Franziska Junge, Kathrin Ammermann, Michael Räder und Alexander Schroeder
Zusammenfassung
Mit Verabschiedung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) im Jahr 2008 besteht neben der Verpflichtung zum Zustandsmonitoring auch eine Verpflichtung, die menschlichen Nutzungen der Meeresumwelt systematisch zu erfassen und deren Entwicklung zu dokumentieren. Die
vielfältigen Nutzungen, die in der deutschen Nordsee und insbesondere in den Schutzgebieten stattfinden, und die daraus resultierenden Belastungen für Arten und Habitate sind Gegenstand dieses Beitrags. Die unterschiedlichen Nutzungsansprüche können zu Konflikten untereinander
sowie mit dem Meeresumwelt- und Meeresnaturschutz führen. Somit befinden sich die Schutzgebiete der Nordsee in einem ständigen Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Nutzung und dem Schutz der Naturgüter. In diesem Beitrag kann nur ein allgemeiner Überblick gegeben werden, eine
schutzgebietsspezifische Darstellung findet sich z. B. auf den Internetseiten der für die Schutzgebiete jeweils zuständigen Behörden.
Menschliche Aktivitäten – Meeresnutzungen – Belastungen – Auswirkungen für die Meeresumwelt – Nordsee – Schutzgebiete – Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL)Abstract
With the adoption of the Marine Strategy Framework Directive (MSFD) in 2008, in addition to the obligation to monitor status there is also an obligation to systematically record human activities in the marine environment and document their development. This article provides
an overview of the diverse activities that take place in the German North Sea, particularly in the protected areas, and the resulting pressures on species and habitats. The various utilisation claims can lead to conflicts among themselves or with marine environmental protection
and marine nature conservation. The protected areas of the North Sea are thus in a constant state of conflict between economic use and the protection of natural assets. This article can only provide a general overview; a more detailed analysis for each protected area can be found
on the websites of the authorities responsible for the protected areas.
Human activities – Uses – Pressures – Impacts on marine environment – North Sea – Protected areas – Marine Strategy Framework Directive (MSFD)Inhalt
1 Einführung
Während das Zustandsmonitoring im Meer auf eine lange Tradition zurückblicken kann, gibt es erst mit der Verabschiedung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) im Jahr 2008 auch eine Verpflichtung, für die gesamten Meeresgebiete die menschlichen Nutzungen der
Meeresumwelt systematisch zu erfassen und deren Entwicklung zu dokumentieren. Weiterhin spielt die marine Raumordnung hier eine zentrale Rolle, die u. a. darauf abzielt, auf einer übergeordneten Ebene alle (geplanten) menschlichen Aktivitäten auf dem Meer zu erfassen,
vorhandene Nutzungskonflikte zu minimieren sowie zukünftigen Problemen vorzubeugen. Rechtsgrundlage für die Aufstellung von Raumordnungsplänen ist das Raumordnungsgesetz des Bundes (ROG), das 2004 auf die ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) ausgeweitet und zuletzt 2017 in Umsetzung
der Richtlinie der Europäischen Union (EU) zur maritimen Raumplanung angepasst wurde (BSH 2021a).
Der gesamte Nordseeraum, einschließlich der darin liegenden Schutzgebiete, unterliegt einer Vielzahl von Nutzungen und Aktivitäten, die sich teilweise räumlich überlagern und in Konkurrenz zueinander stehen. Neben den traditionellen Nutzungen Schifffahrt und Fischerei gewinnen
weitere Nutzungen der marinen Räume wie der Ausbau der Offshore-Windenergienutzung oder die Verlegung von Rohrleitungen und Seekabeln an Bedeutung. Diese vielfältigen Nutzungsansprüche können zu Konflikten untereinander, aber v. a. auch mit dem Meeresumwelt- und
Meeresnaturschutz führen, da sie sehr häufig mit Belastungen für Arten und Habitate einhergehen. Somit befinden sich die Schutzgebiete der Nordsee in einem ständigen Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Nutzung und dem Schutz der Naturgüter.
In diesem Artikel kann nur ein allgemeiner Überblick über Nutzungen und Aktivitäten in der Meeresumwelt bzw. in Bezug auf alle Schutzgebiete der Nordsee gegeben werden. Er basiert in wesentlichen Teilen auf den Bewertungen von Nutzungen und Aktivitäten und deren Auswirkungen, die
im Rahmen der MSRL-Berichtspflichten vorgenommen und von Deutschland an die EU gemeldet wurden (BMU 2018), sowie auf den Bestandserfassungen, die im Rahmen des Gebietsmanagements für die Natura-2000-Gebiete erstellt wurden (BfN 2017). Letztere enthalten sehr umfangreiche und ausführliche Zusammenstellungen von Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf alle relevanten Schutzgüter der Schutzgebiete in der AWZ der Nordsee. Weitere detaillierte schutzgebietsspezifische
Darstellungen finden sich z. B. auf den Internetseiten der für die Schutzgebiete jeweils zuständigen Behörden, u. a. auf der Website des Bundesamtes für Naturschutz (siehe BfN 2021). Einen Eindruck von der räumlichen Verteilung
der verschiedenen Nutzungen und deren Dichte vermitteln die Karten I und II in Abb. 1 und Abb. 2.
Abb. 1: Nutzungen und Aktivitäten in der deutschen Nordsee. Die abgebildeten Informationen geben einen Überblick auf Basis der genannten Datenquellen und dienen dazu, einen Eindruck über die Dichte der in der deutschen Nordsee und den Schutzgebieten
stattfindenden Nutzungen und Aktivitäten zu vermitteln. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Schiffsbewegungen und Fischereiaktivitäten sind nicht dargestellt, ebenso wenig sehr kleinflächige Aktivitäten wie Flächen der Muschelkulturwirtschaft und
Verbringungsstellen für Baggergut. AWZ = ausschließliche Wirtschaftszone, BSH = Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, SKN = Seekartennull.
Fig. 1: Human activities in the German North Sea. The information in the map provides an overview based on the data sources mentioned above in order to give an impression of the density of the uses and activities taking place in the German North Sea and the
protected areas. They do not claim to be complete. Ship movements, fishing activities and very small-scale activities such as areas for shellfish culture and dumping areas for dredged material are not shown. AWZ = exclusive economic zone (EEZ),
BSH = Federal Maritime and Hydrographic Agency, SKN = nautical chart zero.
Abb. 2: Intensität der Belastung durch bodenberührende Fischerei auf den Meeresböden in der deutschen Nordsee 2017. Die Belastung ist als SAR angegeben, die den Anteil der pro Jahr befischten Fläche einer definierten Zelle angibt bzw. die Anzahl der
Befischungen pro Jahr. Eine SAR von 1 bedeutet, dass theoretisch die gesamte Zellenfläche einmal befischt wurde. AWZ = ausschließliche Wirtschaftszone, OSPAR = Oslo-Paris-Konvention, SAR = Swept Area Ratio.
Fig. 2: Intensity of the impact of bottom-contacting fisheries on the seafloor in the German North Sea in 2017. The impact is given as swept area ratio (SAR), which indicates the proportion of the area fished per year of a defined cell or the number of times
it is fished per year. A SAR of 1 means that the entire cell area was fished once. AWZ = exclusive economic zone (EEZ), OSPAR = Oslo-Paris Convention.
2 Nutzungen und Aktivitäten in der deutschen Nordsee und deren Auswirkungen
In den deutschen Meeresgebieten einschließlich der darin liegenden Schutzgebiete finden Nutzungen und Aktivitäten statt, die übergeordneten, d. h. internationalen, europäischen oder nationalen Regelungen unterliegen (siehe Abschnitt 2.1). Für Nutzungen, Aktivitäten und Vorhaben im Meer können zudem verschiedene Zulassungsverfahren nach unterschiedlichen fachrechtlichen Grundlagen sowie Umweltprüfungen erforderlich sein (siehe Abschnitt 2.2). In den Meeresschutzgebieten sind aber besondere Maßstäbe an diese Verfahren anzulegen, z. B. sind die Vorhaben auf die Vereinbarkeit mit den Schutzzielen der jeweiligen Schutzgebietsverordnungen bzw. auf die Verträglichkeit mit den
Erhaltungszielen eines Natura-2000-Gebiets (Fauna-Flora-Habitat[FFH]-Verträglichkeitsprüfung) zu prüfen. Weiterhin wirken auf die Meeresgebiete auch Einflüsse von außen ein, die nicht innerhalb des einzelnen Schutzgebiets selbst geregelt werden können, z. B. landseitige
Nährstoffeinträge (siehe Abschnitt 3).
2.1 Nicht zulassungspflichtige Nutzungen und Aktivitäten
In diesem Abschnitt werden die Nutzungen und Aktivitäten beschrieben, die in der gesamten deutschen Nordsee einschließlich der Schutzgebiete stattfinden und die keinen spezifischen Zulassungsverfahren unterliegen, sondern allgemeinen internationalen, europäischen oder nationalen
Regelungen folgen. Zu den einzelnen Nutzungen und Aktivitäten werden deren wesentliche Auswirkungen auf die Meeresumwelt benannt (vgl. auch Tab. 1).
Tab. 1: Übersicht über menschliche Nutzungen/Aktivitäten und deren Auswirkungen in der Meeresumwelt und den Meeresschutzgebieten (Quelle: verändert nach WG GES 2015; BfN
2017).
Table 1: Overview of human activities and their impacts in the marine environment and the marine protected areas (source: modified after WG GES 2015; BfN 2017).
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Nutzungen/Aktivitäten
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Wirkungen/Belastungen
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Auswirkungen auf physikalische Bedingungen
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Auswirkungen auf hydrologische Bedingungen
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Auswirkungen auf biologische Komponenten
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Stoffliche Einträge
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Einträge von Energie
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Verlust und Störung des Meeresbodens
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Änderung hydrographischer Bedingungen
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Einträge von Wasser (Prozesswasser)
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Entnahme von Wasser
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Trübung
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Entnahme von Arten/Fang von Ziel- und Nichtzielarten
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Störung von Arten (inkl. visuell)
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Barrierewirkung
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Kollisionsrisiko
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Eintrag nicht einheimischer Arten
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Eintrag von Pathogenen
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Eintrag von Nährstoffen/organischen Stoffen
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Eintrag von Schadstoffen
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Eintrag von Abfällen
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Eintrag von Impulsschall
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Eintrag von Dauerschall
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Eintrag von Wärme
|
Eintrag von Licht
|
Eintrag von elektromagnetischen Feldern
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Berufsschifffahrt | | | | | | | + | + | + | + | + | + | + | + | | + | | | |
Freizeitschifffahrt | | | | | | | + | | + | + | + | + | + | + | | + | | | |
Luftverkehr | | | | | | | + | | + | | | | + | | | + | | | |
Berufsfischerei | Grundberührende Fischerei | + | | | | + | + | + | | | | | | + | + | | + | | | |
Pelagische Schleppnetzfischerei | | | | | | + | + | | | | | | + | + | | + | | | |
Stellnetzfischerei | + | | | | | + | + | | | | | | + | + | | + | | | |
Reusen und Fallen | + | | | | | + | + | | | | | | + | + | | + | | | |
Freizeitfischerei | + | | | | | + | + | | | | | | + | + | | + | | | |
Tourismus (ohne Infrastruktur) | | | | | | | + | | | | | | | + | | + | | | |
Militärische Aktivitäten | + | | | | + | | + | | + | | | | + | + | + | + | | | |
Militärische Altlasten und deren Beseitigung | + | | | | + | | + | | | | | | + | + | + | + | | | |
Offshore-Windenergieanlagen | t/d | | | | t | | t/d | t/d | t/d | | | | t/d | t/d | t | t/d | | t/d | |
Kabel, Rohrleitungen und Pipelines | t | | | | t | | t | t | t | | | | t | t | | t | d | | d |
Öl- und Gasförderung | t/d | | d | | t | | t/d | | t/d | | | | t/d | t/d | t | t/d | | t/d | |
Erkundung von Öl- und Gasvorkommen | | | | | | | t | | t | | | | | | t | t | | | |
Sand- und Kiesgewinnung | t/d | | | | t | | t | | t | | | | t | | | t | | | |
Fahrrinnenunterhaltung einschl. Verbringung der Sedimente | t/d | | | | t | | t | | t | | | | t | | | t | | | |
Landwirtschaft | | | | | | | | | | | | + | + | | | | | | |
Siedlungsgebiete | | | | | | | | | | | | + | + | + | | | | | |
Industrie | | | | | | | | | | | | | + | + | | | | | |
Aquakultur | | | + | + | | | | | | + | + | + | + | | | | | | |
Hinweis: Alle dargestellten Nutzungen und Aktivitäten finden in der gesamten deutschen Nordsee und in unterschiedlichem Maße auch in den Meeresschutzgebieten statt. Zum Teil erfolgen sie unmittelbar in den Schutzgebieten, zum Teil wirken sie in die
Schutzgebiete hinein. Eine gebietsspezifische Differenzierung und Zuordnung ist in dieser überblicksartigen Darstellung nicht möglich. Hierzu sind detaillierte Informationen u. a. aus den Managementplänen der einzelnen Schutzgebiete zu gewinnen, die
z. B. über die Internetseiten der für die Verwaltung der Schutzgebiete zuständigen Behörden verfügbar sind.
Erläuterung:
+ = Auswirkungen (potenziell) vorhanden Für zulassungspflichtige Vorhaben: t temporäre Wirkung (v. a. während der Bauphase); d dauerhafte Wirkung (durch Anlage und Betrieb) Für alle Eintragungen +, d und t gilt: Genannt sind Auswirkungen, die eine Aktivität potenziell haben kann, je nach Intensität und Ausführung kann diese Auswirkung stärker oder schwächer ausfallen oder im Einzelfall gar nicht vorhanden sein
(z. B. aufgrund besonders umweltschonender Methoden und Verfahren) bzw. können auch weitere Wirkungen möglich sein. |
Die Schifffahrt findet grundsätzlich nahezu im gesamten deutschen Meeresgebiet und auch in den Meeresschutzgebieten statt. Der kommerzielle Seeverkehr (Abb. 3) in der deutschen Nordsee konzentriert sich v. a. auf die
Verkehrstrennungsgebiete vor den ostfriesischen Inseln, weiter seewärts gelegene Vorranggebiete für die Schifffahrt (vgl. auch BSH 2021b) und die Anfahrten zu den Seehäfen (siehe auch Abb. 1).
Eine dieser Hauptrouten verläuft auch durch das Naturschutzgebiet (NSG) „Borkum Riffgrund“. Ansonsten verlaufen die Hauptschifffahrtsstraßen eher außerhalb der Schutzgebiete. Die Schifffahrt umfasst darüber hinaus Fähr- und Ausflugsschiffe, Fischereifahrzeuge sowie Verkehre im
Zusammenhang mit der Rohstoff- und Energiegewinnung, Forschung und militärischen Aktivitäten. Hinzu kommt die Freizeitschifffahrt, die sich eher in küstennäheren Gewässern und damit auch in den Wattenmeernationalparks (Weltnaturerbe der Organisation der Vereinten Nationen für
Bildung, Wissenschaft und Kultur, UNESCO) konzentriert.
Abb. 3: Containerschiff.
Fig. 3: Container ship.
(Foto: Wera Leujak)
Auswirkungen des Schiffsverkehrs sind v. a. Emissionen von Stickoxiden und anderen Schadstoffen sowie von Unterwasserlärm. Solche dauerhaften Belastungen durch Schallemissionen können z. B. Verhaltensänderungen bei Schweinswalen (Phocoena phocoena) auslösen
(Teilmann et al. 2013). Über Ballastwasser und Schiffsrumpfbewuchs können gebietsfremde Arten eingeschleppt werden. Hinzu kommt, v. a. in der kommerziellen Seeschifffahrt, das Risiko größerer Havarien mit massiven
Verseuchungen durch Öl oder andere umweltgefährdende Stoffe und mit schwerwiegenden Auswirkungen für die Meeresumwelt, wie z. B. die Verölung von Seevögeln.
Regelungen bzw. Einschränkungen der Schifffahrt sind auf Gebietsebene nur begrenzt möglich. Insbesondere in Bezug auf den internationalen Seeverkehr bedürfen Regelungen gewöhnlich eines Antrags an die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (International Maritime
Organization, IMO).
In nahezu der gesamten deutschen Nordsee und allen Meeresschutzgebieten findet Fischerei statt, wenn auch mit verschiedenen Methoden und in unterschiedlicher Intensität. Wie Abb. 2 zeigt, wird in vielen Bereichen jeder
Quadratmeter mehrfach pro Jahr mit Grundschleppnetzen befischt. Vorherrschend ist die kommerzielle Fischerei mit unterschiedlichen Schleppnetzen – von pelagischen Schleppnetzen ohne Grundkontakt über Grundscherbrettnetze und leichte Baumkurren zum Garnelenfang bis hin zu
schweren Baumkurrengeschirren für die Plattfischfischerei sowie Muscheldredgen. Schwerpunkte intensiver Fischerei in der AWZ finden sich auch in Schutzgebieten wie dem NSG „Doggerbank“ und in Teilen des NSG „Sylter Außenriff“ (BfN 2017). Die
Garnelenfischerei konzentriert sich v. a. vor den Inseln und Küsten und damit auf die Wattenmeernationalparks. Hinzu kommen in geringerem Umfang die Industriefischerei hauptsächlich von Sandaalen (nicht für den menschlichen Verzehr) sowie die Stellnetzfischerei.
Letztere findet z. B. auf der Doggerbank, dem Sylter Außenriff und zum Teil in den Nationalparks statt. Lokal, z. B. bei Helgoland, kommen auch Krebskörbe zum Einsatz. Im küstennahen Bereich spielt zudem die Freizeitfischerei eine Rolle.
Auswirkungen der Fischerei entstehen durch die Entnahme von Zielarten, den Beifang (Nichtzielarten) sowie die Beeinträchtigung des Meeresbodens. Die Entnahme von Ziel- und Nichtzielarten kann, v. a. wenn sie intensiv betrieben wird, erhebliche negative Effekte auf die
Bestände dieser Arten (Überfischung) haben. So befinden sich z. B. die Bestände von Kabeljau (Gadus morhua), Wittling (Merlangius merlangus), Seezunge (Solea solea), Makrele (Scomber scombrus) und Sandaalen (Ammodytidae) derzeit nicht in einem guten
Zustand (BMU 2018). Über Nahrungsnetze kann die Überfischung auch Auswirkungen auf andere Schutzgüter wie Meeressäugetiere (BfN 2017) oder Seevögel (Cury et al.
2011) haben. Vor allem in Stellnetzen besteht die Gefahr des Beifangs mariner Säugetiere und tauchender Seevögel, die darin verenden. Grundberührende Fischerei wirkt auf den Meeresboden und dessen Flora und Fauna ein. Grundschleppnetze, v. a. die schweren
Plattfisch-Baumkurrengeschirre mit zahlreichen Scheuchketten, verursachen massive Störungen des Meeresbodens und verletzen oder töten zahlreiche Arten der Bodenfauna. Die in weiten Meeresgebieten beobachtete Dominanz opportunistischer Arten und der Rückgang oder das Verschwinden
langlebiger und riffbildender Arten in der Meeresbodenfauna werden zu großen Teilen der intensiven, jahrzehntelangen grundberührenden Fischerei zugeschrieben (Jennings et al. 1999).
Grundsätzlich sind nur wenige Flächen von der kommerziellen Fischerei ausgenommen. Dies gilt z. B. für Offshore-Windparks, die aus Sicherheitsgründen bisher nicht befahren werden dürfen, sowie kleinflächige Fischereiausschlusszonen in den Nationalparks.
Fischereibeschränkungen, die für alle zugangsberechtigten Fischer gelten, sind grundsätzlich nur im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) der EU zu regeln. So werden Fangquoten vereinbart, um Bestände von Zielarten zu erhalten, aber auch räumliche Ausschlussgebiete sind
möglich. Nur innerhalb der 3-Seemeilen-Zone können rein nationale Regelungen erfolgen. Von niederländischen Gewässern entlang der gesamten deutschen Küste bis nach Dänemark spannt sich die sog. Schollenbox, ein Plattfischschutzgebiet der EU, das seit 1994 für größere Baumkurrenkutter
geschlossen ist (TI 2021) und auch große Teile des NSG „Borkum Riffgrund“ und die küstennäheren Bereiche des NSG „Sylter Außenriff“ sowie die Wattenmeernationalparks beinhaltet.
Muschelfischerei bzw. Muschelkulturwirtschaft finden in den Küstengewässern innerhalb der Wattenmeernationalparks in Niedersachsen und Schleswig-Holstein statt und sind dort in unterschiedlichem Ausmaß durch Managementpläne und Zulassungen geregelt.
Tourismus ist an den Küsten der deutschen Nordsee nicht zuletzt durch die küstennahen Nationalparks einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Durch touristische Angebote wird das Meer erlebbar, und der Tourismus kann so zur Akzeptanz und Wertschätzung einer intakten Natur
beitragen. Dies ist insbesondere dann ein Gewinn, wenn beispielsweise durch Besucherlenkung ein nachhaltiger und sanfter Tourismus sichergestellt wird, der besonders sensible Gebiete ausspart. Tourismus ist jedoch auch ein potenzieller Belastungsfaktor, z. B. durch Störungen,
Habitatbeeinträchtigungen oder Einträge von Müll als Belastung für marine Organismen (BMU 2018).
Teile der deutschen AWZ und des Küstenmeers einschließlich der Meeresschutzgebiete werden für militärische Übungen temporär genutzt. Unter anderem finden Schießübungen, Minenlegen und Minenjagd, die seemännische und fliegerische Ausbildung sowie die U-Boot-Tauchausbildung
statt, wodurch es zeitweise zu verstärkten Lärmeinträgen kommen kann (BMU 2018). Hinzu kommen militärische Altlasten, d. h. nicht detonierte Munition und nach Ende des Zweiten Weltkriegs versenkte Kampfmittel. Aus aktuell
vorliegenden Forschungsergebnissen ist abzuleiten, dass im Bereich munitionsbelasteter Meeresgebiete von einem erhöhten Gefährdungspotenzial für die Meeresumwelt auszugehen ist, das u. a. vor dem Hintergrund fortschreitender Korrosion der Ummantelungen noch nicht vollständig
abschätzbar ist. Eine räumlich begrenzte Belastung für die Meeresumwelt kann durch detonationsbedingte Schockwellen und Schallwellen auftreten. Im Falle gezielter Vernichtungssprengungen kann diese Belastung durch den Einsatz von Schallminderungsmaßnahmen, z. B. einem
Blasenschleier, minimiert werden (BMU 2021).
Auch tief fliegender Flugverkehr, u. a. zur Versorgung der Offshore-Windparks oder im Zusammenhang mit helikoptergestützten Rettungsübungen, touristischen Aktivitäten sowie militärischen Übungen und Patrouillen, findet regelmäßig in den gesamten Meeresgebieten
statt. Neben akustischen Belastungen kann dieser auch visuelle Störungen mit sich bringen. Diese haben im Zusammenspiel mit Luftschall v. a. ein hohes Störpotenzial für Seevögel, die mit Verhaltensänderungen, Auffliegen und/oder Verlagerung des Aufenthaltsorts reagieren
(BfN 2017).
2.2 Zulassungspflichtige Vorhaben
Neben den oben beschriebenen Nutzungen und Aktivitäten werden in den marinen Schutzgebieten auch genehmigungspflichtige Vorhaben zur Energiegewinnung, zur Schaffung von Infrastruktur sowie zur Entnahme und Einbringung von Sedimenten umgesetzt. Im Folgenden werden die für die
Nordseeschutzgebiete relevanten Vorhaben zunächst benannt und im Anschluss ihre Auswirkungen auf die Meeresumwelt beschrieben.
Offshore-Windparks (Abb. 4) sollen einen wesentlichen Beitrag zur Energieversorgung Deutschlands aus erneuerbaren Energien leisten. Offshore-Windenergieanlagen (OWEA) sowie die jeweiligen Netzanbindungen samt Plattformen und
Konvertern werden im Zuge von Planfeststellungsverfahren genehmigt. Ein Windpark, der bereits 2002 genehmigt wurde, liegt im heutigen FFH-Gebiet „Sylter Außenriff“. Die übrigen bisher errichteten Offshore-Windenergieanlagen befinden sich außerhalb von Meeresschutzgebieten. Allerdings
grenzen mehrere Windparks direkt an die Schutzgebiete an und wirken daher auch in sie hinein – sowohl während der Bauphase als auch im Betrieb. Ein weiterer Ausbau in den Meeresschutzgebieten wird durch die Raumplanung überwiegend ausgeschlossen. Ob weitere Potenziale für die
Windenergienutzung auf der Doggerbank im Einklang mit Naturschutzzielen realisierbar sind (4 – 6 Gigawatt), sollen Gutachten klären (BSH 2021b). In den Wattenmeernationalparks ist die Errichtung von OWEA über
die Nationalparkgesetze und über die Raumplanung gesetzlich ausgeschlossen.
Zahlreiche Kabel, Rohrleitungen und Pipelines queren die Nordsee und auch die Meeresschutzgebiete, um Erdgas, Strom bzw. Daten zu transportieren, sowohl mit dem Ziel einer Anlandung in Deutschland als auch als Transitleitung. Dabei werden in der Nordsee verstärkt eine
Bündelung der Anbindung mehrerer auch grenzüberschreitender Windparks und eine Erhöhung der Transportkapazität pro Kabel angestrebt. Aus Gründen der Sicherheit und zur Vermeidung einer Sedimenterwärmung in der oberen, besiedelbaren Sedimentschicht werden die Kabel überwiegend in den
Meeresboden eingespült, eingepflügt oder eingegraben. Rohrleitungen werden darüber hinaus – je nach Einzelfall – auch auf dem Meeresboden abgelegt. Alle Typen von Leitungen queren auch marine Schutzgebiete und Nationalparks in der Nordsee. Eine besondere Herausforderung stellt
die Anlandung von Kabeln und Pipelines dar, da geeignete Räume hierfür nur begrenzt zur Verfügung stehen.
Auf der Doggerbank in der AWZ wird seit dem Jahr 2000 auf einer Plattform Gas und Gaskondensat gefördert. Die Bohr- und Förderinsel Mittelplate im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer stellt die einzige Anlage zur Ölförderung in der deutschen
Nordsee dar. Die Berechtigung läuft bis 2041. Auf Grund ihrer Lage im Nationalpark ist jegliche Einleitung von Stoffen untersagt. Zu erwähnen ist bei diesen Anlagen v. a. das Risiko von Unfällen, die nicht ausgeschlossen werden können und gegenüber deren Auswirkungen
die Schutzgebiete hochsensibel sind.
Der Abbau von Sand und Kies wird in der Nordsee bereits seit vielen Jahrzehnten betrieben. Während die für den Küstenschutz vorgesehenen Sande in der Regel küstennah (also im Küstenmeer) entnommen werden, werden gewerblich genutzte Kiese und Sande oft auch küstenfern
abgebaut. Die Gewinnung findet in der Regel durch Befahrung der Flächen mit Schiffen (sog. Saugbagger) statt, die das Substrat am Boden „einsaugen“. In der AWZ liegen aktuell im FFH-Gebiet „Sylter Außenriff“ zwei Bewilligungsfelder für den gewerblichen Abbau von Kiesen und Sanden.
Mit Stand 2020 ist jedoch lediglich in einem Teilfeld der tatsächliche Abbau genehmigt. In den Wattenmeernationalparks erfolgt der Abbau von Sand und Kies hauptsächlich für Maßnahmen des Küstenschutzes sowie in geringem Umfang zur Versorgung der Inseln und Halligen mit Sand
auf der Basis befristeter Genehmigungen, wie etwa im derzeitigen Bewilligungsfeld Westerland III (Schleswig-Holstein).
Die immer größer werdenden Frachter der Seeschifffahrt bedingen eine zunehmende Vertiefung und Unterhaltung der Fahrrinnen, die den Zugang zu den deutschen Seehäfen bilden. In den Hauptfahrrinnen der Ästuare von Ems, Jade, Weser und Elbe, für deren Erhaltung der
Schiffbarkeit im Wesentlichen die Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes (WSV) zuständig ist, erfolgt dies teilweise durch Mobilisierung der Sedimente mit Hilfe des Wasserinjektionsverfahrens oder durch eine Ausbaggerung eingetragener Sedimente, verbunden mit der
Verbringung des Materials auf ausgewiesene Klappstellen. Dies gilt auch im Wattenmeer mit seiner hohen morphologischen Dynamik. Dort erfordert die Erhaltung der Zufahrten zu den kleineren Häfen eine kontinuierliche Unterhaltung der Zufahrtswege und der Hafenbecken.
Allen genannten Vorhaben in den Meeresgewässern ist gemein, dass von ihnen verschiedene Auswirkungen auf die Schutzgüter ausgehen. Im Folgenden werden wesentliche Wirkfaktoren der Vorhaben (teilweise haben mehrere Vorhaben ähnliche Wirkungen, teilweise sind sie sehr
spezifisch) mit ihren Auswirkungen auf die Meeresumwelt exemplarisch beschrieben (vgl. auch Tab. 1). Hier ist zwischen temporären Auswirkungen, die mit der Bauphase verbunden sind, und dauerhaften Auswirkungen, die durch die Anlage (das
Bauwerk) und den Betrieb entstehen, zu unterscheiden.
Vor allem während der Bauphase von Anlagen (z. B. OWEA), insbesondere bei Rammungen, treten temporär impulshafte Schalleinträge auf. Die Schallwellen können zu einer Schädigung des Gehörs und/oder zu erheblichen Störungen von Meeressäugetieren, insbesondere
Schweinswalen, führen (z. B. Lucke et al. 2009). Auch seismische Untersuchungen zur Erkundung des Untergrunds können bei entsprechender Intensität Meeressäugetiere schädigen.
Für einige rastende Vogelarten, wie Seetaucher, kann die Offshore-Windenergienutzung durch die Kulissenwirkung und Drehbewegungen der Rotoren zu dauerhaften Lebensraumverlusten führen, die z. B. für Seetaucher bis in 10 km Entfernung zu den Anlagen reichen,
so etwa in Teilen des Vogelschutzgebiets „Östliche Deutsche Bucht“ im NSG „Sylter Außenriff – Östliche Deutsche Bucht“ (Garthe et al. 2018).
Beleuchtete Infrastrukturanlagen wie die ca. 200 m hohen OWEA erhöhen das Kollisionsrisiko für über Wasser ziehende Vogelarten, und zwar insbesondere in Situationen, in denen starker Vogelzug stattfindet und die Witterungsbedingungen ungünstig sind. Nachtzieher
gelten dabei als besonders gefährdet, da davon ausgegangen wird, dass Vögel bei Nacht die Anlagen nur eingeschränkt wahrnehmen können und zudem von deren Beleuchtung eine anziehende Wirkung auf die Tiere ausgeht (Welcker, Vilela 2020). Zum
tatsächlichen Ausmaß gibt es nur wenige Zahlen, ebenso zu zeitlichen und räumlichen Zugmustern im Offshore-Bereich. In einer aktuellen Studie von Welcker, Vilela (2020) werden Prognosen des regionalen und lokalen Vogelzugs über Nord- und
Ostsee in Abhängigkeit von Saisonalität und Wetterbedingungen sowie das kumulative Vogelschlagrisiko an OWEA analysiert und modelliert.
Wird der Meeresboden durch Bauwerke im Meer überbaut, gehen Habitate dauerhaft verloren. Wenn bei Baggerguteinbringungen Meeresboden überdeckt wird oder die Sedimente bei der Sand- und Kiesgewinnung oder der Unterhaltung von Fahrrinnen so tief abgebaut werden, dass
oberflächlich andere Substrate zurückbleiben, kann dies ebenfalls zur erheblichen Störung oder sogar zum Verlust von Habitaten führen. Dies wäre v. a. dann der Fall, wenn Schlüsselarten verschwinden, die biogene Biotope wie Miesmuschelbänke oder Sabellaria-Riffe
schaffen, oder wenn durch Veränderungen der Morphologie des Meeresbodens und der hydrologischen Bedingungen die natürlichen Lebensräume mit ihrem typischen Arteninventar verloren gehen.
Durch die Bauwerke selbst, ihren Kolkschutz (zur Stabilisierung des Fundamentbereichs) sowie die Überdeckung von Kabeln mit Steinschüttungen wird künstlich Hartsubstrat eingebracht, was die natürlichen abiotischen Bedingungen und somit auch die Biozönose in den betroffenen
Bereichen verändern kann. Stromableitende Kabel können zu einer Erwärmung des Bodens führen. Mögliche Folgen sind z. B. die Meidung der betroffenen Bereiche durch bestimmte Arten bzw. durch einzelne Entwicklungsstadien sowie veränderte Aktivität und Veränderungen der
Artengemeinschaften (BMUB 2016).
Vorübergehend entstehen bei nahezu allen genannten Vorhaben baubedingte Trübungsfahnen, die negative Effekte auf Fauna und Flora der Wassersäule und des Meeresbodens haben können.
Zur Vermeidung und Verminderung der genannten vorhabenbedingten Beeinträchtigungen liegen inzwischen umfangreiche Planungsgrundsätze und Schutzkonzepte vor, deren Umsetzung im Rahmen der Genehmigungsverfahren Standard ist. Zu nennen sind z. B. die Anwendung von
Schallschutzmaßnahmen bei Rammungen (BMU 2013) oder technische Maßnahmen zur Verminderung des Kollisionsrisikos. Ein näheres Eingehen auf diese Konzepte ist an dieser Stelle nicht möglich. Informationen dazu kann man auf den Internetseiten der
für Genehmigungsverfahren zuständigen Behörden finden, beispielsweise beim Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) und BfN, zudem auf den Websites der Landesumweltministerien und der diesen
nachgeordneten Behörden.
3 Weitere Belastungen der Meeresumwelt: Aktivitäten außerhalb der Meere, Einträge in die Meere
Aus den Einzugsgebieten der Nordsee wirken insbesondere Einträge von Nähr- und Schadstoffen auf die marinen Ökosysteme ein. Effekte der Eutrophierung, d. h. einer zu hohen Nährstoffanreicherung in den Gewässern, sind u. a. Massenvermehrungen opportunistischer Algen,
verringerte Lichteindringtiefen, ein lokaler Rückgang der Seegrasflächen und -bewuchsdichte und Sauerstoffmangel (BMU 2018).
Schadstoffe sind nach wie vor in umweltschädlichen Konzentrationen in der Nordsee nachzuweisen. Sie können sich in Sedimenten und Meeresorganismen anreichern. Sie werden von den Organismen über die Nahrungskette aufgenommen und können deren Fitness beeinträchtigen. Derzeit
sind bei Weitem noch nicht alle ökologischen Effekte von Schadstoffen erforscht, v. a. über die Wirkung von Mischtoxizitäten auf Organismen und über das Zusammenwirken stofflicher Belastungen und zusätzlicher Stressoren ist noch wenig bekannt (BMU 2018).
Müll im Meer und an den Küsten ist auch in der deutschen Nordsee weit verbreitet (OSPAR 2017). Einen großen Anteil machen dabei Kunststoffabfälle aus. Insbesondere die kleinen Fragmente bis hin zu Mikroplastik sind inzwischen in
allen Kompartimenten der Meeresumwelt nachzuweisen, d. h. in der Wassersäule, im Sediment und in Tieren. Unter anderem wurden sowohl Mikro- als auch Makropartikel in den Mägen von Fischen (u. a. Lenz et al. 2016; Rummel et al. 2016) sowie in Wirbellosen wie Muscheln und Schnecken, Krabben und Wattwürmern im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer nachgewiesen (Fischer 2018). Abfälle, die in die
Meeresumwelt gelangen, haben negative Auswirkungen auf Meereslebewesen, z. B. in Form von Verletzungen, Verstrickungen und Verschlucken, sowie auf Habitate, z. B. durch Bedeckung. Bei Basstölpeln (Morus bassanus) auf Helgoland macht beispielsweise die
Sterblichkeit durch Verstrickung etwa ein Viertel der Gesamtmortalität aus (BMU 2018).
Bisher sind bereits über 100 eingeschleppte gebietsfremde Arten in den deutschen Nordseegewässern bekannt, und jährlich werden es mehr. Neben den natürlichen oder klimatisch bedingten Prozessen der Ausbreitung von Arten werden viele Organismen heute durch menschliche
Aktivitäten verschleppt, u. a. durch Ballastwasser, Aufwuchs auf den Rümpfen von Schiffen, durch Aquakultur oder aus Aquarien. Viele dieser Arten fügen sich ohne große Änderungen in das heimische Ökosystem ein, einige können je nach Umweltbedingungen in bestimmten Gebieten
aber auch massive Veränderungen in den Ökosystemen verursachen und wirtschaftliche und gesundheitliche Schäden verursachen. Voraussagen hierzu sind mit sehr großen Unsicherheiten verbunden. Die Ausbreitung der zu Aquakulturzwecken eingeführten Pazifischen Auster (Magallana
gigas) hat beispielsweise das ökologische Gefüge, aber auch das Erscheinungsbild des Wattenmeers stark verändert. In den letzten Jahren hat sich der eingeschleppte Tüten-Kalkröhrenwurm (Ficopomatus enigmaticus) in den ostfriesischen Häfen ausgebreitet und führt durch
massiven Aufwuchs auf Hafenanlagen und Bootsrümpfen zu zunehmenden Problemen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Sobald sich eingeschleppte gebietsfremde Arten bei uns etabliert haben, besteht für Bekämpfungsmaßnahmen im offenen marinen System keine Aussicht auf Erfolg (Sambrook et al. 2014), daher ist die Verhinderung der anthropogenen Einschleppung weiterer Arten unbedingt anzustreben.
Neben den o. g. direkten Belastungen ist auch der anthropogen bedingte Klimawandel ein zu berücksichtigender Faktor. Durch die damit verbundene Erwärmung der Erdatmosphäre verändert sich auch die Meeresumwelt, was zuletzt im Sonderbericht des Weltklimarats
(Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) über den Ozean und die Kryosphäre (IPCC 2019) noch einmal deutlich gemacht wurde. Der globale Anstieg der Temperaturen ermöglicht eine Ausbreitung von Arten, die an höhere Temperaturen
angepasst sind. Die Versauerung der Meere durch angestiegene CO2-Konzentrationen beeinflusst biologisch-chemische Prozesse, die die Lebensbedingungen zahlreicher Arten stark verändern. Auch die Fähigkeit der Watten und Vorländer, bei den derzeit erwarteten Anstiegsraten
des Meeresspiegels mit der gleichen Geschwindigkeit mitzuwachsen, ist nicht sicher gegeben, was einen Verlust von Teilen dieser Lebensräume zur Folge haben kann (vgl. MELUR 2015). Klimatische Einflüsse verursachen somit vielfältige Änderungen
auch in den marinen Ökosystemen. Diese Prozesse werden durch natürliche Schwankungen und ökologische Interaktionen überprägt und wirken gleichzeitig mit den Belastungen durch menschliche Aktivitäten im Meeresbereich, so dass sich die maßgeblichen Gründe für die zu beobachtenden
Veränderungen in den marinen Systemen nicht immer eindeutig identifizieren lassen.
4 Kumulative Wirkungen
Die verschiedenen Belastungen durch menschliche Aktivitäten wirken nicht isoliert. Sie können sich räumlich und zeitlich überlagern und in ihren Auswirkungen gegenseitig beeinflussen. Über diese Wirkmechanismen und deren kumulative und synergetische Wirkungen auf die Ökosysteme
ist derzeit nur wenig bekannt. Zum Beispiel ist der kumulative Einfluss verschiedener anthropogener Belastungen auf die marinen Säugetiere schwer quantifizierbar (u. a. Herr 2009), er gilt jedoch als äußerst wahrscheinlich. So können
etwa gesundheitliche Beeinträchtigungen auf Grund von Schadstoffbelastungen bei marinen Säugetieren zusammen mit der Belastung und Verscheuchung durch Störfaktoren wie Lärm oder mit einer Verschlechterung des Beuteangebots insgesamt zu Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands
führen (BMU 2018). Die Berücksichtigung der wichtigsten kumulativen und synergetischen Wirkungen, wie von der MSRL gefordert, ist daher ein wesentlicher Aspekt einer ökosystembasierten Bewertung. Oftmals bietet die Datenlage für diese
Fragestellungen jedoch noch keine ausreichende flächendeckende oder zeitliche Auflösung. Es bedarf weiterer Forschung zu Methoden, um diese Effekte in einer ökosystembasierten Bewertung darzustellen, sowie einer erweiterten Monitoringstrategie, um bessere Kenntnisse zur Verteilung
und Intensität menschlicher Nutzungen und Aktivitäten sowie zu deren Auswirkungen zu erlangen. Eine zunehmend intensivere Nutzung und multiple Einträge müssen wegen ihrer möglichen kumulativen Wirkungen zumindest kritisch begleitet und soweit möglich minimiert werden.
5 Informationsaustausch
Aktuell wird über den Expertenkreis Human Activities der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Nord- und Ostsee (BLANO) in Zusammenarbeit mit der Marinen Dateninfrastruktur Deutschland (MDI-DE) ein Programm erarbeitet, um eine Vielzahl von Datenquellen über menschliche
Nutzungen des Meeres zusammenzuführen und diese über Datendienste mit freien Lizenzen (Open Data) bereitzustellen. Dies umfasst verschiedenste Datenformen aus Forschung und Verwaltung, statistische Daten und Modellergebnisse. Ziel ist es, Daten zu Nutzungen und Aktivitäten in den
deutschen Meeresgebieten als Grundlage für verschiedene Bewertungskonzepte (z. B. zur Beeinträchtigung des Meeresbodens) und für assoziierte Projekte (u. a. im Rahmen kumulativer Belastungsbewertungen) zentral zusammenzustellen und aktuell öffentlich verfügbar zu
machen.
6 Fazit und Ausblick
Angesichts einer anhaltend hohen bzw. zunehmenden Anzahl von Nutzungen und Vorhaben in den Meeren ist eine räumliche und zeitliche Regelung der Aktivitäten essenziell. Instrumente dafür sind z. B. die marine Raumordnung und die Aufstellung und Umsetzung von
Gebietsmanagementplänen. Bei Bau und Betrieb von Projekten sind neben einer sorgfältigen Standortwahl die standortbezogenen Beeinträchtigungen so weit wie möglich durch entsprechende Maßnahmen zu vermeiden. Da auch die Meeresschutzgebiete, wie oben dargestellt, ähnlich den übrigen
Meeresflächen einer Vielzahl von menschlichen Belastungen unterliegen, kommt der weitgehenden Freihaltung der marinen Schutzgebiete von regelbaren Nutzungen, ggf. mit entsprechenden Pufferflächen, und somit der Schaffung von Rückzugs- und Ruheräumen eine wesentliche Bedeutung für die
Erreichung eines guten Umweltzustands der Meeresökosysteme zu.
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