Hubert Job und Constantin Meyer
Zusammenfassung
1972, 20 Jahre vor der internationalen Anerkennung des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung in Rio de Janeiro 1992, wurde mit dem Alpenplan (AP) die raumplanerische Grundlage geschaffen, den bayerischen Alpenraum im Sinne des „Sustainable development“-Paradigmas zu
ordnen. Die flächendeckende Zonierung mittels dreier Intensitätsstufen der verkehrlichen Erschließung war eine weitsichtige Innovation. Der Beitrag analysiert erstens die Funktionsweise des AP und zeigt auf, was er in den vergangenen 50 Jahren bewirkt hat. Zweitens wird
gefragt, ob der AP ein zeitgemäßes Instrument ist, um der fortschreitenden Individualisierung landschaftsbezogener Erholungsnutzungen raumplanerisch zu begegnen. Drittens erfolgt ein Plädoyer für einen fachlich durch die kontinuierliche Freiflächeninanspruchnahme und den Klimawandel
begründeten, inhaltlich erweiterten „Alpenplan 2.0“, dessen Perimeter der Abgrenzung der Alpenkonvention entspricht und insofern eigentlich ein Alpen(vorland)plan ist.
Alpenplan – landschaftsbezogene Erholung – GIS-Analyse – Naturschutz – Raumplanung – nachhaltige Regionalentwicklung – ZonierungAbstract
In 1972, 20 years before international acknowledgement of the sustainable development principle at the 1992 Rio de Janeiro Summit, the Alpenplan (AP) created the spatial planning basis for organising the Bavarian Alps on the lines of the sustainable development paradigm.
Area-wide zoning according to three intensity levels of traffic use was a far-sighted innovation. This article first analyses the functioning of the AP and shows what positive effects it has had over the 50 years of its existence. Secondly, the question arises whether the AP
still does justice to the pressures of modernity, and in particular whether it is suited to dealing with increasingly individualised outdoor recreation uses in spatial planning. Thirdly, to take account of ongoing land take of open spaces on the one hand and climate change on the
other, we propose the “Alpenplan 2.0” with a broadened substantive scope as well as an enlarged perimeter corresponding to the boundaries of the Alpine Convention.
Alpenplan – Outdoor recreation – GIS analysis – Nature conservation – Spatial planning – Sustainable regional development – ZoningInhalt
1 Einleitung
Lange vor der Formulierung des theoretischen Leitbilds der Nachhaltigkeit hat sich die bayerische Landesplanung mit dem Alpenplan (AP) zum Ziel gesetzt, die Verkehrserschließung der bayerischen Alpen zu bremsen und landschaftlich sensible alpine Freiflächen von Infrastruktur
freizuhalten. Auslöser dafür war der seit den 1960er-Jahren zu beobachtende, von Umweltschützern und Deutschem Alpenverein (DAV) z. T. massiv kritisierte Erschließungsboom mit Bergbahnen und Skigebieten. Als Reaktion darauf legte Dr. Helmut Karl von der Bayerischen Landesstelle
für Naturschutz 1968 einen großmaßstäbigen Planentwurf – basierend auf eigenen kartographischen Feldarbeiten und Luftbildern – für die bayerischen Alpen vor. Darin differenzierte er drei Zonen insbesondere gemäß dem Grad der bereits vorhandenen Erschließung. Zudem waren die
potenzielle Gefährdung durch Naturgefahren und nicht zuletzt die Landschaftsökologie Kriterien der planerischen Ausweisung. Darauf aufbauend trat 1972 der AP als vorgezogener Teilabschnitt „Erholungslandschaft Alpen“ des Bayerischen Landesentwicklungsprogramms (LEP) in Kraft (Karl 1968; Speer 2008).
Diese Zonierung des bayerischen Alpenraums nach drei Intensitätsstufen der verkehrlichen Nutzung war eine Innovation des Normgebers. Sie zielte mit ihrer Zone C auf den damals noch jungen Naturschutz und die Verringerung alpiner Naturgefahren sowie auf die nicht
anlagengebundene, landschaftsbezogene Erholung ab (Goppel 2003). Immens erweitert wurde dadurch auch die naturschutzfachliche Schutzgebietskulisse (Bender et al. 2017; Hedden-Dunkhorst 2017; Job et al. 2017). Als Teil des LEP entfaltet der AP bis heute die Bindungswirkung der Erfordernisse der Raumordnung gemäß Art. 3 Abs. 1 Bayerisches Landesplanungsgesetz (BayLplG1), wonach Ziele der Raumordnung von allen öffentlichen Stellen bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen zu beachten sind.
Der AP und seine Wirkung wurden mehrfach in der Literatur thematisiert und analysiert (Barker 1982; Hensel 1987; Goppel 2003, 2012, 2018; Job et al. 2013, 2014, 2017, 2020; Mayer et al. 2016). In der vorliegenden Evaluierung zum 50-jährigen Bestehen wird zunächst die Funktionsweise des AP vorgestellt sowie seine Wirkung zusammenfassend bewertet. Danach wird gefragt, ob der AP heute noch ein zeitgemäßes Instrument ist,
um der massiven Individualisierung landschaftsbezogener Erholungsnutzungen, der sukzessiven Zerschneidung alpiner Freiräume mit Wegen und den Folgenutzungen, wie z. B. dem Befahren mit elektrischen Mountainbikes (E-MTB), raumplanerisch zu begegnen (Mayer et al. 2016; Broggi et al. 2017; Haßlacher et al. 2018; BUND 2020). Anschließend erfolgt vor dem Hintergrund des in den Alpen
schnell ablaufenden Klimawandels (Pröbstl-Haider, Pütz 2016) und zusehends knapper werdender Freiräume (Job et al. 2020) ein Plädoyer für einen dringend für notwendig erachteten, inhaltlich
erweiterten „Alpenplan 2.0“, dessen Perimeter der Abgrenzung der Alpenkonvention und damit den dichter besiedelten und derzeit unter starkem Nutzungsdruck stehenden Alpenlandkreisen entspricht (und somit ins Alpenvorland hineinreicht).
2 Funktionsweise und Zielsetzung
Der AP basiert auf der Idee, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit von Verkehrsinfrastrukturerschließungen wegen deren indirekter Effekte auf die Siedlungs- und Tourismusentwicklung eine Schlüsselrolle für die allgemeine Raumentwicklung spielt. Er reguliert die Erschließung
der Bayerischen Alpen mit Verkehrsvorhaben wie etwa Liften und Seilbahnen (soweit sie dem öffentlichen Verkehr dienen), Ski- und Rodelbahnen, öffentlichen und privaten Straßen und Wegen (mit Ausnahme von Wanderwegen) sowie Flugplätzen (Bayerische
Staatsregierung 2020: 46). Ohne leichte Zugänglichkeit (Straßen, Parkplätze, Seilbahnen) tendiert der traditionelle Tourismus in naturnahen Gebieten zu einem sehr niedrigen Intensitätslevel. Freiräume werden somit vor Infrastrukturentwicklung verschont (Goppel 2012, 2018; Job et al. 2013). Dabei schafft der AP eine flächendeckende wie grundsätzliche Lösung, die nicht von Einzelfallentscheidungen abhängig ist und die
verschiedenen Ansprüche von Tourismus, Wirtschaft sowie Natur- und Artenschutz gleichermaßen berücksichtigt. Seine Zonierung umgreift:
● die Zone A oder „Erschließungszone“ (35 % der im AP abgegrenzten bayerischen Alpen), die alle Siedlungen und die meisten Gebiete mit bereits existierenden, intensiven Landnutzungen der Talbereiche umfasst;
● die Zone B oder „Pufferzone“ (22 %), wo Vorhaben erst nach eingehender Prüfung zugelassen werden, sofern sie nicht mit prioritären raumplanerischen Anforderungen (insbesondere des Naturschutzes und der Landschaftspflege) konfligieren;
● die Zone C oder „Ruhezone“ (43 %), die als generell geschützte Zone konzipiert ist: Alle Verkehrsvorhaben – außer notwendigen landeskulturellen Maßnahmen für die traditionelle Land- und Forstwirtschaft – sind explizit unzulässig und damit ist
implizit nur nicht-intensive, der Landschaft angepasste, landschaftsorientierte Erholungsnutzung erlaubt.
Das System der fachplanerisch festgelegten Schutzgebiete überschneidet sich mit dem AP. Obwohl Letzterer kein naturschutzrechtliches Instrument ist, hat er auch erheblichen Einfluss auf die Schutzgebietskulisse. Tatsächlich umfasst die Zone C nämlich etwa 10 % mehr
Fläche als alle Gebiete der strengen Schutzkategorien zusammen (Gesamtfläche der Schutzgebietskategorien Nationalpark, Naturschutzgebiet, FFH-Gebiet und Vogelschutzgebiet in den Bayerischen Alpen: 1.694,5 km²). Darüber hinaus bietet sie einen zusätzlichen Flächenanteil von knapp
über 15 % an Freiräumen, die nur durch ihren Ruhezone-Status (Lage in der AP Zone C) geschützt sind (Job et al. 2014).
3 Bewertung der Wirkung
Der AP zielt darauf ab, die touristische Erschließung zu regulieren. Empirisch belegt ist, dass er das erreicht hat, ohne den für Bayern wichtigen Wirtschaftsfaktor Tourismus einzuschränken, wie Job et al. (2014) an einer
Zeitreihenanalyse der Gästeübernachtungen zeigen. Im LEP-Kontext ist der AP das Instrument mit der größten Kontinuität. Die Raumnutzungskonflikte vermeidende Steuerungswirkung der Zone C haben Job et al. (2017) anhand von 19
nicht realisierten skitouristischen Erschließungsprojekten in den bayerischen Alpen dokumentiert. 12 dieser Projekte betrafen bislang unerschlossene Berggipfel (z. B. Alpspitze, Hirschberg, Rotwand) oder gar Bergmassive, die bis heute frei von jeglicher mechanischen
Aufstiegshilfe geblieben sind (Watzmann, Inzeller Kienberg, Hochgern). Am prominentesten davon ist das immer wieder für einen Skizirkus-Ausbau diskutierte Riedberger Horn im Naturpark Nagelfluhkette, weswegen der AP zuletzt kurzfristig aufgeweicht worden war, bald aber wieder
rekonstituiert werden konnte. Hierfür hat der immense öffentliche Druck, forciert von Seiten des Alpenvereins sowie der Naturschutzverbände, gesorgt. Wie Abb. 1 zeigt, ist der Anteil der Zone C des AP (im LEP 2020) dadurch leicht
angewachsen, wie schon einmal durch Anpassungen nach dem Lawinenwinter 1998/1999 (im LEP 2003). Nach Goppel (2012) lässt sich die langjährige Bewährung des Alpenplans vor allem am über die Jahre kaum veränderten räumlichen Umgriff, an der zur
damaligen Zeit äußerst sach- und fachgerechten Abgrenzung, am vorausschauenden Lenkungskonzept sowie an der eindeutigen Rechtsverbindlichkeit festmachen. Vor allem die Ruhezone C steht für den effektiven Schutz ökologisch sensibler Gebiete. Allerdings ist hierbei auch anzumerken,
dass ein beträchtlicher Teil der Zone C auf Felslandschaften in Hochgebirgsbereichen über 1.500 m fällt, für die im Sinne der „Worthless land“-Hypothese (vgl. Runte 1973) sowieso nur geringe Flächennutzungskonkurrenzen bestehen
(Job et al. 2013). Dass die meisten Talräume (wie z. B. im Umfeld von Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen oder Berchtesgaden) hingegen großflächig durch die Zone A abgedeckt sind, führt zum Problem fehlender
räumlich-funktionaler Konnektivität zwischen den landschaftsökologisch und als Habitate für seltene Arten wie z. B. Raufußhühner wertvollen Teilflächen der Ruhezone C.
Abb. 1: Übersicht der Alpenplan-Zonierung mit Erweiterungen der Zone C im Zeitverlauf 1972 – 2022.
Fig. 1: Overview of Alpenplan zoning including extensions of zone C between 1972 and 2022.
4 Zeitgemäßheit und Weiterentwicklung des Alpenplans
Der landschaftsbezogene Erholungsnutzungsdruck steigt seit Jahrzehnten stetig parallel zum Ausbau des Fernstraßennetzes und zur Expansion nahe liegender perialpiner Agglomerationsräume. Insbesondere die Agglomerationen München (Planungsregion München, ca.
+ 198.000 Einwohnerinnen und Einwohner [EW] bis 2039, vgl. LfStat 2020: 141), Augsburg (Planungsregion Augsburg ca. + 43.000 EW bis 2039, vgl. LfStat 2020: 136) und Salzburg (Bezirke
Salzburg/Stadt und Salzburg/Umgebung, ca. + 16.000 EW bis 2040, vgl. Filipp 2020: 9) werden laut aktuellen Prognosen bis Ende der 2030er-Jahre weiterhin stark an Einwohnerinnen und Einwohnern gewinnen, was die Frequentierung durch
Tagesbesucherinnen und -besucher in den bayerischen Alpen weiter klettern lassen wird (BUND 2020). Ungeachtet dessen lassen sich bereits heute einzelne Overtourism-Hotspots und saisonale Crowding-Situationen (Schamel,
Job 2017) sowie eindeutige Indizien für eine Intensivierung der landschaftsbezogenen Erholung in den Bayerischen Alpen anführen, wie das Beispiel der immer leistungsfähigeren (E-)MTB zeigt (vgl. z. B. Mitterer 2019).
Da der AP in der Zone C den seit seinem Bestehen weiter betriebenen Ausbau des land- und forstwirtschaftlichen Wegenetzes, das häufig zum Radfahren genutzt wird (Mayer, Job 2010), explizit gestattet, kommt es quasi „durch die Hintertür“
zur Expansion touristischer Aktivitäten in allen Zonen des AP. Ebenso nur bedingt geeignet ist der AP als Raumordnungsinstrument dann, wenn es um den Schutz spezifischer Habitate vor Störungen durch die individuelle Erholungsnutzung geht. Da der AP – wie die überörtliche
Raumordnung allgemein – Vorgaben für die nachfolgenden standortbezogenen Zulassungs- bzw. Bauleitplanverfahren (Anpassungsgebot nach § 1 Abs. 4 BauGBgeeignet. Vielmehr sind hierfür regionale Tourismus- und Besucherlenkungskonzepte erforderlich, die eine verbindliche Umsetzung in anderen Rechtsmaterien als der
Raumordnung (z. B. in spezifischen Schutzgebietsverordnungen) anstreben.
Neben der Veränderung von Freizeitverhalten und touristischer Frequentierung sind es vor allem auch die im Alpenraum schneller als im restlichen Mitteleuropa ablaufenden Klimaänderungen, die heute eine andere Ausgangslage im Vergleich zum Entstehungszeitraum des AP begründen. Eine
gesteigerte Wahrscheinlichkeit klimatischer Extremereignisse erhöht das Risiko alpiner Naturgefahren beträchtlich (StMUV 2020). Um seine künftige Klimawandeltauglichkeit unter Beweis zu stellen, muss der AP diese räumlichen Gefahrenhinweise stärker
präventiv berücksichtigen. Daher ist perspektivisch eine Weiterentwicklung des AP und seiner Zonierung anzustreben. Um die Diskussion für geeignete Kriterien anzustoßen, werden im Folgenden die Ergebnisse ausgewählter eigener Analysen3
(unter Einbezug der Ergebnisse von Schlereth 2021 und Bohn 2021) dargelegt.
4.1 Berücksichtigung von Naturgefahren und Schutzwaldfunktionen
Der aktuelle Klima-Report Bayern 2021 (StMUV 2020) bestätigt, dass insbesondere im Bayerischen Alpenraum durch Schneeschmelze, lang anhaltende Niederschläge und eine steigende Starkregengefahr die Wahrscheinlichkeit von Rutschungen und
Murgängen im Zuge des voranschreitenden Klimawandels erhöht wird. Dabei wird hervorgehoben, dass die besten Anpassungsmöglichkeiten bei der Planung von Siedlungen und Infrastruktur in der Meidung gefährdeter Bereiche bestehen (ebd.). Insbesondere
von tief reichenden Rutschungen (mit einem Tiefgang von mindestens 5 m) geht eine besondere Gefährdung bei starkem Wassereintrag in den Untergrund aus, da diese nur bedingt durch technische Maßnahmen zu verhindern sind (LfU 2020: 8).
Eigene Auswertungen zeigen, dass sich im Bayerischen Alpenraum (Anwendungsbereich der Alpenkonvention) insgesamt rund 6.400 Gebäude (Grundfläche ≥ 20 m²) und rund 151 ha Wohnbaufläche (gemäß ATKIS Objektartenkatalog) in Gefährdungsbereichen tief
reichender Rutschungen befinden. Insgesamt decken die „Ruhezone“ C des AP und strenge Schutzgebiete (Naturschutzgebiete, Natura-2000-Gebiete und Naturwaldreservate) heute lediglich 44,39 % (22.349 ha) der von tief reichenden Rutschungen gefährdeten Gebiete ab,
während sich 39,38 % (19.825 ha) in den Zonen A und B des AP befinden sowie 16,23 % (8.170 ha) außerhalb der Grenzen des AP sowie außerhalb strenger Schutzgebiete liegen.
Um steigenden Risiken durch Naturgefahren vorzubeugen, sollte die Raumordnung bei der Weiterentwicklung des AP insbesondere die in den Waldfunktionsplänen nach Art. 6 BayWaldG4 dargestellten Schutzfunktionen verstärkt
berücksichtigen. Hierbei sind vor allem die Funktionen als Boden- und Lawinenschutzwald hervorzuheben. Für das Beispiel der tief reichenden Rutschungen zeigt eine Überlagerung, dass Boden- und Lawinenschutzwälder 58,12 % (11.522 ha) jener gefährdeten Bereiche in den
AP-Zonen A und B sowie 19,64 % (1.605 ha) der gefährdeten Bereiche außerhalb der Grenzen des AP sowie außerhalb strenger Schutzgebiete ausmachen. Innerhalb der Zone C und strenger Schutzgebiete liegt der Überlagerungsanteil bei 59,27 %
(13.247 ha). Dies lässt sich in Abb. 2 am Beispiel des Landkreises Oberallgäu veranschaulichen, in der die besagten gefährdeten Bereiche in Relation zur Zonierung des AP sowie mit Überlagerung der Boden- und Lawinenschutzwälder
dargestellt werden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Talschlusses bei Oberstdorf, wo sich an Hängen der näheren Umgebung einige rutschungsgefährdete Bereiche (z. B. östlich entlang der Söllereckbahn, im Konflikt mit bestehender touristischer Nutzung) in den
AP-Zonen A und B befinden, wobei die bereits eingeschränkten Bodenschutz-Waldfunktionen gesichert werden sollten.
Abb. 2: Naturgefahrenanalyse (tief reichende Rutschungen) am Beispiel des Landkreises Oberallgäu.
Fig. 2: Natural hazard analysis (deep landslides) for the example of the Oberallgäu district.
4.2 Berücksichtigung siedlungsstruktureller Entwicklungen im Alpenvorland
Der Bayerische Alpenraum, insbesondere das Alpenvorland, ist durch eine nach wie vor hohe Freiflächeninanspruchnahme gekennzeichnet. Eine eigene Auswertung auf Grundlage der amtlichen Flächenstatistik (LfStat 2021) belegt, dass im Bayerischen
Alpenraum (Anwendungsbereich der Alpenkonvention) die Siedlungs- und Verkehrsfläche (SuV) zuletzt um 527,34 ha pro Jahr (5-Jahres-Mittelwert zwischen 2015 und 2019) zunahm, von denen 167,00 ha auf Gemeinden mit Anteil am Gebiet des AP und 360,34 ha auf Gemeinden
außerhalb der Grenzen des AP entfallen. In der Debatte um die Begrenzung der Freiflächeninanspruchnahme ist nicht nur die quantitative Dimension des SuV-Wachstums von Bedeutung. Vielmehr ist eine qualitative und strukturelle Perspektive auf Flächeninanspruchnahme notwendig (Meyer et al. 2021), um Folgewirkungen disperser Siedlungsentwicklung wie etwa steigende Infrastruktur(erhaltungs)kosten, kontinuierliche Landschaftsfragmentierung oder die wachsende Verkehrsbelastung zu adressieren (Jaeger et al. 2015).
Mit dem Verkehr ist eine verkehrsinduzierte Lärmbelastung verbunden, die einen wichtigen Bestandteil des Umgebungslärms5 ausmacht. Die verkehrsinduzierte Lärmbelastung wurde am Beispiel des Landkreises Berchtesgadener Land
(deckungsgleich mit der Biosphärenregion Berchtesgadener Land) räumlich analysiert und visualisiert, wie in Abb. 3 für den nördlichen Teil des Landkreises zu sehen. Hier existieren, bedingt durch die Zerschneidung der Landschaft mit
Verkehrsinfrastrukturen, nur wenige großflächige lärmfreie Gebiete (≤ 40 dB(a) LDEN). Insbesondere der dem Siedlungsdruck der Agglomeration Salzburg ausgesetzte Verdichtungsraum um Freilassing, Piding und Bad Reichenhall ist davon betroffen. Insgesamt ist in den
Bayerischen Alpen festzustellen, dass die raumwirksame Erschließung der Landschaft mit (Verkehrs)infrastrukturen vom Hochgebirge ins Alpenvorland graduell zunimmt. Auch im Alpenvorland finden sich aber teilweise noch gering erschlossene Gebiete, die durch den Alpenplan in seiner
bisherigen morphologisch begründeten Abgrenzung nach Norden allerdings nicht einbezogen werden. Der Anwendungsbereich der Alpenkonvention hingegen berücksichtigt sowohl alpine als auch voralpine Landschaften, indem er alle bayerischen Alpenlandkreise umfasst, was administrativ und
raumfunktional sinnvoller erscheint.
Abb. 3: Modellierte Lärmbelastung durch Straßen- und Eisenbahnverkehr (Tag/Abend/Nacht-Lärmindex: LDEN) im nördlichen Landkreis Berchtesgadener Land (Biosphärenregion Berchtesgadener Land; Quelle: Bohn 2021: 32,
leicht verändert).
Fig. 3: Modelled noise exposure from road and railway traffic (day/evening/night noise index: L
DEN) in the northern Berchtesgadener Land district (Berchtesgadener Land biosphere region; source:
Bohn 2021: 32,
slightly modified).
5 Fazit
Der AP wirkt! Die bayerische Landesplanung darf darauf stolz sein und hat allen Grund ihn zu feiern. Ihr vor 50 Jahren implementiertes, innovatives raumplanerisches Zonierungskonzept ist sowohl alpenweit als auch, was die (Hoch)gebirgsräume weltweit angeht, als vorbildlich
anzusehen. Ohne das „Geburtstagskind“ wären die Bayerischen Alpen heute landschaftlich nicht so attraktiv, da viel intensiver erschlossen, biologisch weniger vielfältig und vermehrten alpinen Naturgefahren ausgesetzt. Der AP hat die Bayerischen Alpen vor einer touristischen
Übererschließung bewahrt und somit den Schutz landschaftlich und ökologisch sensibler Bereiche erreicht, ohne die landschaftsbezogene (Nah)erholung und deren regionalwirtschaftliche Effekte einzuschränken.
Aktuell steht der AP durch den – pandemiebedingt noch forcierten – post-modernen Individualisierungstrend mit neuen Formen der Erholungsnutzung (z. B. E-MTB) unter Bewährungsdruck. Für lokalspezifische Probleme der Besucherfrequentierung ist der AP aber keine
Ultima Ratio, schon wegen seines Maßstabs. Hier werden Konfliktlösungsansätze durch Besucherlenkung benötigt, sowohl in der virtuellen Welt der sozialen Netzwerke (bspw. mittels digitaler Ranger) als auch im realen Raum (z. B. direkt, durch eine in den Verordnungen von
Naturschutz- und Landschaftsschutzgebieten getroffene Festlegung einer Mindestbreite von 2 m für Wege, die mit Rädern – u. a. mit E-MTB – befahren werden dürfen).
Von noch größerer Bedeutung ist jedoch ein „Alpenplan 2.0“. Denn der in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsene und absehbar weiter anhaltende Nutzungsdruck auf Freiflächen in den Alpen und im Alpenvorland Bayerns, der schnell voranschreitende Klimawandel sowie
vermehrte Naturgefahren fordern den alten AP heraus. Das verlangt dringend nach einer inhaltlichen und räumlichen Weiterentwicklung zu einem Alpen(vorland)plan. Die bisherige Beschränkung auf den Sektor Verkehr könnte damit zu einem ganzheitlichen Planungsansatz weiterentwickelt werden,
der das bayerische Alpenkonventionsgebiet, wie hier vorgeschlagen, neu ordnet: Indem zum einen neue Erkenntnisse zur Naturgefahrenvorsorge in eine Erweiterung der Zone C münden und zum anderen der Perimeter des AP auf den gesamten Anwendungsbereich der Alpenkonvention in Bayern
erweitert wird. Diese Erweiterung müsste dabei im Sinne eines „Freiraumverbundsystems“ (vgl. Art. 6 Abs. 2 Nr. 3 S. 3 BayLplG) insbesondere die Zielsetzung verfolgen, die Zersiedlung bzw. Landschaftsfragmentierung im Alpenvorland zu begrenzen und somit
landschaftsökologisch wirksame Freiraumkorridore zwischen alpinen und voralpinen Landschaften raumplanerisch dauerhaft zu sichern. Die prinzipiell bestehenden freiraumsichernden regionalplanerischen Instrumente wie etwa Landschaftliche Vorbehaltsgebiete oder Regionale
Grünzüge6 reichen hierfür bei Weitem nicht aus, da sie in der Praxis nicht existent sind oder – wenn doch – keine ausreichende Bindungswirkung entfalten und so bei Raumnutzungskonflikten beinahe immer unterliegen.
Darum muss ein erweiterter Alpen(vorland)plan bestehende regional- und fachplanerische Festlegungen nicht ersetzen, sondern in einer flächendeckenden Zonierung raumverträglich, vorausschauend und konsistent zusammenführen, damit der AP auch noch seinen Hundertsten zu Recht feiern
kann.
6 Endnoten
↑
1 Bayerisches Landesplanungsgesetz (BayLplG) vom 25. Juni 2012 (GVBl. S. 254, BayRS 230-1-W), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2020 (GVBl. S. 675).
↑
2 Baugesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. November 2017 (BGBl. I S. 3634), zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Juli 2021 (BGBl. I S. 2939) geändert.
↑
3 Die dargestellten Ergebnisse beruhen auf Analysen in einem Geographischen Informationssystem (GIS). Dabei wurden folgende Daten (inkl. Urhebernennung) herangezogen: Gefahrenhinweise/Georisiken, Schutzgebiete des Naturschutzes (Bayerisches Landesamt
für Umwelt, LfU); Zonierung Alpenplan (Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie, StMWi); ATKIS Basis DLM, Hausumringe (Bayerische Vermessungsverwaltung); Waldfunktionspläne (Bayerische Forstverwaltung); OpenStreetMap Daten (OpenStreetMap
contributors); Flächenstatistik (Bayerisches Landesamt für Statistik, BayLfStat).
↑
4 Bayerisches Waldgesetz (BayWaldG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Juli 2005 (GVBl. S. 313, BayRS 7902-1-L), zuletzt geändert durch Art. 9b Abs. 6 des Gesetzes vom 23. November 2020 (GVBl.
S. 598)
↑
5 Vgl. https://www.umgebungslaerm.bayern.de/allgemeines/index.htm (aufgerufen am 27.8.2021)
↑
6 Hierzu ist anzumerken, dass bisher keine Regionalen Grünzüge in den Regionalplänen der Regionen Allgäu, Oberland und Südostoberbayern festgelegt sind. Dieses Instrument mit dem Charakter von Zielen der Raumordnung ist in der regionalplanerischen
Praxis den Verdichtungsräumen vorbehalten, was einer flächendeckenden Sicherung relevanter Grünkorridore ohnedies entgegensteht.
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StMUV/Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz (Hrsg.) (2020): Klima-Report Bayern 2021. Klimawandel, Auswirkungen, Anpassungs- und Forschungsaktivitäten. StMUV. München: 195 S.
Dank
Wir danken Felix Schlereth und Nico Bohn für ihren Beitrag zum vorliegenden Artikel im Rahmen ihrer Bachelorarbeiten. Darüber hinaus sind wir allen öffentlichen Stellen für die freundliche Bereitstellung von Geodaten zu Dank verpflichtet.