft
9. Der ökologische Landbau leistet einen maßgeblichen Beitrag zum Naturschutz in der Landwirtschaft. Er bietet zudem hervorragende
Voraussetzungen für darauf aufbauende weitere produktionsintegrierte Naturschutzmaßnahmen.
Aufgrund vielfältiger Fruchtfolgen, des Verzichts auf chemisch-synthetische Pestizide sowie mineralische Stickstoffdünger und einer
geringeren Dichte in den Kulturpflanzenbeständen weisen ökologisch bewirtschaftete Flächen im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft
zumeist eine höhere Artenvielfalt auf (Stein-Bachinger et al. 2019). Über die
eigentlichen Kriterien des Ökolandbaus hinausgehende zusätzliche produktionsintegrierte Maßnahmen sowie die Erhaltung bzw. das Anlegen von
Strukturelementen (z. B. Hecken, Gewässer, ungenutzte Offenflächen) auf für diese geeigneten Flächen können die Leistungen des Ökolandbaus
für den Naturschutz in der Agrarlandschaft weiter steigern (vgl. Gottwald, Stein-Bachinger
2016).
10. Eine Vielzahl unterschiedlichster Akteure besitzt Land und bestimmt daher mit, wie es (landwirtschaftlich) genutzt wird.
Landbesitzerinnen und Landbesitzer können und sollen Verantwortung dafür übernehmen, dass die Bewirtschaftung ihres Landes
Gemeinwohlinteressen dient.
Möglichkeiten, die Bewirtschaftung ihres Landes naturschutzverträglicher zu gestalten, haben Grundeigentümerinnen und -eigentümer vor
allem über Pachtauflagen. Im Rahmen des Projekts „Fairpachten“ (https://www.fairpachten.org/) bietet bspw. der Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) – auf der Grundlage eines durch das
Bundesumweltministerium (BMUV) geförderten und von Seiten des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) fachlich begleiteten Projekts – Beratungs-
und Informationsangebote für Grundeigentümerinnen und -eigentümer, die ihre Pachtauflagen naturschutzverträglicher gestalten wollen.
Gegenstand der Beratung ist bspw. die Vereinbarung von Naturschutzmaßnahmen im Rahmen von Pachtverträgen, etwa der Anlage dauerhafter
Randstreifen, einer mehrgliedrigen Fruchtfolge oder des Stehenlassens von Altgrasstreifen.
Mit der Rolle eines institutionellen bzw. öffentlichen Grundeigentümers (wie z. B. Kommunen, Universitäten oder Kirchengemeinden)
geht der Anspruch einher, eine Vorbildfunktion einzunehmen bei der Umsetzung gesellschaftlich vereinbarter Ziele und Maßnahmen (Meisch et al. 2021). Dazu gehört auch Naturschutz in der Landwirtschaft. Aber auch bei nicht
zum Agrarsektor gehörenden privaten Eigentümerinnen und Eigentümern landwirtschaftlicher Flächen ist ein steigendes Interesse
an mehr gemeinwohlorientierter Bewirtschaftung von Land zu erkennen. Diese Akteure können neue Ansätze für die Ausbalancierung
von Ökonomie und Ökologie aufzeigen. Auch diejenigen Landbesitzerinnen und Landbesitzer, die sich bislang nicht oder wenig für Naturschutz
interessieren, sollten hier angesprochen werden.
11. Ein Teil der Verbraucherinnen und Verbraucher ist bereit, einen Aufpreis für naturschutzverträglich produzierte Lebensmittel zu
bezahlen. Ein klar definiertes Biodiversitätslabel würde es ermöglichen, diese Präferenzen in tatsächliche Nachfrage zu
übersetzen.
Durch Änderungen des politisch-ökonomischen Rahmens kann das Niveau der gesetzlich verpflichtend zu erhaltenden Biodiversität erhöht
werden (vgl. These 2). Allerdings wird es auch dann noch Bürgerinnen und Bürger geben,
die sich einen darüber hinausgehenden Schutz biologischer Vielfalt wünschen und die über eine entsprechende Zahlungsbereitschaft verfügen.
Ihnen würde ein klar definiertes Biodiversitätslabel ermöglichen, diesen Wunsch in tatsächliche Nachfrage zu übersetzen. Dies setzt
voraus, dass die über das Label erzielten Mehrpreise zu einem relevanten Anteil bei den Erzeugerinnen und Erzeugern ankommen. So bietet
etwa das Projekt „Landwirtschaft für Artenvielfalt“ mit dem gleichnamigen Logo einen Leistungskatalog an, in dem teilnehmende Bio-Betriebe
aus über 100 Naturschutzmaßnahmen auswählen können, die mittels eines Punktesystems bewertet werden. Erreichen die Betriebe eine bestimmte
Punktzahl, erhalten sie ein Projektzertifikat und einen Aufpreis auf ihre Ware durch den Handelspartner EDEKA-Verbund (vgl. https://www.landwirtschaft-artenvielfalt.de). Ein solches Modell
kann Betriebe motivieren, Maßnahmen zu erproben, die zur Erhaltung bzw. gezielten Förderung der Biodiversität beitragen. Darüber hinaus
könnte eine entsprechende Nachfrage nach besonders biodiversitätsfördernd produzierten Lebensmitteln auch als (politisches) Signal wirken.
Zugleich könnten entsprechende Betriebe als Beispiele guter Praxis für andere Betriebe dienen (vgl. Gundlach et al. 2019).
12. Die Agrarwende und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse bedingen einander.
Zusammen ermöglichen sie Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft, die auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe
praktikabel und auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig sind.
Die Agrarwende ist lange überfällig. Das konstatiert eindrücklich auch die ZKL (ZKL
2021). Eine Agrarwende könnte dazu beitragen, dass Landwirtinnen und Landwirte für die Erzeugung von Gemeinwohlleistungen
angemessen honoriert und gesellschaftlich wertgeschätzt werden. Sie wird jedoch von finanzkräftigen, politisch einflussreichen
Akteursgruppen blockiert. Naturschutzverbände können – und müssen – wichtige Koalitionspartner für landwirtschaftliche Betriebe sein,
denen aus eigenem Interesse an einer Agrarwende gelegen ist. Damit solche Koalitionen möglich und fruchtbar werden, bedarf es des
wechselseitigen Verständnisses von Zielen, Werten und Kompetenzen. Gemeinsame Arbeit in praktischen Projekten kann positiv zu einer
solchen Anerkennung beitragen und so einer Agrarwende den Boden bereiten. Insofern die Agrarwende eine praktische Zusammenarbeit
ermöglichen und fördern würde, könnte sie ihrerseits zur Stärkung gegenseitiger Anerkennung beitragen. In diesem Sinne sind die Agrarwende
und die aktive Gestaltung von Naturschutzdebatten als Medium neuer Anerkennungsverhältnisse komplementär – sie bedingen einander.
Mögliche Widersprüche lassen sich nicht allein theoretisch, sondern v. a. in der Praxis aufheben; allerdings lassen sie sich durch
konzeptionelle Analysen entflechten und besser verstehen. Zur gesellschaftlichen Bearbeitung kontroverser Konstellationen bedarf es einer
neuen agrarpolitischen Konstellation, die unterschiedliche Ethosformen, ökonomische Interessen und Anreize (wie Subventionen),
Naturschutzziele und nicht zuletzt Anerkennungsverhältnisse (Honneth 2010)
zusammenfügt, neue Koalitionen zwischen Naturschutz und Landwirtschaft ermöglicht und auf der Ebene landwirtschaftlicher Betriebe
praktikabel sowie auch für die breite Bevölkerung zustimmungswürdig ist. Zur Schaffung einer solchen Konstellation wollen die vorliegenden
Thesen beitragen.
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Fußnoten