Falko Brieger und Britta van Dornick
Zusammenfassung
Kollisionen zwischen Wildtieren und Fahrzeugen stellen weltweit einen signifikanten Mortalitätsfaktor dar und verursachen jährlich Schäden in Milliardenhöhe. 295.000 Wildunfälle stellten 2019 einen neuen Höchstwert in Deutschland dar, was sich auch in den Sachschäden mit
885 Mio. € widerspiegelt. Für eine zuverlässige und dauerhafte Wildunfallprävention ist bundesweit auf behördlicher Ebene eine einheitliche Dokumentation von Wildunfällen notwendig; aktuell variiert diese deutlich zwischen den Bundesländern. Gleichzeitig weisen
Forschungsergebnisse auf die Notwendigkeit hin, mit Präventionsmaßnahmen gegen Wildunfälle auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer einzuwirken, anstatt das Wildtierverhalten zu steuern. In diesem Zusammenhang sollte der Blick auch auf landschaftsökologische
Faktoren im Straßenumfeld geworfen werden, die auf das Verhalten von Tieren einwirken und somit Potenzial zur Vermeidung von Wildunfällen haben.
Road ecology – Reh – Wildunfälle – Wildunfallschwerpunkte – Präventionsmaßnahmen – Dokumentation – Wildtierverhalten – Verhalten der Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmerAbstract
Wildlife-vehicle collisions are a significant mortality factor and induce major economic damages each year. The highest value of damage reports in Germany was recorded in 2019, with 295,000 wildlife-vehicle collisions that corresponded to € 885 million in property damage.
Reliable and sustained prevention of wildlife-vehicle collisions requires uniform nationwide documentation of such events, which currently varies between Germany's regional states (Länder). At the same time, research findings indicate the need to influence driver behaviour
through mitigation measures to prevent wildlife-vehicle collisions rather than controlling wildlife behaviour. In this context, attention should also be paid to landscape ecological factors in the road environment that influence animal behaviour and thus have the potential to
prevent wildlife-vehicle collisions.
Road ecology – Roe deer – Wildlife-vehicle collisions – Wildlife-vehicle collision hotspots – Mitigation measures – Documentation – Wild animal behaviour – Road user behaviourInhalt
1 Wildunfälle – ein unterschätztes Problem
Mit 295.000 Wildunfällen durch Personenkraftwagen wurde 2019 nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (2020) ein neues Rekordhoch erreicht. Die Dunkelziffer wird sogar auf 1 Mio. Tiere geschätzt, weil viele
Unfälle nicht gemeldet werden (Deutscher Jagdverband 2021). Gleichzeitig stieg die Summe für Fahrzeugschäden auf einen ebenfalls neuen Höchststand von 885 Mio. € (Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft 2020). Die Zahl der verunglückten Personen bewegt sich seit der Wiedervereinigung gleichbleibend auf einem Niveau von 2.300 – 3.500 Unfällen mit Personenschaden (Statistisches Bundesamt 2021). Wird die
Gesamtzahl der Wildunfälle auf die Zeit umgelegt, so fällt alle 90 s ein größeres Säugetier dem Straßenverkehr zum Opfer. Im besten Fall sterben die Tiere direkt. Häufig jedoch werden Tiere angefahren, so dass diese erst nach Stunden oder Tagen qualvoll verenden. Am Beispiel eines
mit einem Global-Positioning-System(GPS)-Tracker besenderten Hirschs aus dem Südschwarzwald konnten die Folgen eines Wildunfalls für das Tier dokumentiert werden.
2 Der qualvolle Tod von Wildtieren im Straßenverkehr (Beispiel Rothirsch)
Im Rothirschprojekt Südschwarzwald wurden in den Jahren 2006 – 2009 Rothirsche (Cervus elaphus) mit GPS-Halsbandsendern ausgestattet. Diese speichern zu festgelegten Zeitpunkten die Standorte der Tiere und ermöglichen die Visualisierung individueller Bewegungsprofile. Ein
Hirsch, Günther, wurde westlich des Schluchsees im Südschwarzwald besendert. Durch dieses Gebiet verläuft die Landesstraße 146. Am 24.4.2007 querte Günther nachts bei Aha zwischen 1 und 2 Uhr die Straße und wurde dabei von einem Fahrzeug erfasst, jedoch nicht getötet. In den
folgenden 5 h bewegte er sich noch 2 km nach Süden und fand in einem Waldgebiet mit dichtem Bewuchs, feuchten Senken und Bachläufen Schutz (Abb. 1). Anhand der GPS-Daten lässt sich nachverfolgen, dass Günther noch 100 h nach dem Unfall
lebte, bevor er qualvoll starb. Eine Begutachtung des Kadavers (Abb. 2) zeigte, dass er während seines Todeskampfs von mehreren Füchsen angefressen wurde und bereits großflächig von Maden befallen war. Das Leid des Hirschs wäre vermeidbar
gewesen, wenn der Unfall der Polizei oder der örtlichen Jägerin bzw. dem örtlichen Jäger gemeldet worden wäre. So hätte man den Hirsch unmittelbar nach dem Unfall mit speziell ausgebildeten Jagdhunden aufsuchen und töten können. Hirsch Günther steht stellvertretend für die enorme
Zahl an Tieren, die jedes Jahr durch den Straßenverkehr getötet werden. Viele dieser Wildunfälle verlaufen im Stillen und sind nicht sichtbar. Um herauszufinden, warum Wildunfälle passieren, ist es wichtig zu wissen, wie Wildtiere sich in Straßennähe verhalten.
Abb. 1: Unfallstelle auf der Landesstraße L 146 und Global-Positioning-System(GPS)-Daten der zurückgelegten Wegstrecke in das Waldgebiet, in dem der Hirsch noch 100 h lebte und verstarb (GPS-Punktewolke) (FVA, unveröffentlicht).
Fig. 1: Location of red deer-vehicle collision on country road L 146 and GPS points with distance covered into the forest area, where the deer struggled 100 hours before it died (GPS data cloud) (FVA, unpublished).
Abb. 2: Hirsch Günther am Fundort 2 km südlich des Unfallorts auf der Landesstraße L 146.
Fig. 2: Red deer Günther found 2 km south of the accident location on country road L 146.
(Foto: FVA)
3 Wie verhalten sich Wildtiere in Straßennähe (Beispiel Reh)?
Das Reh (Capreolus capreolus) ist nach der Wildunfallstatistik mit rund 85 % am häufigsten von Wildunfällen betroffen (Deutscher Jagdverband 2021). Da Wildunfallzahlen sowohl im Jahresverlauf als auch zwischen einzelnen Jahren
schwanken (Steiner et al. 2014) und das zufällige Ergebnis des Zusammentreffens von Wildtier und Fahrzeug sind, geben sie kaum Aufschluss über das tatsächliche wildtierbiologische Verhalten im Straßenumfeld.
In einem Forschungsprojekt der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA) in Freiburg i. Br. zur Wirkungsweise von Wildwarnreflektoren wurden Rehe mit GPS-Halsbandsendern ausgestattet, um u. a. Erkenntnisse zur Wirkung von Straßen und Verkehr auf das
Rehverhalten zu gewinnen (Brieger et al. 2019). Von 47 hauptsächlich im Straßenrandbereich besenderten Rehen gelang es nur 2 Tieren, ein Streifgebiet außerhalb des Straßennetzes zu finden. Insgesamt wurden 13.689 Straßenüberquerungen im
Untersuchungszeitraum von 5 Jahren dokumentiert, wobei die Anzahl an beobachteten Straßenüberquerungen stark zwischen den einzelnen Rehen variierte. Während bei manchen Tieren bis zu 60 Straßenüberquerungen pro Woche beobachtet wurden, überquerten andere die Straßen nur wenige Male
im Jahr. Der Grund für die Variation in den Überquerungen wird deutlich, wenn man die Position der Straße in räumlichen Bezug zum Streifgebiet der einzelnen Rehe setzt. Abb. 3 zeigt zwei Rehe im selben Lebensraum. Während ein Tier die Straße
(L 87) vollständig in sein Streifgebiet integrierte und die Straße zwangsläufig bei den täglichen Bewegungen in seinem Streifgebiet querte (insgesamt über 1.700 Mal), nutzte das zweite Reh im selben Gebiet und Zeitraum die Straße als Streifgebietsgrenze und überquerte diese nur
wenige Male im Untersuchungszeitraum.
Abb. 3: Bewegungsprofile zweier Global-Positioning-System(GPS)-besenderter weiblicher Rehe im Forschungsprojekt zur Wirksamkeit von Wildwarnreflektoren. Während das Reh in (a) die stark befahrene Landesstraße L 87 vollständig in sein Streifgebiet integrierte, bildete an
demselben Standort die Straße die Streifgebietsgrenze für ein anderes Reh (b). Die durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke beträgt rund 4.500 Fahrzeuge.
Fig. 3: Movement profiles of two GPS-transmittered female roe deer in the research project on the effectiveness of wildlife warning reflectors. While the roe deer in (a) completely integrated the busy road L 87 into its home range, the road formed the border of the home
range of another roe deer at the same location (b). The average traffic volume is 4,500 vehicles per day.
(aus Brieger et al. 2019, verändert)(from Brieger et al. 2019, modified)
Die Straßenüberquerungen der Rehe waren durch saisonale Muster geprägt und unterschieden sich stark zwischen den Geschlechtern (Abb. 4). Während bei männlichen Rehen die Aktivität und damit die Anzahl der Straßenüberquerungen in den
Sommermonaten zunahm und in den Monaten der Paarungszeit ein Maximum erreichte, zeigten weibliche Rehe v. a. in den Frühjahrsmonaten während der Setzzeit der Kitze eine geringere Aktivität und querten seltener Straßen.
Abb. 4: Durchschnittliche wöchentliche Anzahl an Straßenüberquerungen der besenderten Rehe getrennt nach männlichen (hellgrau) und weiblichen Tieren (dunkelgrau).
Fig. 4: Weekly average number of road crossings of all GPS-transmittered roe deer separated into males (light grey) and females (dark grey).
(aus Brieger et al. 2019, verändert)(from Brieger et al. 2019, modified)
Die Verteilung der Straßenüberquerungen in Abb. 5, zeigte deutliche Schwankungen im Tages- wie auch im Jahresverlauf. Nach Sonnenuntergang nahm die Gesamtanzahl an beobachteten Straßenüberquerungen während des Untersuchungszeitraums
stark zu (blaue Punkte), blieb die ganze Nacht auf hohem Niveau und reduzierte sich erst am Morgen kurz nach Sonnenaufgang. Auch am Tag wurden besonders über die Sommermonate Straßenüberquerungen beobachtet, diese jedoch weniger häufig. In Kombination mit den täglichen Verkehrszahlen
(rot dargestellt), lassen sich besonders die Wintermonate als potenziell wildunfallträchtige Monate identifizieren, in denen es zu einem Zusammentreffen des abendlichen Berufsverkehrs und des Höhepunkts der Straßenüberquerungen durch Rehe nach Sonnenuntergang kommt.
Abb. 5: Straßenüberquerungen von 32 mit Global-Positioning-System(GPS)-Halsbandsendern ausgestatteten Rehen im Tages- und Jahresverlauf während des Projektzeitraums (blaue Punkte; N = 13.689). Die gelben Linien zeigen Sonnenauf- und Sonnenuntergang im Jahresverlauf. Rot
hinterlegt ist das durchschnittliche Fahrzeugaufkommen pro 15 min (dunkelrot 200 Fahrzeuge/15 min). Gelbe Rauten stellen die nachweislich durch Verkehr getöteten GPS-besenderten Rehe dar.
Fig. 5: Road crossings throughout the day and year of 32 roe deer equipped with GPS collar transmitters during the project period (blue dots; N = 13,689). The yellow lines show sunrise and sunset over the year. The average number of vehicles per 15 min is shown in red
(dark red 200 vehicles/15 min). Yellow diamonds represent the GPS-transmitted roe deer that were killed by traffic.
(aus Brieger et al. 2019, verändert)(from Brieger et al. 2019, modified)
Schlussfolgernd bleibt festzuhalten: Die Lage des Streifgebiets in Straßennähe, das Geschlecht sowie das natürliche Verhalten im Tages- und Jahresverlauf bestimmen die Aktivität von Rehen und somit die Anzahl der Straßenüberquerungen. Rehe sind in der Lage, zumindest
Landesstraßen vollständig in ihren Lebensraum zu integrieren. Sie queren diese bei Bedarf mehrmals zu jeder Tageszeit, unterliegen jedoch einem hohen Risiko, vom Straßenverkehr erfasst zu werden. Ein dauerhaft zuverlässiges Warnsystem zur Prävention von Wildunfällen sollte dieses
Verhalten berücksichtigen. Ebenso wichtig ist es jedoch, alle Wildunfälle in Deutschland zu dokumentieren.
4 Welches Ausmaß haben Wildunfälle in Deutschland?
Jeder Wildunfall stellt ein hohes Risiko für die Verkehrssicherheit dar. Um Wildunfallschwerpunkte eingrenzen und mit Maßnahmen entschärfen zu können, bedarf es einer einheitlichen Dokumentation der Wildunfallzahlen. Eine einheitliche standardisierte Erfassung der
Wildunfälle seitens der Behörden gibt es in Deutschland bisher nicht, weshalb der Nachweis von Wildunfällen im Straßenverkehr für die meisten Tierarten in Deutschland schwierig ist. In der Regel werden nur größere Säugetiere genauer erfasst, da sie bei einem Wildunfall Schäden an den
Fahrzeugen verursachen.
Die Abschätzung der Gesamtzahl jährlicher Wildunfälle erfolgt aus den Schadensmeldungen der Kraftfahrzeugversicherer an den Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Das Statistische Bundesamt dagegen erfasst nur Unfälle mit Wildtieren in Kombination mit einem
Personenschaden oder einem Straftatbestand. Wildunfälle mit reinem Sachschaden werden in die amtliche Unfallstatistik nicht einbezogen, weshalb beim Statistischen Bundesamt für das Jahr 2019 nur 3.021 Wildunfälle registriert sind (Statistisches
Bundesamt 2021). Die Diskrepanz liegt an der in den Bundesländern unterschiedlich geregelten Meldepflicht der Wildunfälle mit Sachschäden. Dennoch melden viele Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer einen Wildschaden am Fahrzeug, da häufig nur nach
einer polizeilichen Meldung ein Anspruch auf die Leistung der Versicherung besteht.
4.1 Evaluation der polizeilichen sowie beim Deutschen Jagdverband gemeldeten Wildunfälle
In einem Forschungsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) zum Themenbereich Wildunfallzahlen wurden alle verfügbaren polizeilichen Daten der Jahre 2012 – 2017 abgefragt, ebenso Daten aus dem Tierfundkataster des Deutschen Jagdverbands. Während die amtliche Statistik im
Zeitraum 2012 – 2017 mehr als 17.000 Unfälle unter Beteiligung von Wild ausweist, besteht die Datensammlung der BASt aus 805.257 geocodierten Datensätzen, die auch die einfachen Wildunfälle mit Sachschäden einbeziehen. Letzterer Datensatz war nicht vollständig, da nicht alle
Bundesländer für den gesamten Zeitraum Daten lieferten oder die polizeiliche Aufnahme der Wildunfälle mit Sachschäden nicht in allen Bundesländern durchgeführt wurde. Die Auswertung der Gesamtwildunfallzahlen aus dem BASt-Forschungsprojekt ergibt somit eine Wildunfallzahl
auf deutschen Straßen, die um das 47-Fache höher ist, als die amtliche Statistik abbildet. Die insgesamt 17.301 Wildunfälle der amtlichen Statistik ereigneten sich demnach vorwiegend auf Landes- und Kreisstraßen. Auf Bundesfernstraßen passierten im betrachteten Zeitraum 4.569 Unfälle
(Bundesautobahnen und Bundesstraßen). Die Wildunfallzahlen aus der BASt-Datensammlung zeigen eine ähnliche Verteilung der Unfallzahlen auf die einzelnen Straßenkategorien, allerdings ist der Anteil der Wildunfälle auf Bundesstraßen nun höher als der Anteil der Wildunfälle auf
Kreisstraßen. Das Bundesfernstraßennetz ist damit stärker durch Wildunfälle betroffen, als bisher angenommen wurde.
Kasten 1: Wölfe sterben auf der Autobahn.
Box 1: Wolves die on motorways.
1 Einleitung
Den Anlass der Untersuchung lieferte Thiele (2021). Ihr fiel auf, dass Wölfe (Canis lupus) in Schleswig-Holstein (SH) überproportional oft an Autobahnen verunglücken: Je km Autobahn wurden in SH rund 6-mal mehr Wölfe
überfahren als auf Bundesstraßen und 24-mal mehr als auf Landesstraßen. Das weicht von den sonstigen Erfahrungen zu Wildunfällen ab. Manko: Die Zahl der Wolfsfunde und Wolfsunfälle (n = 7, von April 2007 bis Dezember 2019) in SH ist bisher sehr gering; das Ergebnis von Thiele
hätte reiner Zufall sein können. Deshalb wurden nun alle im Zeitraum von 1991 bis 2021 gemeldeten Wolfsunfälle in der Bundesrepublik Deutschland (BRD; n = 573) daraufhin ausgewertet, an welchen Straßentypen sie auftraten. Als Vergleich dienen Unfalldaten von Huftieren
(Schalenwild) aus SH, weil diese die Unfallstatistiken dominieren und für SH eine sehr gute Dokumentation dieser Unfälle durch das Tierfundkataster (TFK) einerseits und die Polizei andererseits vorliegt.
2 Ergebnisse
Es konnte bestätigt werden, dass die relative Unfalldichte für Wölfe, d. h. die Zahl der Verkehrsopfer je Straßenkilometer, auf Autobahnen tatsächlich sehr viel höher ist als auf nachgeordneten Straßen (rund 3-mal höher als auf Bundesstraßen, 10-mal höher als auf Landes- oder
Staatsstraßen, 16-mal höher als auf Kreisstraßen und 300-mal höher als auf Gemeindestraßen; Abb. K1-1). Je niedriger die Straßenkategorie, d. h., je geringer die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit und/oder die durchschnittliche
Verkehrslast ist, desto weniger Wolfsunfälle gibt es. Beim Schalenwild (in der Mehrzahl sind das Rehe, Capreolus capreolus) ergibt sich ein anderes Bild: Nach den mehr als 35.000 auswertbaren Polizeiberichten über Schalenwildunfälle in SH geschehen die relativ meisten
Huftierunfälle auf Bundesstraßen.
Abb. K1-1: Relative Unfalldichte von Wölfen (Canis lupus; Bezug: Bundesrepublik Deutschland) und Huftieren (Bezug: Schleswig-Holstein) an unterschiedlichen Straßenkategorien: BAB = Bundesautobahnen, B = Bundesstraßen, L = Landesstraßen, K = Kreisstraßen,
G = Gemeindestraßen.
Fig. K1-1: Relative density of roadkill involving wolves (Canis lupus; reference area is Federal Republic of Germany) and ungulates (reference area: Schleswig-Holstein) on different road categories. BAB = motorways, B = highways, L = state roads, K = district
roads, G = local roads.
3 Mögliche Ursachen für die Unterschiede zwischen Huftier- und Wolfssterblichkeit und resultierender Handlungsbedarf
Neben den Geschwindigkeiten und der Verkehrsmenge unterscheiden sich Autobahnen von anderen Straßen v. a. dadurch, dass sie häufiger gezäunt sind, dass sie breiter sind und dass Fahrbahnen oft mittig durch Betonschutzwände voneinander getrennt werden. Dafür, dass der von
Betonschutzwänden ausgehende Barriere- und Umkehreffekt für Wölfe größer sein könnte als für Huftiere, haben wir keine Hinweise und auch nicht dafür, dass Huftiere breitere Straßen eher meiden als Wölfe. Als potenzielle Hauptursachen für die unterschiedliche Mortalität kommen (1)
unterschiedliches Verhalten an Zäunen und/oder (2) unterschiedliche Reaktionen und Reaktionsfähigkeiten in Bezug auf Verkehrsmengen und -geschwindigkeiten in Frage. Dies müsste prioritär untersucht werden.
Sofern gängige Wildschutzzäune von Wölfen leichter überwunden werden oder Wölfe wegen ihrer oft an linearen Strukturen ausgerichteten Laufstrecken häufiger in Zaunzwischenräume gelangen, müsste wegen des besonderen Schutzstatus von Wölfen die Art der Zäunung optimiert
werden – mit zwei Konsequenzen: Auch sonstige Wildunfälle würden weiter reduziert, aber auch die Trennwirkung von Straßen würde erhöht und damit auch der Bedarf an Querungshilfen.
Sofern, wie wir annehmen, die Verkehrsgeschwindigkeit der entscheidende Faktor dafür ist, dass Wölfe überproportional häufig auf Autobahnen getötet werden, gibt es eine einfache Problemlösung: Die Verkehrsgeschwindigkeiten müssen reduziert werden. Konsequenz wären insgesamt
weniger und weniger schwere Wildunfälle auch mit Rehen, Hirschen oder Wildschweinen. Dieser Lösungsansatz ist genauso zielführend auf Bundesstraßen und Landesstraßen anwendbar, auf denen im Hinblick auf Wildunfälle ebenfalls viel zu schnell gefahren wird. Aktuell wird in
Deutschland nach Angaben des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. (https://www.gdv.de) durchschnittlich ca. alle 2 Minuten ein größeres Säugetier durch den Straßenverkehr getötet, dabei wird ein jährlicher
Sachschaden von ca. 890 Mio. € verursacht.
4 Datengrundlagen
Von 573 zwischen 1991 und 2021 automatisiert Straßenkategorien zugeordneten Wolfsunfällen (Daten aus dem Wolfsmonitoring der Bundesländer, zusammengestellt von der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf, https://data.dbb-wolf.de/coords/GMapTotfundPublic.php?&TodGrund=Verkehrsunfall&TJahr=Jahr, Abfrage am 4.1.2022 9:00 Uhr MEZ) sind 5 nicht in der
Auswertung enthalten, da keine Zuordnung zu einer klassifizierten Straße gegeben war. Die Daten zum Wolf (Canis lupus) in SH stammen aus Thiele (2021).
Die zum Vergleich herangezogenen Wildunfälle in SH beziehen sich auf die Jahre von 2012 bis 2021, zu denen Daten des TFK (Meldungen in der Regel von Jägerinnen und Jägern) wie auch der Polizei vorliegen. Dargestellt sind die Daten der Polizei, die, mit Ausnahme der
Autobahnen, durch 31.792 unabhängige Meldungen im TFK bestätigt sind. Auf Autobahnen dürfen Jägerinnen und Jäger Fallwild nicht bergen. Weil in den Polizeidaten die Artbestimmung nicht zuverlässig ist, sind alle Schalenwildunfälle zusammengefasst, obwohl auf Bundes- und
Landesstraßen aufgrund der TFK-Daten ersichtlich ist, dass sich das Unfallgeschehen mit Rehen, Hirschen und Wildschweinen für die verschiedenen Straßenkategorien ebenfalls artspezifisch unterscheidet. Bei zahlreichen zusätzlichen polizeilich aufgenommenen Wildunfällen sind leider
keine verwertbaren Hinweise auf die betroffene Tierart vorhanden. Die Zahl der Huftierunfälle insgesamt ist viel höher als die Zahl auswertbarer Huftierunfälle.
Die zu Grunde gelegten Straßenlängen für die BRD sind BMVI (2021: 101) entnommen und entsprechen dem Stand von 2017. Die Straßenlängen für SH sind dem Zuordnungsmodell der Wildunfalldaten des TFK entnommen, die für Landesstraßen und
Kreisstraßen mit den Längenangaben des Landesbetriebs Straßenbau und Verkehr Schleswig-Holstein (LBV) übereinstimmen (https://bit.ly/SH-Strassen; aufgerufen am 8.3.2022); bei Bundestraßen und Autobahnen weichen die
Straßenlängen zwischen Modell – basierend auf frei verfügbaren digitalen Geodaten aus dem Digitalen Landschaftsmodell 1 : 250.000 (DLM 250) des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie (BKG) – und Angaben des LBV um 7 % bzw. 17 % voneinander ab. Problematisch sind die
verwendeten Daten zur Länge der Gemeindestraßen, die für SH nicht wirklichkeitsgetreu ermittelt sind (Zuordnungsdefizite in den digitalen Kartenwerken). Die Gesamtlänge liegt vermutlich bei 20.000 km, von denen aber im Zuordnungsmodell nur rund 5.000 km erfasst sind. Dadurch ist
die Unfalldichte für Schalenwild auf Gemeindestraßen potenziell überschätzt.
5 Literatur
BMVI/Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (2021): Verkehr in Zahlen 2020/2021. BMVI. Berlin: 372 S. https://www.bmvi.de/viz
Thiele J. (2021): Die Wiederbesiedlung von SH durch den Wolf (Canis lupus, L. 1758) – Erste Erkenntnisse zu Raumnutzung und Verhalten vom ersten Wiederauftreten bis zu residenten Revierbildungen. Diplomarbeit.
Universität Koblenz-Landau: 135 S.
Autoren:
Priv.-Doz. Dr.-Ing. Heinrich Reck
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Institut für Natur- und Ressourcenschutz
Olshausenstraße 75
24118 Kiel
E-Mail:
hreck@ecology.uni-kiel.de
Dipl.-Geogr. Heiko Schmüser
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Institut für Natur- und Ressourcenschutz
Olshausenstraße 75
24118 Kiel
E-Mail:
hschmuser@ecology.uni-kiel.de
5 Analyse von Wildunfällen
Mit den polizeilich gesammelten Wildunfalldaten ergab sich die Möglichkeit, erstmals deutschlandweit die Lage der einzelnen Wildunfälle zu verorten und den genauen Unfallort in einem geographischen Informationssystem zu visualisieren. In Anlehnung an Standards in der
Verkehrsunfallkommission wurden Wildunfallstrecken, Wildunfalldichten und Wildunfallhäufungsabschnitte bestimmt und berechnet. Das Ergebnis lieferte für den Zeitraum 2012 – 2017 30.393 Wildunfallstrecken mit mindestens 6 Unfällen im maximalen Abstand von 200 m zwischen
2 Wildunfallpunkten. Aus diesen Wildunfallstrecken wurden Streckenabschnitte mit einer Wildunfalldichte von mehr als 15 Wildunfällen pro Kilometer lokalisiert. Im betrachteten Zeitraum von 2012 bis 2017 traf dies auf 11.912 Abschnitte aus der Gesamtmenge an Wildunfallstrecken zu
(Abb. 6). Wildunfallstrecken, die über mehrere Jahre bestehen, weisen auf einen besonders dringenden Bedarf zur Wildunfallprävention hin (Brieger et al. 2021). In Abb. 7 sind Wildunfallstrecken mit einer Stetigkeit von 2 Jahren (2016 – 2017) aufgeführt. Eine Betrachtung der stetigen Wildunfallstrecken über einen darüber hinausgehenden Zeitraum ist sinnvoll, wenn kleinräumige klimatische Einflüsse und der
Einfluss von Fruchtfolgen und Zwischenfruchtfolgen auf landwirtschaftlichen Flächen im Umfeld der betroffenen Strecke relativiert werden sollen (Brieger et al. 2021). Wildunfallstrecken mit einer Stetigkeit über 4 Jahre sind für
58 Abschnitte in 10 Bundesländern nachweisbar (Bayern fällt heraus, weil nur Wildunfalldaten für 2 Jahre verfügbar waren). Besonders betroffen sind Rheinland-Pfalz, Hessen und Schleswig-Holstein.
Abb. 6: Wildunfallstrecken in Deutschland für 2012 – 2017 mit mindestens sechs Wildunfällen. Dargestellt sind nur Strecken mit mehr als 15 Wildunfällen je km. Für Bayern lagen nur Daten für die Jahre 2016/2017 vor. Die nicht dargestellten Landkreise verfügen über eine für
diese Auswertung unzureichende Datenlage. Für Schleswig-Holstein gilt ein erhöhter Erfassungsgrad auf Grund der zusätzlichen Daten aus dem Tierfundkataster.
Fig. 6: Wildlife accident routes in Germany for 2012 – 2017 with at least six wildlife-vehicle collisions. Only routes with more than 15 wildlife-vehicle collisions per km are shown. For Bavaria, only data for 2016/2017 were available. Districts not displayed have
insufficient data for this evaluation. For Schleswig-Holstein, a higher degree of coverage applies due to additional data from the wildlife register.
(aus Brieger et al. 2021, verändert)(from Brieger et al. 2021, modified)
Abb. 7: Wildunfallstrecken mit mindestens sechs Unfällen pro Jahr über zwei Jahre (rote Markierung) in Folge sowie über vier Jahre (blaue Markierung) in Folge.
Fig. 7: Wildlife accident routes with at least six wildlife-vehicle collisions/year for 2 consecutive years (red marking) and 4 consecutive years (blue marking).
(aus Brieger et al. 2021, verändert)(from Brieger et al. 2021, modified)
6 Maßnahmen gegen Wildunfälle
Bereits seit Beginn der 1960er-Jahre wird versucht, Wildunfälle mit unterschiedlichsten Präventionsmaßnahmen zu reduzieren (Ueckermann, Olbrich 1984). Im Laufe der Jahrzehnte wurden vielfältige Maßnahmen entwickelt, die sich vier
Kategorien zuordnen lassen:
● infrastrukturelle Maßnahmen,
● Maßnahmen zur Beeinflussung des Menschen,
● Maßnahmen zur Beeinflussung des Wildtiers,
● Maßnahmen in Fahrzeugen.
Die in Deutschland häufig angewendeten Systeme zur Wildunfallprävention sind in Abb. 8, aufgeführt. Die Abbildung enthält auch Einschätzungen zu Wirksamkeit und Kosten sowie Literaturhinweise.
Abb. 8: Eine Auswahl an Maßnahmen zur Prävention von Wildunfällen in Deutschland.
Fig. 8: A selection of different mitigation measures for preventing wildlife-vehicle collisions in Germany.
(nach Suter et al. 2021, verändert und ergänzt)(after Suter et al. 2021, modified and amended)
Die Erfahrungen zahlreicher wissenschaftlicher Studien zeigen, dass das Verhalten von Wildtieren nicht dauerhaft steuerbar ist. Daher ist die Wirksamkeit von Maßnahmen, die v. a. Wildtiere in deren Verhalten beeinflussen sollen, kritisch zu betrachten. Eine effektive
Wildunfallprävention ist folglich eher durch Maßnahmen aus den drei anderen Kategorien zu erreichen. Dabei können verschiedene Ansätze auch in Kombination miteinander eingesetzt werden.
7 Ausblick
Fragt man Jagdausübungsberechtigte, wo, wann und warum Wildunfälle in ihrem Revier auftreten, bekommt man häufig sehr detaillierte Informationen darüber, welche Faktoren an bestimmten Stellen im Straßennetz vor Ort dazu führen, dass vermehrt Wildunfälle stattfinden. Zur Abwehr
von Wildunfällen nutzt die Jägerschaft seit Jahrzehnten v. a. Wildwarnreflektoren als Maßnahme, denen überwiegend eine positive Wirkung zugesprochen wird. Die gesammelten Erfahrungen stehen häufig im Widerspruch zu Ergebnissen aus groß angelegten wissenschaftlichen Untersuchungen
über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen. Trotz unterschiedlicher Ansichten ist die Lösung zur Reduzierung von Wildunfällen nur im Austausch mit allen Akteuren (Naturschutz, Agrarwirtschaft, Forstwirtschaft, Straßenverkehr, Polizei, Jägerschaft) gemeinsam zu erreichen. In der
Vergangenheit wurde die Verantwortung für Wildunfälle hierarchisch heruntergebrochen oder weitergeschoben. Zielführender wäre, Verantwortlichkeiten zu teilen und dort, wo es möglich ist, Mittel bereitzustellen und Instrumente zu schaffen, um die Tierverluste im Straßenverkehr
dauerhaft zu reduzieren. Damit würde gleichzeitig die Verkehrssicherheit steigen und ein Beitrag zum Verkehrsvorhaben „Vision Zero“ der Bundesregierung geleistet werden.
7.1 Was wird benötigt?
In der Wildunfallprävention stützen sich Entscheidungsträger, wie etwa Verkehrsbehörden der Landratsämter, bei Einschätzungen und Entscheidungen aktuell vorrangig auf behördliche Wildunfalldaten der Polizei, was auf Grund der enormen Unterschiede in den Datengrundlagen zu
fehlerhaften Ergebnissen führt. Wichtig wäre eine bundesweit einheitliche und umfassende Dokumentation aller Wildunfälle, insbesondere auch eine zuverlässige geographische Verortung. In Kombination mit weiteren Informationen wie Fahrzeugaufkommen im Streckenverlauf,
Fahrzeuggeschwindigkeiten und Umfelddaten können Ursachen für die erhöhten Unfallzahlen identifiziert und analysiert werden und somit Wildunfallschwerpunkte lokal ausfindig gemacht werden. Diese Daten können Expertinnen und Experten, die sich mit der Verkehrssicherheit beschäftigen,
und anderen Entscheidungsträgerinnen und -trägern zur Verfügung gestellt werden, so dass zukünftig Maßnahmen zur Verringerung von Wildunfällen getroffen werden können. Erste viel versprechende Werkzeuge gibt es für Tschechien (http://www.srazenazver.cz/) und die Schweiz (https://www.zhaw.ch/iunr/wildtierunfaelle), die u. a. das Risiko von Wildunfällen im Straßennetz darstellen. Mit dem Tierfundkataster (https://www.tierfund-kataster.de) liegt ein erster, auf privatem Engagement beruhender Ansatz für Deutschland vor.
Aktuell werden in mehreren Bundesländern Arbeitskreise auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen in Zusammenarbeit mit Verbänden gegründet, um gemeinsame Konzepte zur Unfallprävention zu entwickeln. Erforderlich wäre, die Ergebnisse aus diesen Arbeitskreisen an die verantwortlichen
nationalen Stellen zu melden, damit die Erkenntnisse in Werkzeuge, Regelwerke, Wissens- und Strategiepapiere rund um das Thema Wildunfallprävention eingebracht werden können. Gleichzeitig sollte der Fokus auf die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen gelegt werden, die v. a. das
menschliche Verhalten steuern und somit größeren Erfolg versprechen als Ansätze zur Änderung des Wildtierverhaltens. In diesem Zusammenhang sollte der Blick auch auf landschaftsökologische Faktoren im Straßenumfeld geworfen werden, die auf das Verhalten von Tieren einwirken und somit
Potenzial zur Vermeidung von Wildunfällen haben.
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