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Künstliche Intelligenz im Naturschutz

Artificial intelligence in nature conservation

DOI: 10.19217/NuL2023-06-05 • Manuskripteinreichung: 23.10.2022, Annahme: 15.3.2023

Christian Schneider, Jana Wäldchen und Patrick Mäder

Zusammenfassung

In absehbarer Zukunft könnte künstliche Intelligenz (KI) die Arbeit im Naturschutz so selbstverständlich unterstützen, wie es heute bereits Geoinformationsverarbeitung sowie statistische Methoden oder Modelle tun. Gegenwärtig befinden sich die meisten KI-Systeme aber noch im Forschungs- und Entwicklungsstadium. Sie müssen gezielt in Anwendungen von Behörden oder Naturschutzorganisationen überführt werden, um sie weitreichend zugänglich zu machen. Die breiteste Anwendung finden KI-Systeme bislang in der automatisierten Erkennung von Arten sowie in der Fernerkundung. Vielversprechende Methoden gibt es aber auch im Bereich der Modellierung, z. B. von Habitateignungen und Artverbreitungen. Bereits absehbar ist der Einsatz von KI-Systemen für (halb)automatisierte Bewertungen, etwa von Aussterberisiken, sowie der Einsatz als Entscheidungsunterstützungssysteme. Über die Diskussion bestehender Ansätze hinaus werden im zweiten Teil des Beitrags Rahmenbedingungen und Lösungsansätze für den erfolgreichen Einsatz von KI-Systemen im Naturschutz zusammengefasst.

Naturschutz – maschinelles Lernen – künstliche Intelligenz (KI) – automatische Artenerkennung – Vorhersagemodelle – nachvollziehbare KI – Reproduzierbarkeit

Abstract

In the foreseeable future, artificial intelligence (AI) will support nature conservation as naturally as geoinformation processing, statistical methods or models already do today. At present, however, most AI systems are still in the research and development stage. They need to be transferred into applications for government agencies or conservation organisations to make them widely accessible. The broadest application of AI systems so far is in the field of (semi-)automated recognition of species as well as in remote sensing. However, there are also promising methods in the field of habitat and species distribution modelling. In the future, AI systems might also be commonly used for automated extinction risk assessments as well as for automated decision support systems. The challenges and conditions for the use and development of AI systems in nature conservation are outlined in the second part of the article.

Nature conservation – Machine learning – Artificial intelligence (AI) – Automated species identification – Prediction models – Explainable AI – Reproducibility

Inhalt

1 Einleitung

2 Anwendungsfelder

2.1 Erfassung von Organismen, Biodiversität und Landbedeckung

2.2 Vorhersagemodelle

2.3 Empfehlungs- und automatisierte Steuerungssysteme

3 Herausforderungen

3.1 Expertenwissen für die Erstellung von Trainingsdaten

3.2 Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit von KI-Systemen

3.3 KI-Systeme für Naturschutzbehörden und -organisationen

3.4 Definition sozial-ethischer, ökonomischer und umweltbezogener Leitprinzipien

4 Ausblick

5 Literatur

1 Einleitung

Neben dem Klimawandel stellt der Verlust der biologischen Vielfalt eine der größten Bedrohungen für die Menschheit dar ( Cardinale et al. 2012). Gleichzeitig steht die Umsetzung des Naturschutzes vor großen Herausforderungen. Angesichts multipler ökologischer und gesellschaftlicher Krisen steigt einerseits der Bedarf an räumlich und zeitlich hoch aufgelösten Erhebungen des Zustands der Natur wie auch der Bedarf an wirkungsvollen Managementansätzen. Andererseits lässt sich neben knappen Ressourcen beobachten, dass z. B. die Artenkenntnis zurückgeht und Spezialistinnen und Spezialisten zur Erhebung von Daten über Natur und Landschaften weniger werden. Künstliche Intelligenz (KI) kann ein Baustein sein, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

KI beschreibt die Fähigkeit von Maschinen, basierend auf Algorithmen Aufgaben autonom auszuführen. Diese Fähigkeit kann auf programmierten Abläufen beruhen oder durch maschinelles Lernen (ML) erzeugt werden. Bei ML-Verfahren lernt ein Algorithmus durch Wiederholung, selbstständig eine Aufgabe zu erfüllen. Anders als bei herkömmlichen Algorithmen wird kein Lösungsweg modelliert. Der Computer lernt selbstständig, die Struktur von Daten zu erkennen. In den vergangenen Jahren wurden im Bereich des ML enorme Fortschritte gemacht. Die Hauptgründe für diese buchstäbliche „Explosion“ der Technik sind die Verfügbarkeit und das Zusammenspiel von drei Dingen:

    1. schnellere und leistungsfähigere Computerhardware, d. h. massiv-parallele Prozessoren und frei programmierbare Grafikverarbeitungseinheiten (general purpose computation on graphics processing units, GP-GPU),
    2.

    Software und Algorithmen, die sich diese Rechenarchitekturen zu Nutze machen, und

    3.

    große Mengen verfügbarer Trainingsdaten, um unterschiedlichste Aufgaben anlernen zu können.

Grundlegende Begriffe im Bereich der KI sind in einem kurzen Glossar zusammengefasst (siehe Kasten 1). ML-Verfahren werden heute bereits in unterschiedlichen Lebensbereichen und für vielfältige Anwendungen eingesetzt:

Kasten 1: Glossar (verändert nach ZVKI 2022).
Box 1: Glossary (modified after ZVKI 2022).

Künstliche Intelligenz (KI; engl. artificial intelligence – AI)

Teilgebiet der Informatik, das Methoden entwickelt, mit denen Computerprogramme oder Maschinen automatisiert Aufgaben erfüllen sollen. Deswegen wird von verschiedenen KI-Methoden gesprochen, die in KI-Systemen angewendet werden, nicht von der einen KI. Bisher fehlt eine einheitliche Definition für KI. In der Regel werden als KI aber insbesondere Methoden des maschinellen Lernens bezeichnet. Die Diskussion und der Versuch einer übergreifenden Definition der Europäischen Kommission kann bei HEG-KI (2018) nachgelesen werden.

Maschinelles Lernen (ML; engl. machine learning – ML)

Grundlegende Methode im Bereich künstlicher Intelligenz. Bei diesem Verfahren programmieren die Entwicklerinnen und Entwickler den Algorithmus, der eine Aufgabe lösen soll, nicht selbst. Stattdessen legen sie Zielvorgaben fest und bauen ein Computerprogramm, das den besten Lösungsalgorithmus selbstständig findet. Unterschieden werden drei grundlegende Lernmethoden: überwachtes Lernen, unüberwachtes Lernen und bestärkendes Lernen.

Künstliche neuronale Netze (KNN; engl. artificial neural networks – ANN)

Methode des maschinellen Lernens, die an Aufbau und Funktionen im Gehirn angelehnt ist. Daten werden dabei von verschiedenen Knotenpunkten nacheinander verarbeitet. Die Knotenpunkte (Neuronen) sind wie ein Netz miteinander verbunden, was an den Aufbau des menschlichen Gehirns mit seinen Nervenzellen erinnert. Die Daten durchlaufen einen vorgegebenen Pfad in diesem Netz. Der Pfad bestimmt, welches Ergebnis das KI-System ausgibt. Abhängig von der Methode des maschinellen Lernens passt das System den Pfad laufend an und gewichtet die einzelnen Verbindungen so, dass am Ende das gewünschte Ergebnis erzielt wird. Komplexe Aufgaben können es erfordern, viele Schichten an Neuronen zu bauen. Dann ist die Rede von deep learning (siehe Eintrag „Tiefes Lernen“).

Tiefes Lernen (auch: mehrschichtiges Lernen; engl. deep learning – DL)

Komplexe künstliche neuronale Netze, die mehr als drei Schichten künstlicher Neuronen umfassen. Der Begriff „deep“ bzw. „tief“ bezieht sich auf die Menge der Schichten künstlicher Neuronen. Mit jeder zusätzlichen Schicht erhöhen sich der Abstrahierungsgrad des Systems und die Fähigkeit, komplexere Aufgaben zu bewältigen. Dazu gehört die Erkennung von Bildern. Gleichzeitig verstärkt sich allerdings das Problem von künstlicher Intelligenz als Blackbox.

    Bilderkennung (computer vision): Mit diesen Algorithmen können Bilder erkannt und kategorisiert werden. Maschinelles Sehen kommt u. a. in der medizinischen Diagnostik, beim autonomen Fahren oder auch bei der Erkennung von Tier- und Pflanzenarten zum Einsatz.
    Audio- und Spracherkennung: Das Erkennen von Audiodaten kommt in Musikerkennungsprogrammen zum Einsatz. Im Naturschutz basiert auf diesen Techniken bspw. die Arterkennung von Vögeln, Insekten oder marinen Säugetieren.
    Semantische Spracherkennung: Geschriebener oder gesprochener Text kann auch semantisch interpretiert werden, was z. B. kontextbezogene Übersetzungsanwendungen oder interaktive Suchen erlaubt. Im Naturschutz können z. B. die Inhalte historischer Aufzeichnungen erschlossen werden.
    Prozessoptimierung: Die erkannten Muster können auch als Informationsbasis für Optimierungsprozesse genutzt werden. In der Industrie findet dies z. B. bei der so genannten predictive maintenance Anwendung, im Naturschutz bei der Auswahl geeigneter Routen für Patrouillen in Nationalparks.

Der Grad der Anwendung von KI-Technologien ist in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich ausgeprägt und konzentriert sich aktuell auf Anwendungen der Technologiebranche und Industrie. Die Anwendung von KI-Technologien im Naturschutz und für die Erhaltung der biologischen Vielfalt bleibt hinter Bereichen wie Gesundheit, Verkehr, Finanzen und Landwirtschaft (vgl. Kasten 2) zurück. Studien zeigen jedoch das große Potenzial von KI-Anwendungen im Naturschutz. Zahlreiche Projekte und Forschungsvorhaben widmen sich gegenwärtig der Frage, wie die Potenziale von KI zukünftig für Naturschutzverbände, Fachgesellschaften und Behörden gemeinwohlorientiert nutzbar gemacht werden können (vgl. Abb. 1). In diesem Beitrag zeigen wir, in welchen Bereichen des Naturschutzes KI-Technologien bereits zum Einsatz kommen, welche Schwierigkeiten für andere Anwendungen gelöst werden müssen und welche Entwicklungsschritte in der nächsten Zeit zu erwarten sind.

Kasten 2: Praktische Anwendung der Digitalisierung als Chance für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft.
Box 2: Practical application of digitisation as an opportunity for more biodiversity in agriculture.

1 Einleitung

Digitalisierung hat bereits seit vielen Jahren Einzug in die Landwirtschaft gehalten. Sie dient dort der Optimierung von Prozessen und Abläufen, kann aber auch zum Schutz der Umwelt und zur Erhaltung von Biodiversität beitragen. In den letzten Dekaden hat sich die Entwicklung digitaler Lösungen für praktische Anwendungen und zur Förderung von Biodiversität in der Landwirtschaft auch durch den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) beschleunigt. Digitalisierung wird aber nur zu nennenswerten Erfolgen beitragen können, wenn sie sinnvoll in den notwendigen Strukturwandel der Landwirtschaft einbezogen wird. Nachfolgend wird exemplarisch eine Auswahl von Digitalisierungsprojekten, u. a. mit KI-Bezug, diskutiert.

2 Managementsysteme

In einem vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. koordinierten Projekt wird die NatApp entwickelt. Sie unterstützt Betriebe bei der Umsetzung von deren Naturschutzmaßnahmen und verringert zugleich den Bürokratieaufwand für Landwirtinnen und Landwirte sowie Behörden ( ZALF 2021). Mit der NatApp haben Landwirtinnen und Landwirte ein Werkzeug, das die Beantragung, Umsetzung und Dokumentation von Naturschutzmaßnahmen deutlich vereinfacht. Die App informiert u. a. zu Möglichkeiten der Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen und erleichtert die Flächenanlage mit Hilfe eines integrierten Global-Positioning-System(GPS)-Tools. Mittels App können die Betriebe die durchgeführten Maßnahmen automatisch und rechtssicher dokumentieren. Da die deutsche Gesetzgebung künftig eine digitale Dokumentation von Pflanzenschutzmaßnahmen vorsieht, werden die NatApp und vergleichbare Lösungen voraussichtlich deutlich wachsende Nutzerzahlen aufweisen.

3 Sensorsysteme für Traktor-Implement-Kombinationen

Die PREMOSYS GmbH hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Landtechnik der Universität Bonn ein Sensorarray zur gezielten und effizienten Pflanzenerkennung entwickelt ( Kuhl, Faber 2020). Das System dient zur Erkennung von Grünpflanzen auf Freiflächen sowie zur Identifizierung von Unkräutern im Pflanzenbestand, um Herbizide direkt und punktuell ausbringen zu können. Möglich ist zudem die gezielte Anwendung alternativer mechanischer oder thermischer Verfahren. Es lässt sich auch der bedarfsgerechte Einsatz von Düngemitteln steuern. Unter Verwendung von KI-Ansätzen zur Einordnung erfasster Pflanzen detektiert das System bei Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 25 km/h bereits Blattgrößen von 1 cm². Wirkstoffe werden dadurch nur noch auf den detektierten Unkrautpflanzen ausgebracht. Bis zu 90 % der Herbizide können so eingespart werden.

4 Nichtchemische Unkrautbekämpfung

Die Frage, wie gänzlich auf Herbizide verzichtet werden kann, stand beim Projekt NUBELA des Laser Zentrums Hannover im Fokus ( Wollweber et al. 2022). Zentraler Ansatzpunkt war es, Unkräuter zu erkennen und durch gezielte Laserimpulse auf deren Wachstumszentrum zu dezimieren. Zur Erkennung, Zielermittlung und Prozessüberwachung wurde geeignete Detektionstechnik in Form von Rot-Grün-Blau(RGB) Farb-Kameras, Light-Detection-and-Ranging(LiDAR)-Sensorik und Beleuchtungseinheiten implementiert. Auf Basis verschiedener Bilddatensätze wurde ein künstliches neuronales Netz trainiert, um Unkräuter zu klassifizieren. Der entwickelte Felddemonstrator konnte unter Realbedingungen erfolgreich zur Unkrautregulierung in einem landwirtschaftlichen Gemüseanbaubetrieb getestet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse schaffen ideale Voraussetzungen, um die Lasertechnik für ein automatisiertes und selbstlernendes Unkrautmanagement in unterschiedlichsten Agrarfahrzeugen zu integrieren und so zukünftig als Alternative zu herkömmlichen Unkrautbekämpfungsverfahren zu etablieren.

5 Ausblick

Die vorgenannten Projekte sind Beispiele der voranschreitenden Digitalisierung für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft. Sie bringen dabei nicht nur ökologische Vorteile, die Technologien lassen sich auch ökonomisch wirksam in die Arbeitsprozesse der Landwirtschaft integrieren.

Mit Blick auf andere Domänen (z. B. Industrie 4.0) wird zudem auch in der Landwirtschaft eine Vernetzung der Systeme in den nächsten Jahren immer relevanter (IEEE Xplore). Landmaschinenanbieter stellen bspw. eigene Plattformen ( John Deere, Fendt, AMAZONEN-WERKE) zur Verwaltung eines digitalen Zwillings (d. h. eines virtuellen Abbilds) für Landmaschinen oder zur Vernetzung ihrer Produktpaletten bereit. Verschiedene herstellerübergreifende Projekte und Initiativen haben sich das Ziel eines nahtlosen Informationsaustauschs gesetzt( Precision Farming Dealer). KI bzw. maschinelles Lernen kann dabei die technologische Grundlage für die Implementierung neuer agronomischer Dienste in einer digital vernetzten Systemlandschaft bilden. Projekte wie Gaia-X bzw. dessen Ableger Agri-Gaia (Agri-Gaia) und insbesondere Nachhaltige Landwirtschaft mit Künstlicher Intelligenz ( NaLamKI) adressieren bereits eine digitale Vernetzung. Anhand zu entwickelnder KI-basierter technischer Dienste soll auch aufgezeigt werden, welche ökologischen Optimierungspotenziale in einer zunehmend vernetzten Landwirtschaft liegen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit diese Möglichkeiten in der Realität wirklich ausgeschöpft bzw. in der Gesetzgebung gefordert werden.

6 Literatur

  Kuhl M., Faber B. (2020): Abschlussbericht „Multispektrales Sensorarray zur Pflanzenerkennung“. PREMOSYS GmbH. Kalenborn: 29 S.

  Wollweber M., Meier O. et al. (2022): Abschlussbericht „Nichtchemische Unkrautbekämpfung mittels Laserstrahlung in der Pflanzenproduktion NUBELA“. Laser Zentrum Hannover e. V. Hannover: 31 S.

  ZALF/Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung e. V. (2021): „Naturschutz-App“ in der Entwicklung: Naturschutzmaßnahmen in der Landwirtschaft digital vereinfachen. Pressemitteilung. https://www.zalf.de/de/aktuelles/Seiten/Pressemitteilungen/Naturschutzma%C3%9Fnahmen_digital.aspx (aufgerufen am 28.9.2022).

7 Weiterführende Quellen im Internet

  Agri-Gaia, Agrotech Valley Forum e. V. (2022): https://www.agri-gaia.de (aufgerufen am 28.9.2022).

  AMAZONEN-WERKE H. DREYER SE & Co. KG, myAMAZONE (2022): https://amazone.de/de-de/myamazone (aufgerufen am 28.9.2022).

  Deere & Company, MyJohnDeere (2022): https://myjohndeere.deere.com/mjd/my/login (aufgerufen am 28.9.2022).

  FENDT, FendtONE (2022): https://www.fendt.com/de/smart-farming/fendtone (aufgerufen am 28.9.2022).

  NaLamKI, Technische Universität Kaiserslautern (2022): https://nalamki.de/#/LandingPage (aufgerufen am 28.9.2022).

  Precision Farming Dealer (2022): https://www.precisionfarmingdealer.com/articles/5161-aef-developing-agriculture-interoperability-network-to-simplify-data-sharing (aufgerufen am 28.9.2022).

  Weinert B., Uslar M. (2020): Challenges for System of Systems in the agriculture application domain. 15th International Conference of System of Systems Engineering (SoSE). Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE). Budapest: 355 – 360. DOI: 10.1109/SoSE50414.2020.9130552

Autoren

Dr. Benjamin Weinert

Dr. Reinhard Stock

Deutsche Bundesstiftung Umwelt

An der Bornau 2

49090 Osnabrück

E-Mail: b.weinert@dbu.de

 

Prof. Dr. Markus Große Ophoff

DBU Zentrum für Umweltkommunikation

An der Bornau 2

49090 Osnabrück

E-Mail: m.grosse-ophoff@dbu.de

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Abb. 1: Beispielhafte Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu Anwendungsfeldern von künstlicher Intelligenz (KI) im Naturschutz (WKA = Windkraftanlagen, Quellennachweise in Abschnitt A im Online-Zusatzmaterial).
Fig. 1: Artificial intelligence (AI) research and development projects for nature conservation (WKA = wind power plant, source references in chapter A in the online supplementary material).

2 Anwendungsfelder

2.1 Erfassung von Organismen, Biodiversität und Landbedeckung

Die großflächige systematische Erfassung der biologischen Vielfalt ist eine große Herausforderung, da ein angemessenes Monitoring kosten- und zeitintensiv ist und darüber hinaus ein umfangreiches taxonomisches Wissen erfordert. Vielversprechende Ansätze zur zukünftigen Unterstützung des Monitorings ergeben sich durch halb- und vollautomatische Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden, die eine hohe räumliche Abdeckung aufweisen und aussagekräftige Zeitreihen ermöglichen.

Jüngste Fortschritte in der Sensortechnologie erhöhen die Kapazität der Datenerfassung im Naturschutzbereich drastisch. Mit der breiten Verfügbarkeit automatischer Erfassungssysteme wie Kamerafallen, Telemetriedaten oder akustischer Sensoren werden Ökologinnen und Ökologen zunehmend in die Lage versetzt, in kurzer Zeit und über große räumliche Skalen umfangreiche Datenmengen zu erheben. Die Extraktion relevanter Informationen aus solchen immensen Datensätzen stellte in den letzten Jahren eine große Aufgabe dar, da eine manuelle Identifizierung und Klassifizierung zur Analyse der Daten nötig waren. Als Beispiel sei auf eine Studie zur Aktivität von Wildschweinen im Biosphärenreservat Schaalsee verwiesen ( Reinke et al. 2021). Dafür wurden in zwei Monaten mehr als 45.000 Fotos von rund 50 Kamerafallen aufgenommen, die sehr zeitaufwändig manuell ausgewertet wurden. Erkennung und Zählung von Seevögeln in Befliegungsvideos für das marine Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Monitoring werden gegenwärtig ebenfalls mit großem Aufwand manuell durchgeführt. Die Analyse entsprechender Datensätze kann durch ML deutlich erleichtert werden. Durch die KI-Methoden werden zugleich neue Untersuchungsdesigns möglich, die noch weitaus umfänglicher von Sensoren Gebrauch machen können.

Maschinelles Lernen und im Speziellen tief lernende neuronale Netze werden gegenwärtig bereits intensiv zur bildbasierten Bestimmung von Tieren ( Tabak et al. 2019) und Pflanzen ( Barre et al. 2017; Rzanny et al. 2021) verwendet. Auch bei der automatischen Bestimmung von Vogelrufen oder dem Gesang von Meeressäugern werden ML-Methoden erfolgreich eingesetzt ( Goodwin et al. 2022; Wood et al. 2022; Frommolt 2023 in dieser Ausgabe). Darüber hinaus liefern erste Experimente vielversprechende Ergebnisse für die Identifizierung von Arten aus Satelliten-, Luft- und Drohnenbildern mittels tief lernender neuronaler Netze ( Schiefer et al. 2020; Feilhauer, Faude 2023 in dieser Ausgabe). Auf diesem Weg wurden bereits Bäume und Feldfrüchte bestimmt, Habitate klassifiziert und zunehmend auch ökologische Eigenschaften von Landschaftsausschnitten abgeleitet ( Neumann 2020). Auch im Bereich der automatischen Erkennung von Insekten liegen vielversprechende Ergebnisse vor ( Van Klink et al. 2022). Abb. 2 gibt einen Überblick über Artengruppen, die bereits mit KI über unterschiedliche räumliche Skalen automatisch erkannt werden. Ein Großteil der genannten KI-Systeme befindet sich allerdings noch im Forschungs- und Entwicklungsstadium und muss erst in Anwendungen für Behörden oder Naturschutzorganisationen überführt werden, um weitreichend zugänglich zu werden.

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Abb. 2: Beispiele für Artengruppen, die mit Systemen der künstlichen Intelligenz (KI) auf unterschiedlichen Plattformen und räumlichen Skalen automatisiert erkannt werden können (Quellennachweise in Abschnitt B im Online-Zusatzmaterial).
Fig. 2: Examples of groups of species that can be automatically detected using artificial intelligence (AI) systems on different platforms and spatial scales (source references in chapter B in the online supplementary material).

Breite Anwendung findet die KI-basierte Artbestimmung in bürgerwissenschaftlichen Projekten (Citizen Science). So nutzt z. B. die Flora-Incognita-App für die automatische Pflanzenerkennung neueste Ansätze des ML und erlaubt eine leichte und sichere Pflanzenbestimmung auch für Menschen mit geringem oder keinem taxonomischen Vorwissen. Durch die weite Verbreitung in der Bevölkerung ist es damit möglich, in Echtzeit Pflanzenvorkommen in einem noch nie dagewesenen Umfang zu dokumentieren ( Mahecha et al. 2021). Ein anderes Beispiel ist die BirdNET-App. Sie erlaubt eine automatische Bestimmung von Vogelarten anhand akustischer Aufnahmen ihrer Rufe. Auch mit dieser App werden im Rahmen von Citizen Science große Datenmengen generiert, die einen wichtigen Beitrag zum Vogelmonitoring liefern können ( Wood et al. 2022; Frommolt 2023 in dieser Ausgabe). Die Stärke dieser Projekte liegt in kontinuierlichen Langzeitaufnahmen mit großer zeitlicher und örtlicher Auflösung über eine Vielfalt von Arten. Bereits im Einsatz bzw. kurz vor der Einführung befinden sich visuelle Systeme zur Identifikation von Vogelarten in der Nähe von Windkraftanlagen, z. B. IdentiFlight oder BirdRecorder. Sie sind eine wichtige Voraussetzung, um Anlagen beim Anflug schlaggefährdeter Vögel automatisch und bedarfsorientiert abschalten zu können. In der Schweiz wurden im behördlichen Kontext bereits vortrainierte künstliche neuronale Netze zur Erkennung invasiver Arten entlang von Autobahnen eingesetzt ( Nobis et al. 2020).

2.2 Vorhersagemodelle

Ökologie und Naturschutz benötigen genaue Vorhersagemodelle, um die komplexen Prozesse der Natur zu verstehen und Prognosen für eine sich verändernde Umwelt zu erstellen. Neben den traditionellen prozessbasierten Modellen stehen dafür bereits seit Längerem ML-Verfahren zur Verfügung. Methoden wie der Random-forest-Ansatz haben sich in diesem Zusammenhang als sehr geeignet und robust erwiesen ( Marx, Quillfeldt 2018). Sie liegen zahlreichen Habitateignungs- und Artverbreitungsmodellen zu Grunde. Diese Modelle können dabei helfen, Räume für potenzielle Vorkommen und die Habitatanforderungen von Arten zu beschreiben und vorherzusagen. Beispielhaft sei dafür auf eine Studie zum Vorkommen der Turteltaube (Streptopelia turtur) in Deutschland verwiesen ( Marx, Quillfeldt 2018). In einem weiteren Beispiel modellierten die Autorinnen und Autoren die Zusammensetzung der Habitate von 16 Säugetierarten innerhalb eines Schutzgebiets auf unterschiedlichen Skalenebenen ( Searle et al. 2022). Auch für die Vorhersage von Vorkommen invasiver Arten wird ML – häufig in Verbindung mit Fernerkundung – bereits in der Praxis eingesetzt ( Schulze-Brüninghoff et al. 2021).

Trotz der fortlaufenden Methodenentwicklung sind die Möglichkeiten, Veränderungen in Raum und Zeit vorherzusagen, aktuell auf Grund der Komplexität von Ökosystemen noch überaus rudimentär. Neben vielen weiteren Entwicklungen auf dem Feld der ökologischen Modellierung gelten tiefe künstliche neuronale Netze als vielversprechend, um komplexe ökologische Dynamiken abzubilden und vorherzusagen. In ersten Studien haben sich die so genannten faltenden neuronalen Netze (engl. convolutional neural networks, CNN) als besonders geeignet für räumliche Fragestellungen erwiesen ( Estopinan et al. 2022). Das Autorenteam Rammer, Seidel (2019) veröffentlichte z. B. ein CNN und die Trainingsdaten, mit denen sie die Ausbreitung von Borkenkäfern im Nationalpark Bayerischer Wald auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen vorhersagen konnten. In einer Studie aus Frankreich nutzten Deneu et al. (2021) künstliche neuronale Netze zur landesweiten Artverbreitungsmodellierung mit einem besonderen Fokus auf dem Einfluss lokaler Landschaftsstrukturen. Die Vorhersage zeitlicher Dynamiken stellt die genannten Verbreitungs- und Habitatmodelle noch immer vor große Herausforderungen. Der Blick auf die KI-Forschung jenseits des Naturschutzes zeigt, dass so genannte rekurrente neuronale Netze (engl. recurrent neural networks, RNN) gut für die Analyse zeitlicher Dimensionen oder Abfolgen, also sequenzieller Daten, geeignet sind. Sie werden zur Auswertung von Zeitreihen, Genomen oder Textinhalten verwendet und rücken inzwischen auch in der Ökologie in den Fokus. Mit Blick auf verbesserte Artverbreitungsmodelle schlagen Estopinan et al. (2022) eine hybride Modellarchitektur, bestehend aus CNN und RNN, vor. Insbesondere angesichts der anwachsenden Zeitreihen von Fernerkundungsdaten sehen sie darin ein wichtiges Forschungsfeld für die Zukunft.

2.3 Empfehlungs- und automatisierte Steuerungssysteme

KI-Anwendungen können nicht nur bei der Datenerfassung und bei der Vorhersage von Entwicklungen einen Beitrag für den Naturschutz leisten, sondern auch Entscheidungsprozesse unterstützen. In Projekten wie FutureForest oder ChESS werden gegenwärtig KI-gestützte Entscheidungshilfesysteme z. B. für nachhaltiges Forstmanagement oder zur Erkennung von Anomalien in marinen Ökosystemen entwickelt. In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde zudem eine KI-Anwendung für die systematische Naturschutzplanung vorgestellt ( Silvestro et al. 2022). Darin wird das System für die räumliche Priorisierung von Naturschutzgebieten eingesetzt. Basierend auf Simulationsdaten zur zeitlichen und räumlichen Entwicklung der Biodiversität infolge anthropogener und klimatischer Einflüsse wurden Reinforcement-learning(RL)-Algorithmen entwickelt, um den Kompromiss zwischen Kosten und Nutzen eines Schutzgebiets und der biologischen Vielfalt zu quantifizieren ( Silvestro et al. 2022). Eine weitere Studie nutzt tiefe neuronale Netze, um die Schutzwürdigkeit von 13.910 Orchideenarten zu bewerten. Die meisten dieser Arten (13.049) waren bisher nicht von der Weltnaturschutzunion (International Union for Conservation of Nature, IUCN) bewertet worden und können nun erstmalig in Empfehlungen einbezogen werden ( Zizka et al. 2021).

KI-gestützte Bewertungs- und Entscheidungshilfen sind im behördlichen Naturschutz in Deutschland bislang noch nicht im Einsatz. Allerdings werden gegenwärtig die Möglichkeiten dieser Systeme bspw. zur Unterstützung der Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels im Internet evaluiert. Im internationalen Rahmen wird ML bereits von Behörden und Nichtregierungsorganisationen eingesetzt, bspw. zur Planung von Patrouillen in Schutzgebieten, zur Überprüfung industrieller Umweltauflagen oder zur Unterstützung bei der Bekämpfung von Waldbränden ( Fang et al. 2019).

3 Herausforderungen

3.1 Expertenwissen für die Erstellung von Trainingsdaten

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Einsatz von ML ist das Vorliegen großer und für die Fragestellungen passender Datensätze. Diese müssen aufwändig annotiert werden, damit sie als Trainingsdatensätze genutzt werden können. Bildausschnitte oder spezifische Muster in Sensordaten werden dafür identifiziert und mit maschinenlesbaren Markierungen (Labels) versehen. Auf diesem Weg müssen riesige Datenbestände manuell bearbeitet und bspw. Artnamen zugeordnet werden. Zum Training des Flora-Incognita-Klassifikators zur Bestimmung von Pflanzen wurden mehr als eine Million Bilder manuell annotiert ( Mäder, Boho et al. 2021). Für das Training einer älteren Version des BirdNET-Modells waren mindestens 500 Audiomitschnitte pro Vogelart notwendig. Insgesamt wurden für dieses Training mehr als 226.000 annotierte Audiodateien mit Vogelrufen und zusätzlich rund 19.000 Aufnahmen menschlicher Geräusche und vieler Umweltgeräusche verwendet, die es auf eine Gesamtdauer von fast 4.000 Stunden brachten ( Wood et al. 2022). Erst auf Grundlage solch immenser Datenmengen können KI-Systeme trainiert, angepasst und überprüft werden.

Schon für die Erhebung der Trainingsdaten wurden in beiden Beispielen eigene Smartphone-Apps eingesetzt. Im Rahmen des Flora-Incognita-Projekts wurde die Flora-Capture-App für die Erhebung strukturierter Trainingsbilder entwickelt ( Boho et al. 2020). Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nehmen damit nach einem vordefinierten Protokoll Pflanzenbilder auf und senden diese an die botanischen Expertinnen und Experten des Projektteams. Alle Bilder werden manuell von den Fachleuten nachbestimmt und anschließend für die automatische Bestimmung der Flora-Incognita-App bereitgestellt. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass auf die Qualität der Trainingsdaten schon bei deren Erhebung Einfluss genommen werden kann. Dabei hat sich herausgestellt, dass weniger die Aufnahme von Bildern und Audiomitschnitten ein limitierender Faktor war als vielmehr die Nachbestimmung und Kontrolle der eingereichten Ergebnisse durch Expertinnen und Experten. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit der Taxonominnen und Taxonomen mit den KI-Entwicklerinnen und -Entwicklern von großer Bedeutung.

Für viele KI-Anwendungsfelder ist der Einsatz von Smartphone-Apps für das Generieren von Trainingsmaterial auf Grund fehlender Methoden und Infrastrukturen jedoch nicht geeignet. Als alternative Datengrundlagen kommen z. B. Aufnahmen zur Arterfassung und Zählung für behördliche Monitoringprogramme, ehrenamtliche Beobachtungsdaten oder Bilder aus naturkundlichen Sammlungen und Herbarien in Frage.

3.2 Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit von KI-Systemen

Insbesondere tiefe künstliche neuronale Netze haben innerhalb weniger Jahre eine sehr hohe Genauigkeit beim Analysieren sehr großer Datenmengen erreicht. Auf Grund der komplexen Architektur dieser Modelle, bestehend aus vielen Millionen Parametern, ist es häufig nicht mehr möglich, alle Lösungswege nachzuvollziehen. Unter dem Stichwort „erklärbare KI“ werden gegenwärtig Verfahren entwickelt, um die Ergebnisse von ML nachvollziehbarer zu machen ( Barredo Arrieta et al. 2020). Einerseits bauen diese Methoden auf KI-Modelle, die durch ihre Architektur Nachvollziehbarkeit gewährleisten. Andererseits sind so genannte Post-hoc-Ansätze verbreitet, bei denen bspw. visualisiert wird, wie stark einzelne Pixel oder Bereiche eines Bilds zum Klassifizierungsergebnis beigetragen haben. Dabei wird visualisiert, ob z. B. ein spezifisches Muster des Gefieders zur Artbestimmung eines Vogels beigetragen hat.

Neben der Erklärbarkeit ist auch die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse eine Herausforderung. In der Wissenschaft gibt es daher in jüngerer Zeit Ansätze für verbesserte Dokumentationsstandards ( Pineau 2020). Eine nachvollziehbare Dokumentation von Methoden und Trainingsdaten ist auch für die in der Entwicklung befindlichen KI-Systeme im Naturschutz anzustreben, denn Transparenz und Nachvollziehbarkeit sind grundlegende Voraussetzungen, um den rechtssicheren und fairen Einsatz von KI-Systemen zu gewährleisten.

3.3 KI-Systeme für Naturschutzbehörden und -organisationen

Wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung von KI-Systemen, insbesondere für Naturschutzorganisationen sowie -behörden, sind ausreichende personelle und organisatorische Ressourcen. Aber auch das gegenseitige, interdisziplinäre Verständnis für die naturschutzfachlichen Fragestellungen auf der einen und für die technischen Möglichkeiten auf der anderen Seite ist von hoher Bedeutung.

Der praktische Nutzen von KI-Systemen für Naturschutzbehörden hängt weiterhin davon ab, ob Dateninfrastrukturen und Arbeitsabläufe so angepasst werden, dass eine Einbindung in das Verwaltungshandeln möglich ist. Dies umfasst neben der Verfügbarkeit geeigneter Daten auch das Verständnis für die notwendigen Entwicklungs- und Wartungszyklen solcher Systeme. Bislang sind die meisten KI-Systeme im Naturschutz noch auf dem Stand von Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Um sie von Prototypen in den langfristigen Einsatz in Naturschutzorganisationen oder -behörden zu überführen, ist eine Weiterentwicklung nötig, die neue Strukturen und Finanzierungsmöglichkeiten erfordert. Erste Ansätze dafür bieten das neue KI-Labor im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und die KI-Ideenwerkstatt für Umwelt- und Naturschutz ( BMUV 2021). Vor dem verbreiteten Einsatz von KI-Systemen muss auch die Frage geklärt werden, welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um für rechtlich verankerte Aufgaben überhaupt eingesetzt werden zu können.

Große Potenziale stecken in der Nutzung von KI-Angeboten als so genannte Webservices. Über standardisierte Schnittstellen (application programming interfaces, API) können z. B. automatische Bestimmungsangebote für unterschiedliche Anwendungsbereiche zur Verfügung gestellt werden. So ist es bereits möglich, dass Meldeportale die eingehenden Fundmeldungen automatisch klassifizieren. Weiterhin können KI-basierte Artbestimmungsangebote direkt in mobile Kartierungs- und Informationsanwendungen eingebunden werden.

3.4 Definition sozial-ethischer, ökonomischer und umweltbezogener Leitprinzipien

Der bereits heute absehbare breite Einsatz von ML im Naturschutz macht es notwendig, sozial-ethische, ökonomische und umweltbezogene Leitprinzipien für die Nutzung dieser Anwendungen zu definieren. Auf europäischer Ebene wird derzeit an einer KI-Verordnung gearbeitet, die einen einheitlichen Rechtsrahmen in der Europäischen Union schaffen soll. Einen ersten Ansatz zur ganzheitlichen Bewertung der Nachhaltigkeit von KI-Projekten haben Rohde et al. (2021) veröffentlicht. Zusammenfassen lassen sich die Diskussionsfelder rund um die Leitprinzipien des KI-Einsatzes unter den Stichworten nachhaltige oder grüne KI, erklärbare KI sowie vertrauenswürdige und verantwortliche KI ( Schwartz et al. 2019; Wearn et al. 2019; Barredo Arrieta et al. 2020). Hinter diesen Stichworten verbergen sich Initiativen und Ansätze, um den wichtigsten Herausforderungen und Risiken von KI-Systemen zu begegnen ( Schneider et al. 2023).

4 Ausblick

In naher Zukunft wird ML die Arbeit im Naturschutz so selbstverständlich unterstützen, wie es heute bereits statistische Methoden und Modelle tun. KI-Technik kann und wird das menschliche Urteilsvermögen dabei nicht ersetzen. Erfahrene Taxonominnen und Taxonomen werden weiterhin die Grundsäule der Biodiversitätserfassung bilden. Angesichts der großen Komplexität sozioökologischer Systeme und der verstärkten menschlichen Einflüsse auf Natur und Landschaften braucht der Naturschutz zunehmend leistungsfähige digitale Werkzeuge, um Zustände zu dokumentieren, Vorhersagen zu treffen und Ökosysteme auf nachhaltige Weise nutzen und schützen zu können. Insbesondere der schnelle Wandel, z. B. durch intensive Land- und Meeresnutzung, macht es erforderlich, schnell und regelmäßig ein Bild vom Zustand eines Schutzguts zu bekommen, Handlungsbedarfe zu identifizieren und notwendige Schritte zu koordinieren. Aber auch bei der Erschließung so genannter Altdaten und der Bestände in Naturkundemuseen oder privaten Sammlungen wird ML einen großen Beitrag leisten.

Damit diese Potenziale von KI wirksam genutzt werden können, ist es notwendig, die Entwicklung solcher Anwendungen und den Naturschutz enger miteinander zu verzahnen. Die Ergebnisse dieser kooperativen Arbeit sollten dann gemeinwohlorientiert anwendbar gemacht werden – für Naturschutzverbände, Fachgesellschaften und Behörden gleichermaßen. Neben der Forschungsförderung werden dafür gegenwärtig neue Strukturen aufgebaut, bspw. KI-Labore, Ideenwerkstätten, Kompetenzzentren und Kooperationsnetzwerke wie das der Unlikely Allies.

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Dr. Christian Schneider

Korrespondierender Autor

Bundesamt für Naturschutz

Fachgebiet I 1.1

„Strategische Digitalisierung in Natur und Gesellschaft“

Alte Messe 6

04103 Leipzig

E-Mail: christian.schneider@bfn.deDer Autor studierte Geographie und Biologie an der Universität Leipzig sowie „Environmental Science“ am Arava Institute for Environmental Science (AIES) im Kibbutz Ketura in Israel. Er schrieb seine Promotion in den Themenfeldern Bodenkunde und Agrarökologie und arbeitete parallel als Gutachter für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH. Es folgten Stationen am Umweltbundesamt (UBA) sowie dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Gegenwärtig leitet Christian Schneider das Fachgebiet „Strategische Digitalisierung in Natur und Gesellschaft“ am Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Leipzig.

NuL_06_07_2023_Schneider_Vita.jpg

Dr. Jana Wäldchen

Max-Planck-Institut für Biogeochemie

Abteilung Biogeochemische Integration

Hans-Knöll-Straße 10

07743 Jena

E-Mail: jwald@bgc-jena.mpg.de

Prof. Dr.-Ing. Patrick Mäder

Technische Universität Ilmenau

Data-intensive Systems and Visualization (dAI.SY)

Fakultät für Informatik und Automatisierung

Helmholtzplatz 5 (Zusebau)

98693 Ilmenau

und

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für Ökologie und Evolution

E-Mail: patrick.maeder@tu-ilmenau.de

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