Britta Knefelkamp, Kai Eskildsen, Mirko Hauswirth, Kathrin Heinicke, Rolf Karez, Axel Kreutle, Gregor Scheiffarth, Alexander Schröder, Jan Witt und Richard Czeck
Zusammenfassung
Für das Jahr 2020 gab es klar definierte, national und international festgelegte Ziele zum Schutz der marinen biologischen Vielfalt und der Meeresumwelt insgesamt. Ausgehend von der vorliegenden Darstellung der aktuellen Zustände der marinen Schutzgüter ist jedoch
zusammenfassend festzustellen, dass diese Schutzziele in der deutschen Nordsee nicht erreicht wurden. Auch in Gebieten, die speziell für den Schutz der marinen Arten und Lebensräume vorgesehen sind und in denen Naturschutz Vorrang hat, also in marinen Schutzgebieten und
Nationalparks, wurden sie vielfach verfehlt. Hauptgrund sind die größtenteils nicht eingeschränkten ökonomisch begründeten Nutzungen mit ihren direkten und indirekten Auswirkungen. Eine ökologisch und ökonomisch nachhaltige Nutzung ist nach wie vor nicht erreicht. Es ist
notwendig, auch auf politischer Ebene die Meeresnatur belastende Nutzungen wie die Fischerei einzuschränken, in die Meere gelangende Nähr- und Schadstoffe zu reduzieren, den Klimawandel an der Wurzel – dem hohen Energieverbrauch und CO2-Ausstoß –
abzumildern und im marinen Bereich Schutzgebiete mit Nullnutzung zu etablieren, die dauerhaft echte Rückzugs- und Ruheräume für Arten garantieren.
Nordsee – Zustand der Meeresnatur – Schutzziele – Meeresnaturschutz – anthropogene Nutzung – Meeresschutzgebiete – SchutzmaßnahmenAbstract
Although clear national and international targets for the conservation of the marine environment and biodiversity had been defined for 2020, it must be concluded in summary from our report of the status of marine nature in the German areas of the North Sea that the
conservation targets have not been achieved. Even in areas designated especially for the conservation of marine species and habitats, namely marine protected areas and national parks, the targets have not been achieved in most cases. The main reason is to be found in the mostly
un-restricted economic uses with their direct and indirect impacts. Ecologically and economically sustainable use is still not achieved. As an overall résumé, it is essential, on the political level as elsewhere, to limit stressing uses of marine nature such as fishing
activities, to reduce the input of nutrients and pollutants into the seas, to mitigate climate change at its roots – the high energy consumption and carbon dioxide emission levels – and to establish marine protected areas with zero use in order to safeguard durable,
real retreat and resting areas for species.
North Sea – Status of marine nature – Conservation targets – Marine nature conservation – Anthropogenic use – Marine protected areas – Conservation measuresInhalt
1 Einleitung
Die Jahre 2011 – 2020 wurden von den Vereinten Nationen (UN) zur UN-Dekade für biologische Vielfalt erklärt, die Europäische Union (EU) setzte sich das Ziel, über das Natura-2000-Schutzgebietsnetzwerk den Verlust biologischer Vielfalt bis 2020 zu stoppen und
umzukehren, die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie der EU (2008/56/EG, MSRL) forderte bis 2020 die Erreichung des guten Umweltzustands in den europäischen Meeren – u. a. für die biologische Vielfalt.
Diese Beispiele verdeutlichen die Bedeutung des Jahres 2020 für die biologische Vielfalt und sind Grund genug, auf den aktuellen Zustand der Meeresnatur in den deutschen Nordseegebieten zu blicken und ein Resümee zu ziehen, ob die Schutzziele im Meeresbereich erreicht
wurden. Dabei wird auf die Schutzgüter nach den Natura-2000-Richtlinien und auf die für sie eingerichteten Schutzgebiete fokussiert, da insbesondere dort die biologische Vielfalt erhalten und wiederhergestellt werden soll und entsprechende Schutzmaßnahmen für die vorkommenden Arten
und Lebensräume umzusetzen sind. Die auf Grundlage des Bundesnaturschutzgesetzes ausgewiesenen Natura-2000-Schutzgebiete nach europäischer Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (92/43/EWG, FFH-RL) und Vogelschutzrichtlinie (79/409/EWG, VRL) sind zudem im Rahmen des Übereinkommens zum Schutz
der Meeresumwelt des Nordostatlantiks (Oslo-Paris-Konvention, OSPAR) als Schutzgebiete sowie nach Art. 13 (6) im Rahmen der MSRL als räumliche Schutzmaßnahmen gemeldet. Das Wattenmeer wird bereits seit 1978 über die Trilaterale Wattenmeerzusammenarbeit (Trilateral
Wadden Sea Cooperation, TWSC) geschützt und sein Zustand über das Trilaterale Monitoring- und Bewertungsprogramm (Trilateral Monitoring and Assessment Program, TMAP) überwacht. Die Wasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG, WRRL) und MSRL, beide über das Wasserhaushaltsgesetz in nationales
Recht umgesetzt, komplettieren die Bewertung des Zustands der Meeresnatur. Während die nationale Umsetzung der WRRL derzeit nicht die Ausweisung weiterer Schutzgüter oder Schutzgebiete im Meeresbereich vorsieht, sieht der Umsetzungsprozess der MSRL sowohl die Aufnahme weiterer
Schutzgüter als auch die Einrichtung von Rückzugs- und Ruheräumen zur Ergänzung bestehenden Gemeinschaftsrechts vor (BMU 2021). Im Folgenden werden die regionalen, trilateralen und nationalen Bewertungsergebnisse dieser
verschiedenen Vorgaben für die einzelnen Schutzgüter in den deutschen Nordseegebieten komprimiert dargestellt. Anschließend wird ein Resümee gezogen, ob die für 2020 gesetzten Ziele im Meeresbereich erreicht wurden.
2 Zustand der Schutzgüter
2.1 Fische
Zur Fischfauna der Nordsee gehören im Freiwasser (pelagisch) und am Meeresboden (demersal) lebende Arten. Sie halten sich in Küstennähe oder in küstenferneren Gebieten auf (Küsten- bzw. Schelffische) oder wandern zum Laichen vom Meer in die Fließgewässer (z. B. Meerforelle
[Salmo trutta], Lachs [Salmo salar], Finte [Alosa fallax], Stör [Acipenser sturio]) oder umgekehrt (z. B. Aal [Anguilla Anguilla]). Ihre Abundanz sowie die Längen- und Altersstruktur v. a. der kommerziell zum Verzehr genutzten
Fischarten werden in den deutschen Nordseegebieten überwiegend durch Fischerei und die dadurch bedingte Entnahme beeinflusst. Die Artenzusammensetzung der Fischgemeinschaften und die geographische Verbreitung aller Fischarten hängen dagegen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Hierzu
gehören neben dem Klimawandel auch Habitatveränderungen, Wanderbarrieren sowie die Anreicherung von Nähr- und Schadstoffen.
2.1.1 Bewertung nach OSPAR (2017)
OSPAR hat im Intermediate Assessment von 2017 (Godwin et al. 2017) nicht nach einzelnen Fischarten unterschieden, sondern Fischgemeinschaften bewertet, was eine Nutzung der Ergebnisse, etwa für die Bewertung nach MSRL oder für
die Umsetzung von Maßnahmen, in den einzelnen Vertragsstaaten erschwert. Im Bereich der Greater North Sea, die auch die deutschen Nordseegebiete umfasst, waren die Ergebnisse in Bezug auf die Abundanz sensitiver Fischarten nicht eindeutig. Es gibt aber Hinweise auf eine Stagnation im
Rückgang der von der Fischerei belasteten Arten.
Ebenfalls bewertet wurde der Anteil großer Fische in der demersalen Fischgemeinschaft. Hier sind teilweise Trends der Erholung erkennbar. Die von OSPAR festgelegten und zu erreichenden Schwellenwerte werden jedoch nicht erreicht. Weiter wurde auch die Größenverteilung in
Fischgemeinschaften untersucht. Die Ergebnisse zeigen eine Dominanz kleinwüchsiger Fische, was keinen zufriedenstellenden Zustand anzeigt und vermutlich auf die selektive Entnahme großer Exemplare ohne Erholung der jeweiligen Bestände zurückzuführen ist. Eine gesunde
Fischgemeinschaft würde eine ausbalancierte Größenverteilung aufweisen.
2.1.2 Bewertung nach TWSC (2017)
Die Fischfauna des Wattenmeers besteht aus etwa 150 Arten, darunter befinden sich 13 Süßwasserarten, von denen etwa die Hälfte häufig oder mäßig häufig zu finden ist. Die Entwicklung der Fischbestände im Wattenmeer war in den letzten Jahren unterschiedlich (Kloepper et al. 2017). Fischarten, die das Wattenmeer als Aufzuchtgebiet für ihren Nachwuchs nutzen, haben seit den 1980er-Jahren im Bestand abgenommen – mit Ausnahme weniger Arten und Regionen. Die Funktion des Wattenmeers als
Aufzuchtgebiet ist daher stark zurückgegangen, insbesondere bei den ursprünglich stark vertretenen Plattfischarten Scholle (Pleuronectes platessa), Kliesche (Limanda limanda) und Seezunge (Solea solea). Im Gegensatz dazu nahmen die zuvor nur in südlichen
Bereichen vorkommenden Bestände des Roten Knurrhahns (Chelidonichthys lucerna) in allen Bereichen des Wattenmeers zu, die des Wolfsbarschs (Dicentrarchus labrax) im westlichen Bereich. Bei allen anderen Wander- und Standfischen variieren die Bestandstrends nach Art,
Region und Zeitraum erheblich. Am bemerkenswertesten sind die Zunahme des Lachses (Salmo salar), der Rückgang des Nordseeschnäpels (Coregonus oxyrinchus) in den dänischen Wattenmeerzuflüssen und der allgemeine Rückgang des Aals (Anguilla anguilla).
2.1.3 Bewertung nach Natura 2000 (2019)
Von den Fischarten, die gemäß FFH-RL zu schützen sind, kommen 5 Arten in den deutschen Nordseegebieten vor. Zu diesen anadromen (zum Laichen ins Süßwasser schwimmenden) Wanderfischen zählen, neben dem in deutschen Gewässern ehemals ausgestorbenen Europäischen Stör
(Acipenser sturio), die Alse (Alosa alosa), die Finte (Alosa fallax), das Flussneunauge (Lampetra fluviatilis) und das Meerneunauge (Petromyzon marinus). Im marinen Bereich kann eine Einschätzung von Verbreitung, Beeinträchtigungen und
Gefährdungen nur beiläufig anhand der Nachweise aus Untersuchungen kommerziell genutzter Fischbestände erfolgen. Da die bisher angewendeten Fangmethoden im marinen Bereich unzureichend für die genannten Arten sind und noch weiterentwickelt werden müssen, stützt sich die Bewertung des
Erhaltungszustands dieser Populationen daher auf Daten aus den Süßwasserhabitaten.
Aktuell (2013 – 2018) befinden sich die Neunaugen in einem ungünstig-unzureichenden, Stör, Alse und Finte in einem ungünstig-schlechten Erhaltungszustand. Der Stör konnte hierbei erstmals bewertet werden, da sich die Population noch im Aufbau befindet und zuvor
keine klaren Aussagen getätigt werden konnten. In den nächsten Jahren wird eine bessere Datenlage auf Grund eines Wiederansiedlungsprojekts in der Elbe erwartet. Der ungünstige Erhaltungszustand der anderen anadromen Wanderfische hat sich im Vergleich zum
Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Bericht 2013 nicht verändert.
2.1.4 Bewertung nach MSRL (2018)
Von den 32 betrachteten Fischarten der deutschen Nordseegewässer sind 2 Küstenfische, 5 am Meeresboden lebende und 2 im Freiwasser lebende Arten in einem guten Zustand; 3 Küstenfische, 7 am Meeresboden und 5 im Freiwasser lebende
Arten sind in einem schlechten Zustand (Abb. 1); 8 Arten konnten insgesamt nicht bewertet werden. Bisher existiert kein gezieltes Monitoring nichtkommerziell genutzter Fische. Bei Arten, die nicht mit den gängigen
Fanggeräten für kommerziell genutzte Fischarten gefangen werden können, wird für die Bewertung die deutsche Rote Liste herangezogen (Thiel et al. 2013). Besonders betroffen vom schlechten Zustand sind langlebige, langsam wachsende
Arten wie Haie und Rochen (Abb. 2) sowie Wanderfische wie Stör, Aal und Lachs. Der gute Umweltzustand gilt für die Fischfauna der deutschen Nordseegebiete derzeit als nicht erreicht.
Abb. 1: Bewertungsergebnisse für die Fische nach Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) 2018 (verändert aus BMU 2018).
Fig. 1: Assessment of fishes according to the Marine Strategy Framework Directive (MSFD) 2018 (modified after
BMU 2018).
Abb. 2: Nagelrochen (Raja clavata).
Fig. 2: Thornback ray (Raja clavata).
(Foto: Sven Gust)
2.2 Säugetiere
In der deutschen Nordsee sind Schweinswale (Phocoena phocoena), Kegelrobben (Halichoerus grypus atlanticus) und Seehunde (Phoca vitulina, Abb. 3) heimisch. Ihr jeweiliger Bestand und ihre Verbreitung werden
u. a. durch menschliche Aktivitäten beeinflusst, insbesondere durch Fischerei, Schadstoffe und Unterwasserschall. Zudem können Sand- und Kiesabbau, Schiffsverkehr, Baumaßnahmen, Müll, Erdöl- und Erdgasexploration und -förderung, die Anreicherung von Nährstoffen sowie
militärische und touristische Aktivitäten negative Auswirkungen haben.
Abb. 3: Seehund (Phoca vitulina) im Wattenmeer.
Fig. 3: Common seal (Phoca vitulina) in the Wadden Sea.
(Foto: Katrin Wollny-Goerke)
2.2.1 Bewertung nach OSPAR (2017)
Abundanz, Verbreitung und Fortpflanzungsrate der Kegelrobben haben in allen bewerteten Meeresbereichen der Greater North Sea zugenommen (Godwin et al. 2017). Dies wird auf eine Erholung der Bestände nach Beendigung der Jagd
zurückgeführt. Abundanz und Verbreitung der Seehunde sind in den meisten Regionen stabil oder zunehmend. Die im OSPAR Intermediate Assessment angenommene Größenordnung der Schweinswalmortalität in Stellnetzen geht auf Schätzungen des International Council for the Exploration of the
Sea (ICES) des Jahres 2005 zurück. Demnach starben bis zu 2.000 Schweinswale durch Beifang der kommerziellen Fischerei in der vom ICES definierten North Sea Assessment Unit (ICES 2015). Diese Abschätzung resultiert aus
Beobachtungen von 0,28 % des gesamten Fischereiaufwands mit als „Netze“ definierten Fanggeräten. Auf Grund der ungewissen Zuverlässigkeit der Daten werden die ICES-Beifangschätzungen nicht mit den Daten und Bewertungen verglichen, die im Rahmen der OSPAR Ecological
Quality Objectives (EcoQO) for the North Sea für den Beifang von Schweinswalen verwendet werden.
Der Gesamtbestand der Schweinswale wurde auf Grundlage der SCANS-III-Erhebungen (Small Cetaceans in European Atlantic waters and the North Sea) auf 345.400 Tiere in der Unit geschätzt (Hammond et al. 2017). Drei
nordseeweite Bestandserhebungen von 1994, 2005 und 2016 zeigen eine Verschiebung des Vorkommens von Norden in Richtung Süden der Nordsee. Neben dem Sylter Außenriff gewinnt damit seit einigen Jahren der Borkum Riffgrund zunehmend an Bedeutung. Den Ergebnissen des Monitorings nach hat
sich die Sichtung von Kälbern in diesem Bereich seit 2008 signifikant erhöht. Die Ursachen dieser Entwicklung sind noch unklar.
2.2.2 Bewertung nach TWSC (2017)
Im Jahr 2019 wurde der Bestand an Seehunden (Abb. 4) zwischen Den Helder/Niederlande und Esbjerg/Dänemark auf 40.800 Tiere geschätzt (Galatius et al. 2020). Für
die Jahre 2016 und 2018 waren die Gesamterfassungen unvollständig, da an den vereinbarten Monitoringterminen keine vollständigen Erhebungen möglich waren. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich der Seehundbestand in den beiden Jahren auf ähnlichem Niveau befand wie in den
Vorjahren
Abb. 4: Entwicklung der Seehundpopulation (Phoca vitulina) im Wattenmeer zwischen 1975 und 2020. PD-Virus = phocine distemper virus (CWSS).
Fig. 4: Trend of common seal population (Phoca vitulina) in the Wadden Sea between 1975 and 2020 (CWSS).
Die Kegelrobbe, in vergangenen Jahrhunderten im Wattenmeer ausgerottet, kehrte in den 1960er-Jahren zunächst vereinzelt ins Wattenmeer zurück. Ihr Bestand lag 2017/2018 bei 6.144 Kegelrobben und wird sowohl durch Geburten in der Region als auch durch Einwanderung von den
Britischen Inseln gespeist (Kloepper et al. 2017). Die im Wattenmeer existierenden Schutzmaßnahmen, wie Nationalparkausweisung und Befahrensverordnung, ist angesichts dieser Bestandsentwicklung als Erfolg zu werten. Die
Populationen der Robben im Wattenmeer gelten heute als „überlebensfähig“.
Die Schweinswale werden nicht trilateral koordiniert überwacht. Die Bewertung wird nach OSPAR übernommen.
2.2.3 Bewertung nach Natura 2000 (2019)
Im letzten Bericht nach FFH-RL (2013) wurde der Gesamtbestand an Schweinswalen in den deutschen Nordseegebieten mit 54.227 Tieren (30.079 – 104.186) angegeben (Ellwanger et al. 2015: 162). Dieser Bestand
hat sich in der aktuellen Berichtsperiode (2013 – 2018) auf 27.000 Tiere (16.450 – 45.906) halbiert (Ellwanger et al. 2020a: 174). Da diesem Rückgang sowohl ökologische Komponenten
(u. a. Verbreitung von Beuteorganismen) als auch anthropogen bedingte Gründe (z. B. Verschlechterung des Habitats, anthropogene Eingriffe, Reduzierung von Beuteorganismen) oder eine Kombination verschiedener Ursachen zugrunde liegen können, wurde der Zustand der
Population als „unbekannt“ bewertet (Tab. 1). Das Verbreitungsgebiet wurde als „günstig“, Habitatqualität und Zukunftsaussichten als „ungünstig-unzureichend“ und damit der Erhaltungszustand des Schweinswals insgesamt als
„ungünstig-unzureichend“ bewertet.
Tab. 1: Übersicht der Bewertungen der marinen Säugetiere nach Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL) aus den vergangenen Berichtszeiträumen. Erhaltungszustand: FV = günstig; U1 = ungünstig-unzureichend;
U2 = ungünstig-schlecht; XX = unbekannt.
Table 1: Assessments of marine mammals according to Habitats Directive in past reports. Conservation status: FV = favourable; U1 = unfavourable-inadequate; U2 = unfavourable-bad; XX = unknown.
|
|
Bewertung
|
Nordsee
|
Schutzgut
|
Parameter
|
2007
|
2013
|
2019
|
Schweinswal (Phocoena phocoena) | Verbreitung | FV | FV | FV |
Population | U1 | FV | XX |
Habitatqualität | U1 | U1 | U1 |
Zukunftsaussichten | XX | U1 | U1 |
Gesamt
|
U1
|
U1
|
U1
|
Zwergwal (Balaenoptera acutorostrata) | Verbreitung | | XX | XX |
Population | XX | XX |
Habitatqualität | XX | XX |
Zukunftsaussichten | XX | XX |
Gesamt
|
XX
|
XX
|
Weißschnauzen-Delfin (Lagenorhynchus albirostris) | Verbreitung | | XX | XX |
Population | XX | XX |
Habitatqualität | XX | XX |
Zukunftsaussichten | XX | XX |
Gesamt
|
XX
|
XX
|
Seehund (Phoca vitulina) | Verbreitung | FV | FV | FV |
Population | FV | FV | FV |
Habitatqualität | FV | FV | FV |
Zukunftsaussichten | FV | FV | FV |
Gesamt
|
FV
|
FV
|
FV
|
Kegelrobbe (Halichoerus grypus atlanticus) | Verbreitung | FV | FV | FV |
Population | U1 | FV | FV |
Habitatqualität | FV | FV | FV |
Zukunftsaussichten | FV | FV | FV |
Gesamt
|
U1
|
FV
|
FV
|
Der Bestand der Seehunde hat zwischen 2013 mit 18.083 – 21.950 und 2019 mit 16.430 Individuen ebenfalls abgenommen. Dieser Rückgang wird unter wissenschaftlichen Kriterien als Fluktuation der Populationsgröße interpretiert und hat keinen negativen Einfluss
auf den Erhaltungszustand (Tab. 1). Kegelrobben verzeichneten hingegen einen Anstieg ihrer Populationsgröße von 749 auf 1.179 Individuen. Beide vorkommenden Robbenarten befinden sich in einem günstigen
Erhaltungszustand, was auch für ihr Verbreitungsgebiet, die Habitatqualität und die Zukunftsaussichten gilt (Tab. 1). Zwergwale (Balaenoptera acutorostrata) und Weißschnauzen-Delfine (Lagenorhynchus albirostris) sind
wie alle Wale in Anhang IV der FFH-RL (92/43/EWG) gelistet, wurden aber bisher in den deutschen Bereichen der Nordsee auf Grund ihres unbeständigen Vorkommens nicht bewertet. Neuere Untersuchungen lassen aber auf ein regelmäßiges Vorkommen dieser Arten in den deutschen
Offshore-Gebieten rund um die Doggerbank schließen.
2.2.4 Bewertung nach MSRL (2018)
Verschiedene Schutzmaßnahmen in den deutschen Nationalparks haben dazu geführt, dass sich die Bestände der Kegelrobben und Seehunde derzeit auf einem Höchststand befinden. Ein Großteil der potenziellen Wurf- und Liegeplätze in der deutschen Nordsee werden heutzutage wieder
besiedelt und sind in vielen Bereichen u. a. durch Betretungsverbote und Befahrensregulierung geschützt.
Die Schweinswalpopulation der südlichen Nordsee hat mit dem Schutzgebiet „Sylter Außenriff“ sowie dem angrenzenden Walschutzgebiet im schleswig-holsteinischen Nationalpark für den Bestand bedeutsame Fortpflanzungsgebiete. Teile des Nationalparks stellen durch
Nutzungseinschränkungen einen Rückzugs- und Ruheraum für die Schweinswale dar.
Trotz der Einrichtung von Schutzgebieten sind menschliche Aktivitäten in der ausschließlichen Wirtschaftszone selten bis nicht reglementiert. Obwohl sich Kegelrobben und Seehunde derzeit in einem guten Zustand befinden, ist der Zustand der Schweinswale und damit nach dem
One-out-all-out-Prinzip im Sinne der MSRL der Zustand der marinen Säugetiere insgesamt als schlecht zu bewerten.
2.3 See- und Küstenvögel
Die deutschen Nordseegebiete sind ein Lebensraum von herausragender Bedeutung für See- und Küstenvögel verschiedener Artengruppen. Seetaucher, Meeresenten und -gänse, Watvögel, Möwen und Seeschwalben sowie Alkenvögel nutzen das Gebiet als Brutvögel, Durchzügler oder Wintergäste.
Insbesondere das Wattenmeer und Helgoland bieten vielen Arten Brut-, Mauser- und Ruheräume. Der – im Wattenmeer tideabhängig freifallende – Meeresboden wie auch die Wassersäule bieten wichtige Nahrungsressourcen. Allein den Wattenmeerbereich besuchen pro Jahr
ca. 10 Mio. Individuen von mehr als 70 Vogelarten.
Für das Vorkommen und die Artenzusammensetzung der See- und Küstenvögel in den deutschen Nordseegebieten stellen Fischerei, Schiffsverkehr, Müll und durch menschliche Aktivitäten eingeschleppte Prädatoren die Hauptbelastungen dar. Aber auch Bauwerke (u. a.
Offshore-Windparks), Sand- und Kiesabbau, Tourismus und militärische Aktivitäten stellen lokale Belastungen mit direkten und indirekten Wirkungen wie Störung, Tötung und Verlust von Lebensräumen dar. Problematisch sind dabei insbesondere die räumlichen Belastungen, die den Wechsel
der Tiere zwischen deren Nahrungs-, Rast- und/oder Bruthabitaten beeinträchtigen.
2.3.1 Bewertung nach OSPAR (2017)
Im OSPAR-Teilgebiet Greater North Sea liegen seit Ende der 1990er-Jahre die Brutpaarzahlen von mehr als 25 % der untersuchten Arten unter denen des Referenzjahrs 1992. Da ihre Anzahl kontinuierlich gesunken ist, weist dies darauf hin, dass sich die Brutpopulationen
vieler See- und Küstenvogelarten bereits seit Längerem in einem schlechten Zustand befinden. Den Rastvögeln der Nordsee geht es hingegen deutlich besser. Mehr als 75 % der betrachteten Arten übertreffen den als unteren Schwellenwert festgelegten Bestand von 1993 in jedem Jahr.
Der Zustand der Rastvögel gilt damit bei OSPAR als gut.
Nordseeweit sind v. a. Arten von ausbleibendem Bruterfolg betroffen, die sich von kleinen Fischen in der Nähe der Wasseroberfläche ernähren. Seevogelarten, die sich in tieferen Gewässern oder am Meeresboden ernähren, haben weitaus seltener Brutausfälle. Dieser Unterschied
hängt sehr wahrscheinlich mit der mangelnden Verfügbarkeit kleiner Futterfischarten (z. B. Kleiner Sandaal [Ammodytes marinus], Stint [Osmerus eperlanus] und Sprotte [Sprattus sprattus]) auf Grund ökosystemspezifischer Veränderungen, die möglicherweise
durch Fischerei, z. B. Sandaalfischerei, in Kombination mit dem Klimawandel ausgelöst wurden, zusammen. In Ästuarbereichen werden auch Auswirkungen von Unterhaltungsmaßnahmen für die Schifffahrt auf die Rekrutierung von Fischarten (z. B. Stint) diskutiert (BioConsult 2020). Prädation durch bodengebundene einheimische (Fuchs [Vulpes vulpes], Wanderratte [Rattus norvegicus]) wie nichteinheimische Räuber (Marderhund [Nyctereutes procyonoides]) oder durch andere Vögel wird lokal
als weitere Ursache gesehen. Ebenso können sich Störungen durch den Menschen negativ auswirken.
2.3.2 Bewertung nach TWSC (2017)
Die Daten aus dem TMAP (Kloepper et al. 2017) zeigen, dass 17 von 29 Brutvogelarten seit Beginn des Monitorings 1991 zurückgegangen sind. Damit werden die Ziele des Wattenmeerplans verfehlt. Dieser Trend wird bei
allen Artengruppen beobachtet, auch bei den Arten, für die das Wattenmeer ein wichtiges Brutgebiet ist, wie Rotschenkel (Tringa totanus), Austernfischer (Haematopus ostralegus), Flussseeschwalbe (Sterna hirundo; Abb. 5) und Säbelschnäbler (Recurvirostra avosetta). 9 Vogelarten, hauptsächlich koloniebrütende Arten, haben zugenommen.
Abb. 5: Flussseeschwalbe (Sterna hirundo).
Fig. 5: Common tern (Sterna hirundo).
(Foto: Mathias Putze)
Bei den Gastvögeln zeigen die Bewertungen, dass sich die Anzahl der Arten mit zurückgehendem Bestand zwischen 2004 und 2016 von 5 auf 16 der 34 betrachteten Arten erhöht hat. Insgesamt entspricht dies einem Verlust von rund 500.000 Individuen unter den
Zugvogelarten. Das Ziel „stabile oder steigende Zahlen“ wurde damit eindeutig nicht erreicht. Nur 5 Arten haben stetig zugenommen: Kormoran (Phalacrocorax carbo), Löffler (Platalea leucorodia), Weißwangengans (Branta leucopsis), Spießente (Anas
acuta) und Sandregenpfeifer (Charadrius hiaticula).
Für die Bewertung des Ziels „Schwankungen beim Nahrungsangebot werden durch natürliche Prozesse bestimmt“ zeigen die Ergebnisse, dass das Ziel für die Nahrungsgruppen „Muscheln“ und „Würmer/Benthos“ nicht erreicht wurde. Für die herbivoren und piscivoren Arten scheint das Ziel
erreicht zu sein. Für die beiden verbleibenden Gruppen („allesfressend“ und „andere wirbellose Tiere“) sind die Ergebnisse uneinheitlich.
2.3.3 Bewertung nach Natura 2000 (2019)
Die VRL weist Vogelarten aus, für die besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, um ihren Lebensraum und die Populationen zu erhalten. In der deutschen Nordsee kommen regelmäßig 20 der gelisteten Vogelarten vor. Davon werden 18 im Brut- und
Rastvogelmonitoring der TWSC erfasst und bewertet und die Ergebnisse in den Bericht nach VRL übernommen.
Der nationale Bericht nach VRL enthält Angaben zu Populationsgrößen und Bestandstrends sowie zu Verbreitung und Verbreitungsänderungen. Die angegebenen kurzfristigen (Zeitraum 12 Jahre) und langfristigen Trends (Zeitraum 25 Jahre) erlauben Aussagen über Zustand und
Entwicklung der Vogelarten (Sudfeldt et al. 2013), obwohl der Erhaltungszustand nicht direkt bewertet wird. Für die deutschen Nordseegebiete wurden diese Trends (zusätzlich zur Übernahme der TMAP-Bewertung für 18 Vogelarten)
für Stern- (Gavia stellata) und Prachttaucher (Gavia arctica) ermittelt. Unter den insgesamt auf dem Meer und in Küstengewässern nach Nahrung suchenden Arten zeigt die Mehrzahl moderate und starke Bestandszunahmen. Ursachen sind vermutlich v. a. Verlagerungen,
die zu höheren Rast- und Winterbeständen in Deutschland führen. Die hauptsächlich im Watt nach Nahrung suchenden Wasservogelarten weisen dagegen sowohl über den 24- als auch über den 12-Jahres-Zeitraum den höchsten Anteil an Arten auf, die im Bestand zurückgehen (Gerlach et al. 2019).
Die stärkste Beeinträchtigung und Gefährdung für See- und Küstenvögel geht von Fischerei und Meeresverschmutzungen aus. Hinzu kommen negative Einflüsse durch Schifffahrt und die Installation von Offshore-Windanlagen im Rahmen des Ausbaus erneuerbarer Energien (Grüneberg et al. 2017). Ein großer Teil der deutschen Küstengewässer wurde bereits unter Schutz gestellt, um Populationen und Lebensraum von See- und Küstenvögeln zu bewahren.
2.3.4 Bewertung nach MSRL (2018)
In den deutschen Nordseegebieten wurden 52 See- und Küstenvogelarten anhand ihrer Abundanz und ihres Bruterfolgs bzw. -ausfalls bewertet. Aktuell befinden sich 45 % von ihnen in einem schlechten Zustand. Diese Artbewertungen werden auf 5 funktionelle
Artengruppen übertragen (Benthos, Pelagial, Watt und Wasseroberfläche nutzende sowie herbivore Vögel). Da drei Gruppen negativ zu bewerten sind (Abb. 6), ist der gute Umweltzustand für die See- und Küstenvögel insgesamt nicht
erreicht. Insbesondere Arten, die sich an der Wasseroberfläche oder nach Muscheln tauchend ernähren, weisen einen schlechten Zustand auf. Die Ernährungsstrategien können jedoch nicht automatisch als Auslöser für den schlechten Zustand betrachtet werden, da in diesen Gruppen auch
Arten mit gutem Zustand vorkommen. Ein schlechter Zustand wurde beispielsweise insbesondere auch für die Watvögel festgestellt, die fast ausnahmslos als Rastvögel im Wattenmeer vorkommen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Beeinträchtigungen auf ihren Zugrouten zwischen
Nordsibirien und Südafrika, also außerhalb der deutschen Nordseegewässer, auftreten.
Abb. 6: Ergebnisse der Bewertung der funktionellen Artengruppen der See- und Küstenvögel für die deutschen Nordseegewässer nach Integration der Ergebnisse zu Abundanz und Bruterfolg. Bei 34 der 47 bewerteten Arten ging nur die Abundanz in das
Ergebnis ein. In Klammern (x/y) ist die Zahl der Arten in gutem Zustand (x) im Vergleich zu allen bewerteten Arten (y) angegeben (verändert aus BMU 2018).
Fig. 6: Assessment of functional groups of birds in the German North Sea after integrating the findings on abundance and breeding success. For 34 of the 47 species assessed, only abundance was integrated in the assessment. Numbers in brackets
(x/y) show the number of species in good status (x) in relation to all species assessed (y) (modified after
BMU 2018).
2.4 Biotope am Meeresboden
Der Meeresboden der deutschen Nordseegewässer lässt sich anhand der Tiefe und des Substrats in unterschiedliche Lebensräume einteilen (Abb. 7), die von einer großen Vielfalt in und auf dem Boden lebender Organismen besiedelt
werden. In Bezug auf die am Boden lebenden großen Algen und Seegräser (Makrophytobenthos) stellt die Anreicherung von Nährstoffen eine Hauptbelastung für Artenzusammensetzung, Vorkommen und Tiefenbesiedlung dar. Darüber hinaus kann die grundberührende Fischerei eine potenzielle
Gefahr für die erfolgreiche Rückkehr der Seegraswiesen in sublitoralen Bereichen der Nord- und Ostsee bedeuten. Diese Seegraswiesen sind auch im Kampf gegen den Klimawandel als bedeutende Kohlenstoffsenke (blue carbon) wichtig.
Abb. 7: Benthische Biotopklassen und andere Lebensraumtypen gemäß KOM-Beschluss 2017/848 der deutschen Nordsee (verändert aus BMU 2018).
Fig. 7: Broad habitat types and other habitat types according to COM decision 2017/848 in the German North Sea (modified after
BMU 2018).
Veränderungen in der Artenzusammensetzung, Abundanz und Biomasse der in und auf dem Meeresboden lebenden wirbellosen Tiere (Makrozoobenthos) sind meist durch mehrere Belastungen bedingt. Insbesondere sind die Anreicherung von Nährstoffen und die grundberührende
Fischerei zu nennen, allerdings haben auch natürliche und klimatische Schwankungen einen Einfluss. Die Effekte der Belastungen zeigen sich beim Makrozoobenthos meist in einer geringeren biologischen Vielfalt, weniger großen und langlebigen Arten sowie einer Zunahme kleiner Arten mit
großer Anpassungsfähigkeit und kurzer Lebensspanne, den Opportunisten.
Weitere Belastungen für die Makrophyten und das Makrozoobenthos sind durch Sand- und Kiesabbau, Versiegelung, Lichtmangel durch Eintrübungen, Schadstoffe und nichteinheimische Arten bedingt.
2.4.1 Bewertung nach OSPAR (2017)
Die OSPAR-Bewertung fokussiert insbesondere auf die Vielfalt und damit Qualität der benthischen sublitoralen Lebensgemeinschaften. Die Küstenbereiche zeigen gewöhnlich eine geringere und damit schlechte Qualität, vermutlich auf Grund relativ hoher Fischereiaktivität.
Offshore-Bereiche, insbesondere solche mit größerer Wassertiefe, zeigen eine höhere und damit gute Vielfalt. Der für die Bewertung verwendete Index reagiert besonders empfindlich auf Beeinträchtigungen durch Fischerei, Nähr- und Schadstoffe sowie Sedimentation.
2.4.2 Bewertung nach TWSC (2017)
Das Wattenmeer ist von einer sehr hohen natürlichen Dynamik des Meeresbodens gekennzeichnet, da dieser tideabhängig trockenfällt. So entstehen eulitorale und sublitorale Biotope, die überwiegend sandgeprägt sind, aber auch kleinräumige Hartstrukturen umfassen. Morpho- und
hydrodynamische Prozesse führen zu permanenten Veränderungen in Wassertiefe, Korngrößenverteilung sowie Topographie und verändern damit Lage und Ausprägung der Biotope. Diese instabilen, sich ständig verändernden Umweltbedingungen führen zu einer relativ geringen biologischen
Vielfalt bei gleichzeitig hoher Produktivität. Sublitorale Hotspots der biologischen Vielfalt bilden sich auf biogenen Strukturen wie Muschelbänken, Sabellaria-Riffen, Lanice-Feldern (Abb. 8) oder geogenen
Hartsubstraten.
Abb. 8: Röhrenwurm (Lanice conchilega) im Naturschutzgebiet „Borkum Riffgrund“.
Fig. 8: Sand mason worm (Lanice conchilega) in the Borkum Reef Ground marine nature conservation area.
(Foto: BfN)
In der Bewertung einzelner Biotope zeigt sich, dass insbesondere im südwestlichen und zentralen Wattenmeer Fläche und Bedeckungsgrad der Seegraswiesen Besorgnis erregend rückläufig sind (Kloepper et al. 2017). Die
Weichbodenbiotope wurden anhand der Gesamtbiomasse des Makrozoobenthos bewertet, die im Eulitoral relativ stabil ist. Auch die taxonomische und funktionale Gemeinschaftszusammensetzung des Makrozoobenthos zeigte keine Tendenz.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die mit dem Klimawandel einhergehenden Temperatur- und pH-Wert-Veränderungen die Rekrutierung von Benthosarten und damit auch die trophische Dynamik insgesamt verändern. Die konkreten Folgen für die Entwicklung der Benthospopulationen und deren
Prädatoren lassen sich allerdings nur schwer vorhersagen.
2.4.3 Bewertung nach Natura 2000 (2019)
Der Erhaltungszustand der in Meeresgewässern und Gezeitenzonen vorkommenden 5 Lebensraumtypen (LRT) nach FFH-RL ist überwiegend nicht günstig (Ellwanger et al. 2020b). Diese Bewertung basiert auf Einzelbewertungen zu den
Parametern „Verbreitungsgebiet“, „Fläche“, „spezifische Strukturen und Funktionen“ sowie „Zukunftsaussichten“. Während die großen Meeresarme und -buchten (LRT 1160) auf Grund einer Änderung der Bewertungsmethodik und unzureichender Datenlagen nicht bewertet werden konnten,
wurden Wattflächen (LRT 1140) mit einem günstigen Erhaltungszustand bewertet. Sandbänke (LRT 1110), Ästuare (LRT 1130) und Riffe (LRT 1170) sind in einem ungünstig-schlechten Erhaltungszustand. Der Zustand der Riffe hat sich im Vergleich zum dritten
nationalen FFH-Bericht (2007 – 2012) verschlechtert. Als Gründe werden v. a. die grundberührende Fischerei, die Schifffahrt sowie Nähr- und Schadstoffeinträge aus dem terrestrischen Bereich genannt.
2.4.4 Bewertung nach MSRL (2018)
Auf Grund der bereits nach anderen Übereinkommen und Richtlinien vorliegenden und im Rahmen der MSRL übernommenen und ergänzten Bewertungen benthischer Lebensräume erreichen die Biotope am Meeresboden derzeit nicht den guten Umweltzustand. Von den 10 bewerteten
Biotopen (entsprechend Beschluss 2017/848 der Europäischen Kommission) erreicht keiner den guten Zustand. 3 Biotope können derzeit noch nicht bewertet werden. Großräumige und dauerhafte Veränderungen des Meeresbodens werden als physischer Verlust definiert und können
durch Entnahme und Verbringung von Material entstehen. Zusammen mit anderen physikalischen Störungen (beispielsweise durch grundberührende Fischerei) gelten sie neben der Anreicherung von Nährstoffen als Hauptbelastungen für benthische Lebensräume.
2.4.5 Bewertung nach WRRL (2021)
Die benthischen Lebensräume im küstennahen Eu- und Sublitoral werden anhand der Qualitätskomponenten Makrozoobenthos (Weichbodenfauna im Watt und Sublitoral) und Makroalgen/Angiospermen (Seegraswiesen, opportunistische Grünalgenflächen und Salzwiesen) bewertet (Abb. 9). In der Regel wird bei den am und im Boden lebenden Organismen eine hohe Menge an eher großen und langlebigen Arten als gut bewertet, das Überwiegen opportunistischer und schnelllebiger Arten als schlecht. Das Makrozoobenthos
wird dabei v. a. anhand der Endofauna in sandigen oder schlickigen Weichböden bewertet, bei Helgoland v. a. anhand der Hartbodenfauna (Abb. 10). Beim Makrozoobenthos dominierten 2021 die mäßigen Zustände, in einigen
Gebieten sind aber auch gute und sehr gute Zustände erkennbar.
Abb. 9: Bewertung des Makrozoobenthos nach Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) 2021. Ästuare sind mit grauer Schraffur dargestellt.
Fig. 9: Assessment of macrozoobenthos according to Water Framework Directive (WFD). Estuaries are shown in single hatching.
(Quelle: https://www.wasserblick.net) (Source: https://www.wasserblick.net)
Abb. 10: Benthischer Lebensraum im Steingrund bei Helgoland. Zu sehen sind u. a. Tote Mannshand (Alcyonium digitatum), Essbarer Seeigel (Echinus esculentus), Gemeiner Seestern (Asterias rubens), Palmentang (Laminaria
hyperborea) und Klippenbarsch (Ctenolabrus rupestris).
Fig. 10: Benthic habitat in Steingrund near Helgoland. Visible are dead-man's fingers (Alcyonium digitatum), edible sea urchin (Echinus esculentus), common starfish (Asterias rubens), tangle (Laminaria hyperborea) and goldsinny
(Ctenolabrus rupestris).
(Foto: BfN)
Bei Makrophyten werden insbesondere langlebige Formen bewertet, die für eine Reihe assoziierter Organismen habitatbildend sind, hierunter v. a. Seegräser und Braune Tange der Gattung Fucus. In der Nordsee (Wattenmeer und Helgoland) können deren Bestände bei
Niedrigwasser meist in Gänze erfasst werden. Bei Helgoland gibt zusätzlich die untere Verbreitungsgrenze bestimmter Makroalgen Hinweise auf deren Bestandszustand. Hinzu kommen Parameter, die die Menge opportunistischer eutrophierungsanzeigender Makroalgen erfassen. Die Zustände der
Makroalgen und Angiospermen wurden im Jahr 2021 überwiegend als nicht gut bewertet, obwohl einzelne Gebiete im Wattenmeer und bei Helgoland den guten Zustand in den letzten Jahren durchaus erreichten.
3 Schlussfolgerungen
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der gute Zustand der marinen biologischen Vielfalt und insbesondere der Schutzgüter bis 2020 trotz klar definierter nationaler und internationaler Ziele nicht erreicht, in Teilen sogar deutlich verfehlt wurde und umgehend entsprechend
ambitionierte Maßnahmen zum Schutz und zur Zustandsverbesserung ergriffen werden müssen (siehe auch Krause et al. 2022, in dieser Ausgabe). So müssen insbesondere gefährdete Fischarten, wie marine Knorpel- und Wanderfische, als
Schutzgüter in die Schutzgebietsverordnungen aufgenommen und menschliche Aktivitäten in für diese Arten wichtigen Bereichen reglementiert werden. Zudem sind für die gesamte Fischfauna fischereiliche Regelungen, wie Gebietsschließungen, ökologisch verträglichere Fangtechniken und
ökologisch generierte Fangquoten, notwendig, um die Struktur und Funktion der Nahrungsnetze, also etwa die Artenvielfalt und damit die Regenerations- und Anpassungsfähigkeit zu verbessern. Auch die Einrichtung von Rückzugs- und Ruheräumen sowie die Generierung weitergehenden Wissens,
u. a. für dezidiertere Bewertungen und Maßnahmen hinsichtlich der Auswirkungen auf das Nahrungsnetz und das gesamte Ökosystem, sind zwingend erforderlich, um den Zustand der Fischfauna zu verbessern.
Neben den bereits vorgesehenen MSRL-Maßnahmen zum Schutz der marinen Säugetiere vor starken Impulsschalleinträgen (u. a. durch Rammungen bei der Errichtung von Windparks, aber auch durch Sprengungen) und Dauerschallbelastungen (u. a. durch Schiffsverkehr) sind dringend
weitere Rückzugs- und Ruheräume (für den Schweinswal) und Maßnahmen zur Verringerung des negativen fischereilichen Einflusses erforderlich. Das alleinige Walschutzgebiet im Nationalpark Schleswig-Holsteins ist als nicht ausreichend für die deutschen Nordseegebiete anzusehen.
Zur Verbesserung des Zustands von See- und Küstenvögeln sind Maßnahmen notwendig, die die Verfügbarkeit der jeweiligen Nahrungsgrundlage sichern, die Rückzugs- und Ruheräume schaffen, die für wandernde Arten bei der internationalen Kooperation zum Schutz der Zugwege ansetzen und
die weitergehendes Wissen zu Beifang, Verbreitung und Habitatqualität generieren. Hierfür ist auch ein regional koordiniertes und regelmäßiges nordseeweites Monitoring von Seevögeln auf See erforderlich, wie es für die Küstenvogelarten seit Jahrzehnten im TMAP etabliert ist.
Um den guten Zustand für Biotope am Meeresboden erreichen zu können, sind vorrangig Maßnahmen zur Regulierung der grundberührenden Fischerei sowie zur Verringerung der Nähr- und Schadstoffeinträge notwendig. Die flussbürtigen Einträge von Nähr- und Schadstoffen werden in den
Bewirtschaftungsplänen gemäß europäischer WRRL adressiert, atmosphärische Einträge von Stickstoff und ausgewählten Luftschadstoffen über Luftreinhaltepläne. OSPAR fokussiert zunehmend auf die Formulierung von Reduktionszielen für die Einträge von Müll, zusätzlich zu Nährstoffen. Die
Menge eher großer und langlebiger Arten, die am und im Meeresboden leben, muss zwingend durch entsprechende Maßnahmen erhöht werden. Vordringlich sind diese in Schutzgebieten durch den Ausschluss von Nutzungen umzusetzen, aber auch lokal außerhalb von Schutzgebieten zum Schutz bzw.
zur Erholung und Wiederbesiedlung besonderer, kleinräumiger benthischer Lebensräume und Lebensgemeinschaften (z. B. biogene Riffe, artenreiche Kies-, Grobsand- und Schillgründe).
Für die Stärkung und Erhaltung der marinen biologischen Vielfalt sind somit nach wie vor umfängliche Maßnahmenprogramme erforderlich (vgl. auch Krause et al. 2022 in dieser Ausgabe). Diese müssen einerseits die
Lebensbedingungen für die geschützten Arten verbessern, z. B. durch die Reduzierung von Belastungen und den effizienten Schutz des jeweiligen Lebensraums. Andererseits müssen sie dazu führen, dass der Zustand der Organismen selbst verbessert und gestärkt wird, z. B.
durch gezielte art- oder populationsbezogene Regelungen.
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