Christian Schneider, Jana
Wäldchen und Patrick Mäder
Zusammenfassung
In absehbarer Zukunft könnte künstliche Intelligenz (KI) die Arbeit im Naturschutz so selbstverständlich unterstützen, wie es
heute bereits Geoinformationsverarbeitung sowie statistische Methoden oder Modelle tun. Gegenwärtig befinden sich die meisten
KI-Systeme aber noch im Forschungs- und Entwicklungsstadium. Sie müssen gezielt in Anwendungen von Behörden oder
Naturschutzorganisationen überführt werden, um sie weitreichend zugänglich zu machen. Die breiteste Anwendung finden KI-Systeme
bislang in der automatisierten Erkennung von Arten sowie in der Fernerkundung. Vielversprechende Methoden gibt es aber auch im
Bereich der Modellierung, z. B. von Habitateignungen und Artverbreitungen. Bereits absehbar ist der Einsatz von KI-Systemen für
(halb)automatisierte Bewertungen, etwa von Aussterberisiken, sowie der Einsatz als Entscheidungsunterstützungssysteme. Über die
Diskussion bestehender Ansätze hinaus werden im zweiten Teil des Beitrags Rahmenbedingungen und Lösungsansätze für den
erfolgreichen Einsatz von KI-Systemen im Naturschutz zusammengefasst.
Naturschutz – maschinelles Lernen – künstliche Intelligenz (KI) – automatische Artenerkennung – Vorhersagemodelle – nachvollziehbare KI – ReproduzierbarkeitAbstract
In the foreseeable future, artificial intelligence (AI) will support nature conservation as naturally as geoinformation
processing, statistical methods or models already do today. At present, however, most AI systems are still in the research and
development stage. They need to be transferred into applications for government agencies or conservation organisations to make
them widely accessible. The broadest application of AI systems so far is in the field of (semi-)automated recognition of species
as well as in remote sensing. However, there are also promising methods in the field of habitat and species distribution
modelling. In the future, AI systems might also be commonly used for automated extinction risk assessments as well as for
automated decision support systems. The challenges and conditions for the use and development of AI systems in nature conservation
are outlined in the second part of the article.
Nature conservation – Machine learning – Artificial intelligence (AI) – Automated species identification – Prediction models – Explainable AI – ReproducibilityInhalt
1 Einleitung
Neben dem Klimawandel stellt der Verlust der biologischen Vielfalt eine der größten Bedrohungen für die Menschheit dar ( Cardinale et al. 2012). Gleichzeitig steht die Umsetzung des Naturschutzes vor großen
Herausforderungen. Angesichts multipler ökologischer und gesellschaftlicher Krisen steigt einerseits der Bedarf an räumlich und
zeitlich hoch aufgelösten Erhebungen des Zustands der Natur wie auch der Bedarf an wirkungsvollen Managementansätzen. Andererseits
lässt sich neben knappen Ressourcen beobachten, dass z. B. die Artenkenntnis zurückgeht und Spezialistinnen und Spezialisten zur
Erhebung von Daten über Natur und Landschaften weniger werden. Künstliche Intelligenz (KI) kann ein Baustein sein, um diesen
Herausforderungen zu begegnen.
KI beschreibt die Fähigkeit von Maschinen, basierend auf Algorithmen Aufgaben autonom auszuführen. Diese Fähigkeit kann auf
programmierten Abläufen beruhen oder durch maschinelles Lernen (ML) erzeugt werden. Bei ML-Verfahren lernt ein Algorithmus durch
Wiederholung, selbstständig eine Aufgabe zu erfüllen. Anders als bei herkömmlichen Algorithmen wird kein Lösungsweg modelliert. Der
Computer lernt selbstständig, die Struktur von Daten zu erkennen. In den vergangenen Jahren wurden im Bereich des ML enorme
Fortschritte gemacht. Die Hauptgründe für diese buchstäbliche „Explosion“ der Technik sind die Verfügbarkeit und das Zusammenspiel von
drei Dingen:
1. schnellere und leistungsfähigere Computerhardware, d. h. massiv-parallele Prozessoren und frei programmierbare
Grafikverarbeitungseinheiten (general purpose computation on graphics processing units, GP-GPU), 2. Software und Algorithmen, die sich diese Rechenarchitekturen zu Nutze machen, und
3. große Mengen verfügbarer Trainingsdaten, um unterschiedlichste Aufgaben anlernen zu können.
Grundlegende Begriffe im Bereich der KI sind in einem kurzen Glossar zusammengefasst (siehe
Kasten 1). ML-Verfahren werden heute bereits in unterschiedlichen Lebensbereichen und für vielfältige Anwendungen
eingesetzt:
Kasten 1: Glossar (verändert nach ZVKI 2022).
Künstliche Intelligenz (KI; engl. artificial intelligence – AI)
Teilgebiet der Informatik, das Methoden entwickelt, mit denen Computerprogramme oder Maschinen automatisiert Aufgaben erfüllen
sollen. Deswegen wird von verschiedenen KI-Methoden gesprochen, die in KI-Systemen angewendet werden, nicht von der einen
KI. Bisher fehlt eine einheitliche Definition für KI. In der Regel werden als KI aber insbesondere Methoden des maschinellen
Lernens bezeichnet. Die Diskussion und der Versuch einer übergreifenden Definition der Europäischen Kommission kann bei HEG-KI (2018) nachgelesen werden.
Maschinelles Lernen (ML; engl. machine learning – ML)
Grundlegende Methode im Bereich künstlicher Intelligenz. Bei diesem Verfahren programmieren die Entwicklerinnen und Entwickler
den Algorithmus, der eine Aufgabe lösen soll, nicht selbst. Stattdessen legen sie Zielvorgaben fest und bauen ein
Computerprogramm, das den besten Lösungsalgorithmus selbstständig findet. Unterschieden werden drei grundlegende Lernmethoden:
überwachtes Lernen, unüberwachtes Lernen und bestärkendes Lernen.
Künstliche neuronale Netze (KNN; engl. artificial neural networks – ANN)
Methode des maschinellen Lernens, die an Aufbau und Funktionen im Gehirn angelehnt ist. Daten werden dabei von verschiedenen
Knotenpunkten nacheinander verarbeitet. Die Knotenpunkte (Neuronen) sind wie ein Netz miteinander verbunden, was an den Aufbau des
menschlichen Gehirns mit seinen Nervenzellen erinnert. Die Daten durchlaufen einen vorgegebenen Pfad in diesem Netz. Der Pfad
bestimmt, welches Ergebnis das KI-System ausgibt. Abhängig von der Methode des maschinellen Lernens passt das System den Pfad
laufend an und gewichtet die einzelnen Verbindungen so, dass am Ende das gewünschte Ergebnis erzielt wird. Komplexe Aufgaben
können es erfordern, viele Schichten an Neuronen zu bauen. Dann ist die Rede von deep learning (siehe Eintrag „Tiefes
Lernen“).
Tiefes Lernen (auch: mehrschichtiges Lernen; engl. deep learning – DL)
Komplexe künstliche neuronale Netze, die mehr als drei Schichten künstlicher Neuronen umfassen. Der Begriff „deep“ bzw. „tief“
bezieht sich auf die Menge der Schichten künstlicher Neuronen. Mit jeder zusätzlichen Schicht erhöhen sich der Abstrahierungsgrad
des Systems und die Fähigkeit, komplexere Aufgaben zu bewältigen. Dazu gehört die Erkennung von Bildern. Gleichzeitig verstärkt
sich allerdings das Problem von künstlicher Intelligenz als Blackbox.
● Bilderkennung (computer vision): Mit diesen Algorithmen können Bilder erkannt und kategorisiert werden.
Maschinelles Sehen kommt u. a. in der medizinischen Diagnostik, beim autonomen Fahren oder auch bei der Erkennung von
Tier- und Pflanzenarten zum Einsatz. ● Audio- und Spracherkennung: Das Erkennen von Audiodaten kommt in Musikerkennungsprogrammen zum Einsatz. Im
Naturschutz basiert auf diesen Techniken bspw. die Arterkennung von Vögeln, Insekten oder marinen Säugetieren. ● Semantische Spracherkennung: Geschriebener oder gesprochener Text kann auch semantisch interpretiert werden,
was z. B. kontextbezogene Übersetzungsanwendungen oder interaktive Suchen erlaubt. Im Naturschutz können z. B.
die Inhalte historischer Aufzeichnungen erschlossen werden. ● Prozessoptimierung: Die erkannten Muster können auch als Informationsbasis für Optimierungsprozesse genutzt
werden. In der Industrie findet dies z. B. bei der so genannten predictive maintenance Anwendung, im Naturschutz bei der
Auswahl geeigneter Routen für Patrouillen in Nationalparks.
Der Grad der Anwendung von KI-Technologien ist in den verschiedenen Bereichen unterschiedlich ausgeprägt und konzentriert sich
aktuell auf Anwendungen der Technologiebranche und Industrie. Die Anwendung von KI-Technologien im Naturschutz und für die Erhaltung
der biologischen Vielfalt bleibt hinter Bereichen wie Gesundheit, Verkehr, Finanzen und Landwirtschaft (vgl. Kasten 2) zurück. Studien zeigen jedoch das große Potenzial von KI-Anwendungen im
Naturschutz. Zahlreiche Projekte und Forschungsvorhaben widmen sich gegenwärtig der Frage, wie die Potenziale von KI zukünftig für
Naturschutzverbände, Fachgesellschaften und Behörden gemeinwohlorientiert nutzbar gemacht werden können (vgl. Abb. 1). In diesem Beitrag zeigen wir, in welchen Bereichen des Naturschutzes KI-Technologien
bereits zum Einsatz kommen, welche Schwierigkeiten für andere Anwendungen gelöst werden müssen und welche Entwicklungsschritte in der
nächsten Zeit zu erwarten sind.
Kasten 2: Praktische Anwendung der Digitalisierung als Chance für mehr Biodiversität in der
Landwirtschaft.
Box 2: Practical application of digitisation as an opportunity for more biodiversity in agriculture.
1 Einleitung
Digitalisierung hat bereits seit vielen Jahren Einzug in die Landwirtschaft gehalten. Sie dient dort der Optimierung von
Prozessen und Abläufen, kann aber auch zum Schutz der Umwelt und zur Erhaltung von Biodiversität beitragen. In den letzten Dekaden
hat sich die Entwicklung digitaler Lösungen für praktische Anwendungen und zur Förderung von Biodiversität in der Landwirtschaft
auch durch den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) beschleunigt. Digitalisierung wird aber nur zu nennenswerten
Erfolgen beitragen können, wenn sie sinnvoll in den notwendigen Strukturwandel der Landwirtschaft einbezogen wird. Nachfolgend
wird exemplarisch eine Auswahl von Digitalisierungsprojekten, u. a. mit KI-Bezug, diskutiert.
2 Managementsysteme
In einem vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. koordinierten Projekt wird die NatApp entwickelt. Sie
unterstützt Betriebe bei der Umsetzung von deren Naturschutzmaßnahmen und verringert zugleich den Bürokratieaufwand für
Landwirtinnen und Landwirte sowie Behörden ( ZALF 2021). Mit der NatApp haben
Landwirtinnen und Landwirte ein Werkzeug, das die Beantragung, Umsetzung und Dokumentation von Naturschutzmaßnahmen deutlich
vereinfacht. Die App informiert u. a. zu Möglichkeiten der Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen und erleichtert die
Flächenanlage mit Hilfe eines integrierten Global-Positioning-System(GPS)-Tools. Mittels App können die Betriebe die
durchgeführten Maßnahmen automatisch und rechtssicher dokumentieren. Da die deutsche Gesetzgebung künftig eine digitale
Dokumentation von Pflanzenschutzmaßnahmen vorsieht, werden die NatApp und vergleichbare Lösungen voraussichtlich deutlich
wachsende Nutzerzahlen aufweisen.
3 Sensorsysteme für Traktor-Implement-Kombinationen
Die PREMOSYS GmbH hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Landtechnik der Universität Bonn ein Sensorarray zur gezielten
und effizienten Pflanzenerkennung entwickelt ( Kuhl, Faber 2020). Das System dient
zur Erkennung von Grünpflanzen auf Freiflächen sowie zur Identifizierung von Unkräutern im Pflanzenbestand, um Herbizide direkt
und punktuell ausbringen zu können. Möglich ist zudem die gezielte Anwendung alternativer mechanischer oder thermischer Verfahren.
Es lässt sich auch der bedarfsgerechte Einsatz von Düngemitteln steuern. Unter Verwendung von KI-Ansätzen zur Einordnung erfasster
Pflanzen detektiert das System bei Fahrgeschwindigkeiten von bis zu 25 km/h bereits Blattgrößen von 1 cm². Wirkstoffe werden
dadurch nur noch auf den detektierten Unkrautpflanzen ausgebracht. Bis zu 90 % der Herbizide können so eingespart werden.
4 Nichtchemische Unkrautbekämpfung
Die Frage, wie gänzlich auf Herbizide verzichtet werden kann, stand beim Projekt NUBELA des Laser Zentrums Hannover im Fokus
( Wollweber et al. 2022). Zentraler Ansatzpunkt war es, Unkräuter zu erkennen und
durch gezielte Laserimpulse auf deren Wachstumszentrum zu dezimieren. Zur Erkennung, Zielermittlung und Prozessüberwachung wurde
geeignete Detektionstechnik in Form von Rot-Grün-Blau(RGB) Farb-Kameras, Light-Detection-and-Ranging(LiDAR)-Sensorik und
Beleuchtungseinheiten implementiert. Auf Basis verschiedener Bilddatensätze wurde ein künstliches neuronales Netz trainiert, um
Unkräuter zu klassifizieren. Der entwickelte Felddemonstrator konnte unter Realbedingungen erfolgreich zur Unkrautregulierung in
einem landwirtschaftlichen Gemüseanbaubetrieb getestet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse schaffen ideale Voraussetzungen, um die
Lasertechnik für ein automatisiertes und selbstlernendes Unkrautmanagement in unterschiedlichsten Agrarfahrzeugen zu integrieren
und so zukünftig als Alternative zu herkömmlichen Unkrautbekämpfungsverfahren zu etablieren.
5 Ausblick
Die vorgenannten Projekte sind Beispiele der voranschreitenden Digitalisierung für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft.
Sie bringen dabei nicht nur ökologische Vorteile, die Technologien lassen sich auch ökonomisch wirksam in die Arbeitsprozesse der
Landwirtschaft integrieren.
Mit Blick auf andere Domänen (z. B. Industrie 4.0) wird zudem auch in der Landwirtschaft eine Vernetzung der Systeme in den
nächsten Jahren immer relevanter (IEEE Xplore). Landmaschinenanbieter stellen bspw. eigene Plattformen ( John Deere, Fendt, AMAZONEN-WERKE) zur Verwaltung eines digitalen Zwillings (d. h. eines virtuellen Abbilds)
für Landmaschinen oder zur Vernetzung ihrer Produktpaletten bereit. Verschiedene herstellerübergreifende Projekte und Initiativen
haben sich das Ziel eines nahtlosen Informationsaustauschs gesetzt( Precision Farming
Dealer). KI bzw. maschinelles Lernen kann dabei die technologische Grundlage für die Implementierung neuer
agronomischer Dienste in einer digital vernetzten Systemlandschaft bilden. Projekte wie Gaia-X bzw. dessen Ableger Agri-Gaia (Agri-Gaia) und insbesondere Nachhaltige Landwirtschaft mit Künstlicher
Intelligenz ( NaLamKI) adressieren bereits eine digitale Vernetzung. Anhand zu
entwickelnder KI-basierter technischer Dienste soll auch aufgezeigt werden, welche ökologischen Optimierungspotenziale in einer
zunehmend vernetzten Landwirtschaft liegen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit diese Möglichkeiten in der Realität wirklich
ausgeschöpft bzw. in der Gesetzgebung gefordert werden.
6 Literatur
↑
Kuhl M., Faber B. (2020): Abschlussbericht „Multispektrales Sensorarray zur Pflanzenerkennung“. PREMOSYS GmbH. Kalenborn:
29 S.
↑
Wollweber M., Meier O. et al. (2022): Abschlussbericht „Nichtchemische Unkrautbekämpfung mittels Laserstrahlung in der Pflanzenproduktion
NUBELA“. Laser Zentrum Hannover e. V. Hannover: 31 S.
↑
ZALF/Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung e. V. (2021): „Naturschutz-App“ in der
Entwicklung: Naturschutzmaßnahmen in der Landwirtschaft digital vereinfachen. Pressemitteilung. https://www.zalf.de/de/aktuelles/Seiten/Pressemitteilungen/Naturschutzma%C3%9Fnahmen_digital.aspx (aufgerufen am
28.9.2022).
7 Weiterführende Quellen im Internet
↑
Agri-Gaia, Agrotech Valley Forum e. V. (2022): https://www.agri-gaia.de (aufgerufen am 28.9.2022).
↑
AMAZONEN-WERKE H. DREYER SE & Co. KG, myAMAZONE (2022): https://amazone.de/de-de/myamazone (aufgerufen am
28.9.2022).
↑
Deere & Company, MyJohnDeere (2022): https://myjohndeere.deere.com/mjd/my/login (aufgerufen
am 28.9.2022).
↑
FENDT, FendtONE (2022): https://www.fendt.com/de/smart-farming/fendtone (aufgerufen am 28.9.2022).
↑
NaLamKI, Technische Universität Kaiserslautern (2022): https://nalamki.de/#/LandingPage (aufgerufen am
28.9.2022).
↑
Precision Farming Dealer (2022): https://www.precisionfarmingdealer.com/articles/5161-aef-developing-agriculture-interoperability-network-to-simplify-data-sharing
(aufgerufen am 28.9.2022).
↑
Weinert B., Uslar M. (2020): Challenges for System of Systems in the agriculture application domain. 15th International
Conference of System of Systems Engineering (SoSE). Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE). Budapest:
355 – 360. DOI: 10.1109/SoSE50414.2020.9130552
Autoren
Dr. Benjamin Weinert
Dr. Reinhard Stock
Deutsche Bundesstiftung Umwelt
An der Bornau 2
49090 Osnabrück
E-Mail: b.weinert@dbu.de
Prof. Dr. Markus Große Ophoff
DBU Zentrum für Umweltkommunikation
An der Bornau 2
49090 Osnabrück
E-Mail: m.grosse-ophoff@dbu.de
Abb. 1: Beispielhafte Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu Anwendungsfeldern von künstlicher Intelligenz (KI) im
Naturschutz (WKA = Windkraftanlagen, Quellennachweise in Abschnitt A im Online-Zusatzmaterial).
Fig. 1: Artificial intelligence (AI) research and development projects for nature conservation (WKA = wind power plant,
source references in chapter A in the
online supplementary material).
2 Anwendungsfelder
2.1 Erfassung von Organismen, Biodiversität und Landbedeckung
Die großflächige systematische Erfassung der biologischen Vielfalt ist eine große Herausforderung, da ein angemessenes Monitoring
kosten- und zeitintensiv ist und darüber hinaus ein umfangreiches taxonomisches Wissen erfordert. Vielversprechende Ansätze zur
zukünftigen Unterstützung des Monitorings ergeben sich durch halb- und vollautomatische Datenerhebungs- und Auswertungsmethoden, die
eine hohe räumliche Abdeckung aufweisen und aussagekräftige Zeitreihen ermöglichen.
Jüngste Fortschritte in der Sensortechnologie erhöhen die Kapazität der Datenerfassung im Naturschutzbereich drastisch. Mit der
breiten Verfügbarkeit automatischer Erfassungssysteme wie Kamerafallen, Telemetriedaten oder akustischer Sensoren werden Ökologinnen
und Ökologen zunehmend in die Lage versetzt, in kurzer Zeit und über große räumliche Skalen umfangreiche Datenmengen zu erheben. Die
Extraktion relevanter Informationen aus solchen immensen Datensätzen stellte in den letzten Jahren eine große Aufgabe dar, da eine
manuelle Identifizierung und Klassifizierung zur Analyse der Daten nötig waren. Als Beispiel sei auf eine Studie zur Aktivität von
Wildschweinen im Biosphärenreservat Schaalsee verwiesen ( Reinke et al. 2021). Dafür
wurden in zwei Monaten mehr als 45.000 Fotos von rund 50 Kamerafallen aufgenommen, die sehr zeitaufwändig manuell ausgewertet wurden.
Erkennung und Zählung von Seevögeln in Befliegungsvideos für das marine Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Monitoring werden gegenwärtig
ebenfalls mit großem Aufwand manuell durchgeführt. Die Analyse entsprechender Datensätze kann durch ML deutlich erleichtert werden.
Durch die KI-Methoden werden zugleich neue Untersuchungsdesigns möglich, die noch weitaus umfänglicher von Sensoren Gebrauch machen
können.
Maschinelles Lernen und im Speziellen tief lernende neuronale Netze werden gegenwärtig bereits intensiv zur bildbasierten
Bestimmung von Tieren ( Tabak et al. 2019) und Pflanzen ( Barre et al. 2017; Rzanny et al. 2021)
verwendet. Auch bei der automatischen Bestimmung von Vogelrufen oder dem Gesang von Meeressäugern werden ML-Methoden erfolgreich
eingesetzt ( Goodwin et al. 2022; Wood et al.
2022; Frommolt 2023 in dieser Ausgabe). Darüber hinaus liefern erste
Experimente vielversprechende Ergebnisse für die Identifizierung von Arten aus Satelliten-, Luft- und Drohnenbildern mittels tief
lernender neuronaler Netze ( Schiefer et al. 2020;
Feilhauer, Faude 2023 in dieser Ausgabe). Auf diesem Weg wurden bereits Bäume und Feldfrüchte bestimmt, Habitate
klassifiziert und zunehmend auch ökologische Eigenschaften von Landschaftsausschnitten abgeleitet (
Neumann 2020). Auch im Bereich der automatischen Erkennung von Insekten liegen vielversprechende Ergebnisse vor
( Van Klink et al. 2022). Abb. 2 gibt
einen Überblick über Artengruppen, die bereits mit KI über unterschiedliche räumliche Skalen automatisch erkannt werden. Ein Großteil
der genannten KI-Systeme befindet sich allerdings noch im Forschungs- und Entwicklungsstadium und muss erst in Anwendungen für
Behörden oder Naturschutzorganisationen überführt werden, um weitreichend zugänglich zu werden.
Abb. 2: Beispiele für Artengruppen, die mit Systemen der künstlichen Intelligenz (KI) auf unterschiedlichen Plattformen
und räumlichen Skalen automatisiert erkannt werden können (Quellennachweise in Abschnitt B im Online-Zusatzmaterial).
Fig. 2: Examples of groups of species that can be automatically detected using artificial intelligence (AI) systems on
different platforms and spatial scales (source references in chapter B in the
online supplementary material).
Breite Anwendung findet die KI-basierte Artbestimmung in bürgerwissenschaftlichen Projekten (Citizen Science). So nutzt
z. B. die Flora-Incognita-App für die automatische Pflanzenerkennung neueste Ansätze des ML und erlaubt eine leichte
und sichere Pflanzenbestimmung auch für Menschen mit geringem oder keinem taxonomischen Vorwissen. Durch die weite Verbreitung in der
Bevölkerung ist es damit möglich, in Echtzeit Pflanzenvorkommen in einem noch nie dagewesenen Umfang zu dokumentieren ( Mahecha et al. 2021). Ein anderes Beispiel ist die BirdNET-App. Sie erlaubt eine automatische
Bestimmung von Vogelarten anhand akustischer Aufnahmen ihrer Rufe. Auch mit dieser App werden im Rahmen von Citizen Science große
Datenmengen generiert, die einen wichtigen Beitrag zum Vogelmonitoring liefern können ( Wood et al.
2022; Frommolt 2023 in dieser Ausgabe). Die Stärke dieser Projekte liegt
in kontinuierlichen Langzeitaufnahmen mit großer zeitlicher und örtlicher Auflösung über eine Vielfalt von Arten. Bereits im Einsatz
bzw. kurz vor der Einführung befinden sich visuelle Systeme zur Identifikation von Vogelarten in der Nähe von Windkraftanlagen, z. B.
IdentiFlight oder BirdRecorder. Sie sind eine wichtige Voraussetzung, um Anlagen beim Anflug schlaggefährdeter Vögel automatisch und
bedarfsorientiert abschalten zu können. In der Schweiz wurden im behördlichen Kontext bereits vortrainierte künstliche neuronale Netze
zur Erkennung invasiver Arten entlang von Autobahnen eingesetzt ( Nobis et al.
2020).
2.2 Vorhersagemodelle
Ökologie und Naturschutz benötigen genaue Vorhersagemodelle, um die komplexen Prozesse der Natur zu verstehen und Prognosen für
eine sich verändernde Umwelt zu erstellen. Neben den traditionellen prozessbasierten Modellen stehen dafür bereits seit Längerem
ML-Verfahren zur Verfügung. Methoden wie der Random-forest-Ansatz haben sich in diesem Zusammenhang als sehr geeignet und robust
erwiesen ( Marx, Quillfeldt 2018). Sie liegen zahlreichen Habitateignungs- und
Artverbreitungsmodellen zu Grunde. Diese Modelle können dabei helfen, Räume für potenzielle Vorkommen und die Habitatanforderungen von
Arten zu beschreiben und vorherzusagen. Beispielhaft sei dafür auf eine Studie zum Vorkommen der Turteltaube (Streptopelia
turtur) in Deutschland verwiesen ( Marx, Quillfeldt 2018). In einem weiteren
Beispiel modellierten die Autorinnen und Autoren die Zusammensetzung der Habitate von 16 Säugetierarten innerhalb eines Schutzgebiets
auf unterschiedlichen Skalenebenen ( Searle et al. 2022). Auch für die Vorhersage von
Vorkommen invasiver Arten wird ML – häufig in Verbindung mit Fernerkundung – bereits in der Praxis eingesetzt ( Schulze-Brüninghoff et al. 2021).
Trotz der fortlaufenden Methodenentwicklung sind die Möglichkeiten, Veränderungen in Raum und Zeit vorherzusagen, aktuell
auf Grund der Komplexität von Ökosystemen noch überaus rudimentär. Neben vielen weiteren Entwicklungen auf dem Feld
der ökologischen Modellierung gelten tiefe künstliche neuronale Netze als vielversprechend, um komplexe ökologische Dynamiken
abzubilden und vorherzusagen. In ersten Studien haben sich die so genannten faltenden neuronalen Netze (engl. convolutional neural
networks, CNN) als besonders geeignet für räumliche Fragestellungen erwiesen ( Estopinan et al.
2022). Das Autorenteam Rammer, Seidel (2019) veröffentlichte z. B. ein CNN
und die Trainingsdaten, mit denen sie die Ausbreitung von Borkenkäfern im Nationalpark Bayerischer Wald auf unterschiedlichen
räumlichen und zeitlichen Skalen vorhersagen konnten. In einer Studie aus Frankreich nutzten Deneu
et al. (2021) künstliche neuronale Netze zur landesweiten Artverbreitungsmodellierung mit einem besonderen Fokus auf dem
Einfluss lokaler Landschaftsstrukturen. Die Vorhersage zeitlicher Dynamiken stellt die genannten Verbreitungs- und Habitatmodelle noch
immer vor große Herausforderungen. Der Blick auf die KI-Forschung jenseits des Naturschutzes zeigt, dass so genannte rekurrente
neuronale Netze (engl. recurrent neural networks, RNN) gut für die Analyse zeitlicher Dimensionen oder Abfolgen, also sequenzieller
Daten, geeignet sind. Sie werden zur Auswertung von Zeitreihen, Genomen oder Textinhalten verwendet und rücken inzwischen auch in der
Ökologie in den Fokus. Mit Blick auf verbesserte Artverbreitungsmodelle schlagen Estopinan et al.
(2022) eine hybride Modellarchitektur, bestehend aus CNN und RNN, vor. Insbesondere angesichts der anwachsenden
Zeitreihen von Fernerkundungsdaten sehen sie darin ein wichtiges Forschungsfeld für die Zukunft.
2.3 Empfehlungs- und automatisierte Steuerungssysteme
KI-Anwendungen können nicht nur bei der Datenerfassung und bei der Vorhersage von Entwicklungen einen Beitrag für den Naturschutz
leisten, sondern auch Entscheidungsprozesse unterstützen. In Projekten wie FutureForest oder ChESS werden gegenwärtig KI-gestützte
Entscheidungshilfesysteme z. B. für nachhaltiges Forstmanagement oder zur Erkennung von Anomalien in marinen Ökosystemen entwickelt.
In einer kürzlich veröffentlichten Studie wurde zudem eine KI-Anwendung für die systematische Naturschutzplanung vorgestellt ( Silvestro et al. 2022). Darin wird das System für die räumliche Priorisierung von
Naturschutzgebieten eingesetzt. Basierend auf Simulationsdaten zur zeitlichen und räumlichen Entwicklung der Biodiversität infolge
anthropogener und klimatischer Einflüsse wurden Reinforcement-learning(RL)-Algorithmen entwickelt, um den Kompromiss zwischen Kosten
und Nutzen eines Schutzgebiets und der biologischen Vielfalt zu quantifizieren ( Silvestro et al.
2022). Eine weitere Studie nutzt tiefe neuronale Netze, um die Schutzwürdigkeit von 13.910 Orchideenarten zu bewerten.
Die meisten dieser Arten (13.049) waren bisher nicht von der Weltnaturschutzunion (International Union for Conservation of Nature,
IUCN) bewertet worden und können nun erstmalig in Empfehlungen einbezogen werden ( Zizka et al.
2021).
KI-gestützte Bewertungs- und Entscheidungshilfen sind im behördlichen Naturschutz in Deutschland bislang noch nicht im Einsatz.
Allerdings werden gegenwärtig die Möglichkeiten dieser Systeme bspw. zur Unterstützung der Bekämpfung des illegalen Wildtierhandels im
Internet evaluiert. Im internationalen Rahmen wird ML bereits von Behörden und Nichtregierungsorganisationen eingesetzt, bspw. zur
Planung von Patrouillen in Schutzgebieten, zur Überprüfung industrieller Umweltauflagen oder zur Unterstützung bei der Bekämpfung von
Waldbränden ( Fang et al. 2019).
3 Herausforderungen
3.1 Expertenwissen für die Erstellung von Trainingsdaten
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Einsatz von ML ist das Vorliegen großer und für die Fragestellungen passender
Datensätze. Diese müssen aufwändig annotiert werden, damit sie als Trainingsdatensätze genutzt werden können. Bildausschnitte oder
spezifische Muster in Sensordaten werden dafür identifiziert und mit maschinenlesbaren Markierungen (Labels) versehen. Auf diesem Weg
müssen riesige Datenbestände manuell bearbeitet und bspw. Artnamen zugeordnet werden. Zum Training des Flora-Incognita-Klassifikators
zur Bestimmung von Pflanzen wurden mehr als eine Million Bilder manuell annotiert (
Mäder, Boho et al. 2021). Für das Training einer älteren Version des BirdNET-Modells waren mindestens
500 Audiomitschnitte pro Vogelart notwendig. Insgesamt wurden für dieses Training mehr als 226.000 annotierte Audiodateien mit
Vogelrufen und zusätzlich rund 19.000 Aufnahmen menschlicher Geräusche und vieler Umweltgeräusche verwendet, die es auf eine
Gesamtdauer von fast 4.000 Stunden brachten ( Wood et al. 2022). Erst auf Grundlage solch
immenser Datenmengen können KI-Systeme trainiert, angepasst und überprüft werden.
Schon für die Erhebung der Trainingsdaten wurden in beiden Beispielen eigene Smartphone-Apps eingesetzt. Im Rahmen des
Flora-Incognita-Projekts wurde die Flora-Capture-App für die Erhebung strukturierter Trainingsbilder entwickelt ( Boho et al. 2020). Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nehmen damit nach einem
vordefinierten Protokoll Pflanzenbilder auf und senden diese an die botanischen Expertinnen und Experten des Projektteams. Alle Bilder
werden manuell von den Fachleuten nachbestimmt und anschließend für die automatische Bestimmung der Flora-Incognita-App
bereitgestellt. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass auf die Qualität der Trainingsdaten schon bei deren Erhebung Einfluss genommen
werden kann. Dabei hat sich herausgestellt, dass weniger die Aufnahme von Bildern und Audiomitschnitten ein limitierender Faktor war
als vielmehr die Nachbestimmung und Kontrolle der eingereichten Ergebnisse durch Expertinnen und Experten. Deshalb ist eine enge
Zusammenarbeit der Taxonominnen und Taxonomen mit den KI-Entwicklerinnen und -Entwicklern von großer Bedeutung.
Für viele KI-Anwendungsfelder ist der Einsatz von Smartphone-Apps für das Generieren von Trainingsmaterial auf Grund fehlender
Methoden und Infrastrukturen jedoch nicht geeignet. Als alternative Datengrundlagen kommen z. B. Aufnahmen zur Arterfassung und
Zählung für behördliche Monitoringprogramme, ehrenamtliche Beobachtungsdaten oder Bilder aus naturkundlichen Sammlungen und Herbarien
in Frage.
3.2 Nachvollziehbarkeit und Reproduzierbarkeit von KI-Systemen
Insbesondere tiefe künstliche neuronale Netze haben innerhalb weniger Jahre eine sehr hohe Genauigkeit beim Analysieren sehr
großer Datenmengen erreicht. Auf Grund der komplexen Architektur dieser Modelle, bestehend aus vielen Millionen Parametern, ist es
häufig nicht mehr möglich, alle Lösungswege nachzuvollziehen. Unter dem Stichwort „erklärbare KI“ werden gegenwärtig Verfahren
entwickelt, um die Ergebnisse von ML nachvollziehbarer zu machen ( Barredo Arrieta et al.
2020). Einerseits bauen diese Methoden auf KI-Modelle, die durch ihre Architektur Nachvollziehbarkeit gewährleisten.
Andererseits sind so genannte Post-hoc-Ansätze verbreitet, bei denen bspw. visualisiert wird, wie stark einzelne Pixel oder Bereiche
eines Bilds zum Klassifizierungsergebnis beigetragen haben. Dabei wird visualisiert, ob z. B. ein spezifisches Muster des Gefieders
zur Artbestimmung eines Vogels beigetragen hat.
Neben der Erklärbarkeit ist auch die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse eine Herausforderung. In der Wissenschaft gibt es daher in
jüngerer Zeit Ansätze für verbesserte Dokumentationsstandards ( Pineau 2020). Eine
nachvollziehbare Dokumentation von Methoden und Trainingsdaten ist auch für die in der Entwicklung befindlichen KI-Systeme im
Naturschutz anzustreben, denn Transparenz und Nachvollziehbarkeit sind grundlegende Voraussetzungen, um den rechtssicheren und fairen
Einsatz von KI-Systemen zu gewährleisten.
3.3 KI-Systeme für Naturschutzbehörden und -organisationen
Wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung von KI-Systemen, insbesondere für Naturschutzorganisationen sowie -behörden, sind
ausreichende personelle und organisatorische Ressourcen. Aber auch das gegenseitige, interdisziplinäre Verständnis für die
naturschutzfachlichen Fragestellungen auf der einen und für die technischen Möglichkeiten auf der anderen Seite ist von hoher
Bedeutung.
Der praktische Nutzen von KI-Systemen für Naturschutzbehörden hängt weiterhin davon ab, ob Dateninfrastrukturen und Arbeitsabläufe
so angepasst werden, dass eine Einbindung in das Verwaltungshandeln möglich ist. Dies umfasst neben der Verfügbarkeit geeigneter Daten
auch das Verständnis für die notwendigen Entwicklungs- und Wartungszyklen solcher Systeme. Bislang sind die meisten KI-Systeme im
Naturschutz noch auf dem Stand von Forschungs- und Entwicklungsprojekten. Um sie von Prototypen in den langfristigen Einsatz in
Naturschutzorganisationen oder -behörden zu überführen, ist eine Weiterentwicklung nötig, die neue Strukturen und
Finanzierungsmöglichkeiten erfordert. Erste Ansätze dafür bieten das neue KI-Labor im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und die KI-Ideenwerkstatt für Umwelt- und Naturschutz ( BMUV 2021). Vor dem verbreiteten Einsatz von KI-Systemen muss auch die Frage geklärt werden,
welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um für rechtlich verankerte Aufgaben überhaupt eingesetzt werden zu können.
Große Potenziale stecken in der Nutzung von KI-Angeboten als so genannte Webservices. Über standardisierte Schnittstellen
(application programming interfaces, API) können z. B. automatische Bestimmungsangebote für unterschiedliche Anwendungsbereiche zur
Verfügung gestellt werden. So ist es bereits möglich, dass Meldeportale die eingehenden Fundmeldungen automatisch klassifizieren.
Weiterhin können KI-basierte Artbestimmungsangebote direkt in mobile Kartierungs- und Informationsanwendungen eingebunden
werden.
3.4 Definition sozial-ethischer, ökonomischer und umweltbezogener Leitprinzipien
Der bereits heute absehbare breite Einsatz von ML im Naturschutz macht es notwendig, sozial-ethische, ökonomische und
umweltbezogene Leitprinzipien für die Nutzung dieser Anwendungen zu definieren. Auf europäischer Ebene wird derzeit an einer
KI-Verordnung gearbeitet, die einen einheitlichen Rechtsrahmen in der Europäischen Union schaffen soll. Einen ersten Ansatz zur
ganzheitlichen Bewertung der Nachhaltigkeit von KI-Projekten haben Rohde et al. (2021)
veröffentlicht. Zusammenfassen lassen sich die Diskussionsfelder rund um die Leitprinzipien des KI-Einsatzes unter den Stichworten
nachhaltige oder grüne KI, erklärbare KI sowie vertrauenswürdige und verantwortliche KI
( Schwartz et al. 2019; Wearn et al.
2019; Barredo Arrieta et al. 2020). Hinter diesen Stichworten verbergen
sich Initiativen und Ansätze, um den wichtigsten Herausforderungen und Risiken von KI-Systemen zu begegnen ( Schneider et al. 2023).
4 Ausblick
In naher Zukunft wird ML die Arbeit im Naturschutz so selbstverständlich unterstützen, wie es heute bereits statistische Methoden
und Modelle tun. KI-Technik kann und wird das menschliche Urteilsvermögen dabei nicht ersetzen. Erfahrene Taxonominnen und Taxonomen
werden weiterhin die Grundsäule der Biodiversitätserfassung bilden. Angesichts der großen Komplexität sozioökologischer Systeme und
der verstärkten menschlichen Einflüsse auf Natur und Landschaften braucht der Naturschutz zunehmend leistungsfähige digitale
Werkzeuge, um Zustände zu dokumentieren, Vorhersagen zu treffen und Ökosysteme auf nachhaltige Weise nutzen und schützen zu können.
Insbesondere der schnelle Wandel, z. B. durch intensive Land- und Meeresnutzung, macht es erforderlich, schnell und
regelmäßig ein Bild vom Zustand eines Schutzguts zu bekommen, Handlungsbedarfe zu identifizieren und notwendige Schritte zu
koordinieren. Aber auch bei der Erschließung so genannter Altdaten und der Bestände in Naturkundemuseen oder privaten Sammlungen wird
ML einen großen Beitrag leisten.
Damit diese Potenziale von KI wirksam genutzt werden können, ist es notwendig, die Entwicklung solcher Anwendungen und den
Naturschutz enger miteinander zu verzahnen. Die Ergebnisse dieser kooperativen Arbeit sollten dann gemeinwohlorientiert anwendbar
gemacht werden – für Naturschutzverbände, Fachgesellschaften und Behörden gleichermaßen. Neben der Forschungsförderung werden dafür
gegenwärtig neue Strukturen aufgebaut, bspw. KI-Labore, Ideenwerkstätten, Kompetenzzentren und Kooperationsnetzwerke wie das der
Unlikely Allies.
5 Literatur
↑
Barre P., Stoever B.C. et al. (2017): LeafNet: A computer vision system for automatic plant species
identification. Ecological Informatics 40: 50 – 56.
↑
Barredo Arrieta A., Díaz-Rodríguez N. et al. (2020): Explainable Artificial Intelligence (XAI): Concepts,
taxonomies, opportunities and challenges toward responsible AI. Information Fusion 58: 82 – 115.
↑
Boho D., Rzanny M. et al. (2020): Flora Capture: A citizen science application for collecting structured plant
observations. BMC Bioinformatics 21(1): 1 – 11.
↑
BMUV/Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (2021):
Fünf-Punkte-Programm „Künstliche Intelligenz für Umwelt und Klima“. BMU. Berlin: 4 S. https://bit.ly/5PP-KI (aufgerufen am 15.3.2023).
↑
Cardinale B.J., Duffy J.E. et al. (2012): Biodiversity loss and its impact on humanity. Nature 486: 59 – 67.
↑
Deneu B., Servajean M. et al. (2021): Convolutional neural networks improve species distribution modelling by
capturing the spatial structure of the environment. PLOS Computational Biology 17(4): e1008856.
↑
Estopinan J., Servajean M. et al. (2022): Deep species distribution modeling from Sentinel-2 image time-series: A global scale
analysis on the orchid family. Frontiers in Plant Science 13: e839327.
↑
Fang F., Tambe M. et al. (Hrsg.) (2019): Artificial intelligence and conservation. Cambridge
University Press. Cambridge: 236 S.
↑
Feilhauer H., Faude U. (2023):
Digitale Anwendungen der Fernerkundung für Aufgaben des Naturschutzes. Natur und Landschaft 98(6/7): 295 – 303. DOI:
10.19217/NuL2023-06-04
↑
Frommolt K.-H. (2023):
Anwendungsfelder des akustischen Monitorings von Arten. Natur und Landschaft 98(6/7): 290 – 294. DOI:
10.19217/NuL2023-06-03
↑
Goodwin M., Halvorsen K.T. et al. (2022): Unlocking the potential of deep learning for marine ecology:
Overview, applications, and outlook. ICES Journal of Marine Science 79(2): 319 – 336.
↑
HEG-KI/Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz (Hrsg.) (2018): Eine Definition der KI: Wichtigste
Fähigkeiten und Wissenschaftsgebiete. Europäische Kommission. Brüssel: 7 S.
↑
Mäder P., Boho D. et al. (2021): The Flora Incognita app – Interactive plant species identification. Methods
in Ecology and Evolution 12(7): 1.335 – 1.342.
↑
Mahecha M.D., Rzanny M. et al. (2021): Crowd-sourced plant occurrence data provide a reliable description of
macroecological gradients. Ecography 44(8): 1.131 – 1.142.
↑
Marx M., Quillfeldt P. (2018): Species distribution models of European Turtle Doves in Germany are more reliable with presence only rather than
presence absence data. Scientific Reports 8(1): e16898.
↑
Neumann C. (2020): Habitat sampler –
A sampling algorithm for habitat type delineation in remote sensing imagery. Diversity and Distributions 26(12):
1.752 – 1.766.
↑
Nobis M., Ginzler C. et al. (2020): Automatisierte Erfassung invasiver Neophyten an Autobahnen.
Bundesamt für Strassen ASTRA. Bern: 72 S.
↑
Pineau J. (2020): Q & A. Nature 577: 14.
↑
Rammer W., Seidl R. (2019): Harnessing deep learning in ecology: An example predicting bark beetle outbreaks. Frontiers in Plant Science 10:
e1327.
↑
Reinke H., König H.J. et al. (2021): Zoning has little impact on the seasonal diel activity and distribution patterns of wild boar (Sus
scrofa) in an UNESCO Biosphere Reserve. Ecology and Evolution 11(23): 17.091 – 17.105.
↑
Rohde F., Wagner J. et al. (2021): Nachhaltigkeitskriterien für künstliche Intelligenz: Entwicklung eines
Kriterien- und Indikatorensets für die Nachhaltigkeitsbewertung von KI-Systemen entlang des Lebenszyklus. Schriftenreihe des IÖW
220: 79 S.
↑
Rzanny M., Wittich H.C. et al. (2021): Image-based automated recognition of 31 Poaceae species: The most relevant perspectives. Frontiers in Plant
Science 12: e804140. DOI: 10.3389/fpls.2021.804140
↑
Schiefer F., Kattenborn T. et al. (2020): Mapping forest tree species in high resolution UAV-based
RGB-imagery by means of convolutional neural networks. ISPRS Journal of Photogrammetry and Remote Sensing 170:
205 – 215.
↑
Schneider C., Mrogenda K., Davis M. (2023): Digitalisierung im Naturschutz: Potenziale, Risiken und Lösungsansätze. BfN-Schriften 656: 99 S. DOI:
10.19217/skr656
↑
Schulze-Brüninghoff D., Astor T., Wachendorf M. (2021): Stauden-Lupine aus der Ferne. ANLIEGEN NATUR 43(2):
103 – 106.
↑
Schwartz R., Dodge J. et al. (2019): Green AI. 12 S. http://arxiv.org/pdf/1907.10597v3 (aufgerufenen am
15.3.2023).
↑
Searle C.E., Kaszta Ż. et al. (2022): Random forest modelling of multi-scale, multi-species habitat associations within
KAZA transfrontier conservation area using spoor data. Journal of Applied Ecology 59(9): 2.346 – 2.359.
↑
Silvestro D., Goria S. et al. (2022): Improving biodiversity protection through artificial intelligence. Nature Sustainability 5(5):
415 – 424.
↑
Tabak M.A., Norouzzadeh M.S. et al. (2019): Machine learning to classify animal species in camera trap images:
Applications in ecology. Methods in Ecology and Evolution 10(4): 585 – 590.
↑
Van Klink R., August T. et al. (2022): Emerging technologies revolutionise insect ecology and monitoring. Trends in Ecology & Evolution 37(10):
872 – 885.
↑
Wearn O.R., Freeman R., Jacoby D.M. (2019): Responsible AI for conservation. Nature Machine Intelligence 1(2):
72 – 73.
↑
Wood C.M., Kahl S. et al. (2022): The machine learning-powered BirdNET App reduces barriers to global bird
research by enabling citizen science participation. PLOS Biology 20(6): e3001670.
↑
Zizka A., Silvestro D. et al. (2021): Automated conservation assessment of the orchid family with deep learning. Conservation Biology 35(3):
897 – 908.
↑
ZVKI/Zentrum für vertrauenswürdige Künstliche Intelligenz (2022): Glossar. https://www.zvki.de/ki-navigator/unsere-inhalte/glossar (aufgerufen am 20.10.2022).