Simone Wulf
Zusammenfassung
Biodiversitätsmainstreaming bezeichnet die Berücksichtigung der biologischen Vielfalt in Politiken und Praktiken, die von ihr
abhängen und sich auf sie auswirken. Der Beitrag zeigt das breite Spektrum von Anknüpfungspunkten der EU-Biodiversitätsstrategie (EBS)
für 2030 für das systematische Biodiversitätsmainstreaming in die Politik der Europäischen Union (EU) auf. Die EBS adressiert über ihre
ambitionierten, quantitativen Zielstellungen und vielseitigen Schlüsselmaßnahmen wichtige Wirtschaftssektoren, die die biologische
Vielfalt in der EU bislang beeinträchtigen. Für die Umsetzung der EBS setzt die EU-Kommission verschiedenste Politikinstrumente ein,
von rein kooperativen bis zu rechtlich verbindlichen Instrumenten, von denen über die Hälfte einen programmatischen Sektorbezug
aufweisen. Zudem wird das organisatorische Mainstreaming in der EU-Kommission gestärkt, u. a. durch neue Governanceansätze und
Finanzierungsziele der EBS. Das Beispiel der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) zeigt jedoch auch die Herausforderungen des
Mainstreamings auf EU-Ebene auf. Über den Mainstreaming- und Umsetzungserfolg der EBS wird ihre normative Signalwirkung als
Kommunikationsinstrument gegenüber den EU-Mitgliedstaaten entscheiden.
EU-Biodiversitätsstrategie – Mainstreaming – Integration der Umweltpolitik – Politikzyklus – Gemeinsame Agrarpolitik – Europäische UnionAbstract
Biodiversity mainstreaming refers to integrating biodiversity into policies and practices that rely on and have an impact on it.
This article highlights the wide range of entry points of the EU Biodiversity Strategy (EBS) for 2030 for systematic biodiversity
mainstreaming into EU policies. Through its ambitious, quantitative targets and multifaceted key measures, the EBS addresses important
economic sectors that have so far impaired biodiversity in the EU. For its implementation, the EU Commission uses a wide range of
policy instruments, from purely cooperative to legally binding, more than half of which have a programmatic sectoral relevance. In
addition, organisational mainstreaming in the EU Commission is strengthened e. g. through new governance approaches and funding targets
of the EBS. However, the example of the Common Agricultural Policy (CAP) also demonstrates the challenges of mainstreaming at EU level.
The mainstreaming and implementation success of the EBS will be determined by its normative impact as a communication tool influencing
the EU member states.
EU Biodiversity Strategy – Mainstreaming – Environmental Policy Integration – Policy cycle – Common Agricultural Policy – European UnionInhalt
1 Einleitung
Konventionelle Naturschutzmaßnahmen allein reichen nicht aus, um den rapide voranschreitenden Biodiversitätsverlust in der
Europäischen Union (EU) aufzuhalten. Um eine Trendwende zu erreichen, ist ein tiefgreifender,
transformativer Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft vonnöten (ENCA 2021). Eine Voraussetzung
hierfür ist, dass die biologische Vielfalt und die von ihr erbrachten Leistungen in angemessener und ausreichender Weise in Politiken und
Praktiken, die von ihr abhängen und sich auf sie auswirken, berücksichtigt werden – dies wird als Mainstreaming der biologischen Vielfalt
oder Biodiversitätsmainstreaming (engl. biodiversity mainstreaming) bezeichnet (CBD 2018; siehe
auch Karlsson-Vinkhuyzen et al. 2017; Ludwig et al.
2020).
Kasten 1: Erläuterungen der Abkürzungen.
Box 1: Explanations of the abbreviations.
CBD Übereinkommen über die biololgische Vielfalt (engl. Convention on Biological Diversity)
EBS EU-Biodiversitätsstrategie
EPI Integration der Umweltpolitik (engl. Environmental Policy Integration)
EU Europäische Union
F2F EU-Agrar- und Lebensmittelstrategie „Vom Hof auf den Tisch“ (engl. Farm to Fork)
GAP Gemeinsame Agrarpolitik der EU
KOM Europäische Kommission
MFR Mehrjähriger Finanzrahmen
Das Konzept des Biodiversitätsmainstreamings wurde in den letzten Jahren stark durch Prozesse im Rahmen des Übereinkommens über die
biologische Vielfalt (engl. Convention on Biological Diversity – CBD) geprägt (siehe Abb. 1; vgl.
Ludwig et al. 2020). Deren Vertragsparteien (darunter Deutschland und die EU) sind
verpflichtet, nationale Strategien und Aktionspläne für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt zu entwickeln
(UN 1992, Artikel 6a). Die Konvention gibt zudem vor, dass die Erhaltung und nachhaltige
Nutzung der biologischen Vielfalt in sektoralen und sektorübergreifenden Politiken (Artikel 6b) sowie in nationalen Entscheidungsfindungen
(Artikel 10a) berücksichtigt werden sollen. Im Jahr 2010 erlangte der Mainstreamingbegriff durch das erste strategische Ziel der globalen
Aichi-Ziele der CBD weltweite Bekanntheit: „Address the underlying causes of biodiversity loss by mainstreaming biodiversity across
government and society“ (Bekämpfung der Ursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt durch die Einbeziehung der biologischen
Vielfalt in alle Bereiche von Staat und Gesellschaft; CBD 2010). Weiterhin bekannten sich 2016 die
CBD-Vertragsparteien mit der Erklärung von Cancún dazu, durch die Aktualisierung und Umsetzung ihrer nationalen Biodiversitätsstrategien
das Mainstreaming der biologischen Vielfalt zu stärken (CBD 2016).
Abb. 1: Zeitleiste der Entwicklung ausgewählter strategischer Ziele für den Schutz und das Mainstreaming der biologischen
Vielfalt auf EU- und globaler Ebene.
Fig. 1: Timeline of the development of selected strategic targets for the protection and mainstreaming of biodiversity at EU
and global level.
Auf EU-Ebene gehen Bemühungen zum Mainstreaming unter dem Begriff der „Integration der Umweltpolitik“ (engl. Environmental Policy
Integration – EPI) schon auf die EU-Umweltaktionsprogramme der 1980er-Jahre zurück (Lenschow 2002;
vgl. Runhaar et al. 2014Abb. 1). Seit 1998 veröffentlicht
die EU-Kommission (KOM) einmal pro Dekade eine EU-Biodiversitätsstrategie (EBS), um ihren Verpflichtungen als CBD-Vertragspartei
nachzukommen und EU-weite Ziele für den Schutz der biologischen Vielfalt vorzulegen (). Bereits der Biodiversitäts-Aktionsplan der EU für
2010 sowie die EBS für 2020 hatten zum Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt in der EU einzudämmen bzw. aufzuhalten, doch in beiden
Fällen wurden diese Ziele verfehlt (KOM 2010; EEA
2020).
Für die Erreichung der Ziele der EBS ist in erster Linie deren nationale Umsetzung seitens der EU-Mitgliedstaaten entscheidend. Da
die EBS rechtlich unverbindlich ist (engl. soft law), kann die KOM auf eine nationale Umsetzung nur begrenzt Einfluss nehmen. Jedoch
bietet auch die EU-Politik selbst wichtige Stellschrauben, bspw. mit Blick auf das Biodiversitätsmainstreaming in die Gemeinsame
Agrarpolitik der EU (GAP) und andere Sektorpolitiken, die die biologische Vielfalt bislang beeinträchtigen. Schon 2010 gestand die KOM in
ihrer Abschlussbewertung des gescheiterten Aktionsplans ein, dass bei der Integration von Biodiversitätsaspekten in andere Politikbereiche
mehr Fortschritte erzielt werden müssten (KOM 2010). Auch die Ziele der Strategie für 2020 wären
nur durch eine effektivere Integration mit einem weiten Spektrum von Politikbereichen zu erreichen gewesen, durch Festlegung kohärenter
Prioritäten und untermauert mit angemessener Finanzierung (KOM 2015). Dies unterstreicht den
anerkannten Mainstreamingbedarf auf EU-Ebene.
Die aktuelle EBS für 2030 wurde am 20.5.2020 veröffentlicht, mit dem Leitziel, die biologische Vielfalt der EU bis 2030 auf den Weg
der Erholung zu bringen (KOM 2020a). Inhaltlich ist sie als sehr umfassend und ambitioniert zu
bewerten (siehe Krüger 2020). Sie gibt EU-weite Ziele für den Schutz und die Wiederherstellung der
biologischen Vielfalt vor, darunter 17 zentrale Verpflichtungen für 2030, die überwiegend deutlich konkreter und messbarer sind als die
Ziele der vorherigen EBS für 2020. Insbesondere in ihrem „EU-Plan zur Wiederherstellung der Natur“ adressiert sie verschiedene
Wirtschaftssektoren mit überwiegend quantitativen und zeitgebundenen Zielvorgaben. Zudem umfasst sie sektorübergreifende Maßnahmen und
Instrumente, die einen transformativen Wandel ermöglichen sollen. Den Anhang der EBS bildet ein Aktionsplan mit 39 Schlüsselmaßnahmen, zu
deren Umsetzung sich die KOM selbst verpflichtet.
Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, das breite Spektrum von Anknüpfungspunkten der aktuellen EBS für 2030 für das systematische
Mainstreaming der biologischen Vielfalt auf EU-Ebene aufzuzeigen. Hierfür werden organisatorische Prozesse, Governance- und
Finanzierungsansätze beleuchtet sowie die im Aktionsplan der Strategie genannten Schlüsselmaßnahmen analysiert. Am Fallbeispiel der
EU-Agrarpolitik werden zudem Umsetzungserfolge und -schwierigkeiten ausgewertet und Potenziale für die normative Mainstreamingwirkung der
EBS-Ziele diskutiert.
2 Mainstreaming im Kontext der EBS für 2030
Fachliteratur zur Bewertung von EPI oder Mainstreamingbemühungen fokussiert sich oftmals auf Governanceprozesse innerhalb nationaler
Regierungen oder zwischen nicht-staatlichen Akteuren (z. B. Runhaar et al. 2014; Wamsler 2015; Karlsson-Vinkhuyzen et al. 2017, 2018). Cots et al. (2017) dagegen haben Kriterien speziell für
die Bewertung von Biodiversitätsmainstreaming in die EU-Kohäsionspolitik entwickelt. Demnach muss Mainstreaming umfassend und systematisch
sein, d. h. Biodiversitätsbelange müssen in unterschiedliche Phasen des Politikzyklus integriert und verschiedene Arten des Mainstreamings
abgedeckt werden, darunter u. a. finanzielles Mainstreaming bzw. die Bereitstellung ausreichender Mittel (Cots et al. 2017). Wie in Abb. 2 dargestellt, bietet die EBS Ansatzpunkte für
organisatorisches Mainstreaming durch verbesserte horizontale und vertikale Kooperation innerhalb der KOM, programmatisches Mainstreaming
durch Integration von Biodiversitätsbelangen in Politikinstrumente der EU und regulatorisches Mainstreaming entlang des gesamten
Politikzyklus (Terminologie angepasst nach Wamsler 2015).
Abb. 2: Ansatzpunkte für organisatorisches, programmatisches und regulatorisches Biodiversitätsmainstreaming in der
EU-Politik.
Fig. 2: Entry points for organisational, programmatic and regulatory biodiversity mainstreaming in EU policies.
2.1 Organisatorisches und finanzielles Mainstreaming
Die Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt stehen als Kernelement des europäischen Grünen Deals hoch auf der
politischen Agenda der KOM (KOM 2019). Dieser wurde im Dezember 2019 durch
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgelegt und ist die erste der sechs Leitlinien der KOM für die aktuelle
Legislaturperiode. Die aktuelle EBS zählt als ein Kerninstrument des Grünen Deals.
Für die Umsetzung des Grünen Deals wurde der EU-Politiker Franz Timmermans als erster exekutiver Vizepräsident der KOM
berufen. Unter ihm fallen erstmalig neben den Generaldirektionen Klima und Umwelt u. a. auch die Generaldirektionen Landwirtschaft,
Transport und Energie in den Zuständigkeitsbereich eines Vizepräsidenten – eine gute Voraussetzung für verbesserte horizontale und
vertikale Kooperation zu Biodiversitätsthemen innerhalb der KOM. Die EBS wurde mit allen Generaldirektionen ressortabgestimmt und wird
somit von der gesamten KOM getragen.
Um das organisatorische Biodiversitätsmainstreaming auf EU-Ebene weiter zu verbessern, kündigte die EBS u. a. die Entwicklung eines
neuen Governancerahmens für die biologische Vielfalt an. Dieser soll laut Strategie „die gemeinsame Verantwortung und die gemeinsame
Beteiligung aller relevanten Akteure in Bezug auf die Erfüllung der Biodiversitätsverpflichtungen der EU gewährleisten“ (KOM 2020a). Hierfür wurde u. a. eine neue „EU Biodiversity Platform“ eingerichtet, die die bisherige
„Coordination Group for Biodiversity and Nature“ als Gremium von Expertinnen und Experten ablöst und dem Austausch der KOM mit
Vertreterinnen und Vertretern der Mitgliedstaaten sowie verschiedener Verbände und Interessenvereinigungen dient. Weiterhin wurden neue
Überwachungs- und Überprüfungstools veröffentlicht, die eine kontinuierliche Bewertung der Umsetzungsfortschritte der EBS sowie ggf.
erforderliche Korrekturmaßnahmen ermöglichen sollen. Mit diesem neuen Ansatz kann nicht nur Druck auf die Mitgliedstaaten bei der
Umsetzung von Maßnahmen ausgeübt werden, er erlaubt auch eine adaptivere Politikgestaltung.
Für die erfolgreiche Umsetzung von Biodiversitätsmainstreaming ist zudem die Bereitstellung finanzieller Mittel entscheidend
(Cots et al. 2017; Karlsson-Vinkhuyzen et al. 2018). In
der EBS für 2030 wird hierfür erstmals eine quantitative Angabe gemacht: Es sollen jährlich mindestens 20 Mrd. € für Ausgaben zugunsten
der Natur bereitgestellt werden.
Im Rahmen der Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2021 – 2027 der EU wurde das Ziel vereinbart „dass im Jahr 2024
7,5 % und in den Jahren 2026 und 2027 jeweils 10 % der jährlichen Ausgaben im Rahmen des MFR für Biodiversitätsziele bereitgestellt
werden“ (EU 2020). Dabei handelt es sich nicht um ein strenges Reservieren von Geldern für den
Schutz der Biodiversität (engl. ringfencing), sondern um eine Nachverfolgung der Ausgaben (engl. earmarking). Die genannten Ziele sind ein
wichtiger erster Schritt und zukünftiger Hebel für die Bewertung und Anpassung relevanter Budgetlinien, auch wenn die bisherigen
Anrechnungskriterien teils in der Kritik stehen (siehe Nesbit et al. 2022). Bisher machen
Agrarfördermittel den Großteil der als biodiversitätsrelevant bezeichneten EU-Ausgaben aus (KOM
2022a), obwohl deren tatsächlicher Nutzen für den Biodiversitätsschutz fragwürdig ist (ECA
2017). Im Onlineauftritt der KOM wird die entsprechende MFR-Vereinbarung dennoch als ein aktueller Haupterfolg im Bereich
Biodiversitätsmainstreaming dargestellt (KOM 2022a).
2.2 Programmatisches und regulatorisches Mainstreaming
Die im Aktionsplan der EBS genannten programmatischen Schlüsselmaßnahmen der KOM umfassen ein breites Spektrum an Politikinstrumenten
(siehe Abb. 3). Zugleich setzen sie regulativ an verschiedensten Punkten im Politikzyklus der EU
an, von der Problemdefinition durch Studien über Formulierung von Gesetzesvorschlägen bis hin zu neuen Wissens- und Monitoringsystemen
(siehe Tab. A im Online-Zusatzmaterial ).
Von den 11 Schlüsselmaßnahmen mit Bezug zu verbindlichem Recht (Kategorien 1 und 2 in Abb. 3)
ist die überwiegende Mehrheit der reinen Naturschutzpolitik zuzuordnen. Ausnahmen wie z. B. der neue delegierte Rechtsakt zur
Taxonomieverordnung (Finanzwirtschaft) oder der neue Verordnungsvorschlag für entwaldungsfreie Produkte (Forstwirtschaft) waren bereits
vor Veröffentlichung der EBS in Planung. Als besonders bedeutend ist der in der EBS erstmalig angekündigte Gesetzesvorschlag für
verbindliche EU-Ziele zur Wiederherstellung der Natur zu bewerten, auch wenn es sich dabei nicht direkt um eine Mainstreamingmaßnahme
handelt. Im Juni 2022 wurde ein entsprechender Verordnungsentwurf durch die KOM vorgelegt. Die Entwicklung einer solch umfassenden neuen
Naturschutzgesetzgebung auf EU-Ebene ist höchst selten, da der Handlungsspielraum hierfür nicht nur durch die Grundsätze der Subsidiarität
und Proportionalität, sondern auch durch die bestehende EU-Gesetzgebung und nicht zuletzt durch die politischen Verhältnisse in den
Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament begrenzt ist.
Abb. 3: Klassifizierung der Schlüsselmaßnahmen des Aktionsplans der EU-Biodiversitätsstrategie (EBS) für 2030 nach Art der
Politikinstrumente und der primär betroffenen Wirtschaftssektoren (neben dem in allen Fällen betroffenen Natur- und
Umweltschutzsektor).
Fig. 3: Classification of the key measures listed in the Action Plan of the EU Biodiversity Strategy for 2030 according to the
type of policy instruments and of primarily affected economic sectors (besides the nature conservation and environmental sector,
which is affected in all cases).
Rechtlich unverbindliche Sektorstrategien und Aktionspläne (Kategorie 3 in Abb. 3) stellen
ein klassisches Instrument für das programmatische Mainstreaming von Biodiversitätsbelangen in andere Wirtschaftssektoren dar. Die EBS für
2030 wurde gemeinsam mit der neuen EU-Agrar- und Lebensmittelstrategie „Vom Hof auf den Tisch“ (engl. Farm to Fork – F2F) veröffentlicht,
was als starkes politisches Signal für das Aufbrechen der beiden bisher stark voneinander isolierten Politikfelder bezeichnet wurde
(Gerritsen et al. 2020). In den Schlüsselmaßnahmen der EBS wurden u. a. eine neue
EU-Waldstrategie, eine neue EU-Strategie für nachhaltiges Finanzwesen und eine neue EU-Bodenstrategie angekündigt, die mittlerweile
vorliegen und wichtige Ziele für die Erhaltung der biologischen Vielfalt beinhalten. Der Fischereisektor soll über einen neuen Aktionsplan
adressiert werden.
Im Gegensatz zur vorherigen EBS für 2020 wird in der aktuellen EBS erstmalig auch der Energiesektor explizit adressiert, u. a. durch
Schlüsselmaßnahmen wie die Erstellung von Leitlinien und Studien (Kategorien 4 und 5 in Abb. 3)
zur energetischen Nutzung forstlicher Biomasse. Auch übergreifende Maßnahmen mit Bezug zu verschiedenen Wirtschaftssektoren, z. B. die
Unterstützung beim Aufbau der EU-Bewegung „Business for Biodiversity“ (Kategorie 5 in Abb. 3),
werden in der EBS genannt. Insgesamt stehen über die Hälfte ihrer Schlüsselmaßnahmen (22 von 39) in direktem Bezug zu mindestens einem
weiteren Wirtschaftssektor neben dem klassischen Natur- und Umweltschutz (Abb. 3).
2.3 Mainstreaming am Beispiel des EU-Agrarsektors
Der Landwirtschaftssektor ist ein Haupttreiber des Biodiversitätsverlusts in der EU (EEA
2020). Der Versuch der Integration von Biodiversitätsbelangen in die GAP reicht daher schon weit zurück – von der Verpflichtung
zur Bereitstellung von Fördermitteln für freiwillige Agrarumweltmaßnahmen 1992 über Cross-Compliance-Regelungen 2003 bis zur Einführung
des Greeningmechanismus zur Erbringung zusätzlicher Umweltleistungen 2013. In der Praxis hat jedoch selbst der Greeningmechanismus keine
signifikanten Verbesserungen im Umwelt- oder Naturschutz gebracht (ECA 2017).
In der EBS für 2030 wird der Agrarsektor explizit adressiert. 5 ihrer 17 zentralen Verpflichtungen stehen in direktem Bezug zur
Landwirtschaft (siehe Abb. 4). Das ambitionierte Ziel, „mindestens 10 % der landwirtschaftlichen
Flächen sollen Landschaftselemente mit großer biologischer Vielfalt aufweisen“, war bis kurz vor Veröffentlichung der EBS einer ihrer am
stärksten umkämpften Inhalte (Wax et al. 2020). Auch die EBS-Verpflichtungen zur Reduktion des
Pestizid- und Düngemitteleinsatzes wurden hoch kontrovers diskutiert, allerdings meist im Kontext der F2F-Strategie, in der sie ebenfalls
enthalten sind (KOM 2020b).
Abb. 4: Zentrale Verpflichtungen der EU-Biodiversitätsstrategie (EBS) für 2030 mit Bezug zum Landwirtschaftssektor sowie deren
Umsetzungsmöglichkeiten durch Biodiversitätsmainstreaming in verschiedene EU-Politikinstrumente (Erläuterung weiterer Abkürzungen
siehe Kasten 1).
Fig. 4: Key commitments of the EU Biodiversity Strategy (EBS) 2030 related to the agricultural sector and their implementation
options through biodiversity mainstreaming in various EU policy instruments (explanations of further abbreviations see
Box 1, p. 27).
Im Frühjahr 2022 sind im Kontext des Angriffskriegs der russischen Föderation auf die Ukraine erneut kontroverse politische
Diskussionen auf EU-Ebene um die EBS- und F2F-Ziele aufgeflammt, diesmal unter dem Stichwort der Ernährungssicherheit. Seitens großer
Teile der Gesellschaft und gestützt auf Studien der Wissenschaft herrscht dagegen große Einigkeit, dass zur langfristigen Gewährleistung
von Ernährungssicherheit eine nachhaltige Transformation des Ernährungssystems in der EU entsprechend den Zielen der EBS und
F2F-Strategie zwingend erforderlich ist (Pörtner et al. 2022). Dies hat auch die KOM im März 2022
in einer Kommunikation zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Lebensmittelsysteme noch unterstrichen (KOM
2022b).
Die in der EBS genannten Umsetzungsinstrumente mit Landwirtschaftsbezug umspannen das gesamte Spektrum von kooperativen zu
rechtsverbindlichen Instrumenten (siehe Abb. 4). Mittlerweile hat die KOM einen Aktionsplan
Ökolandbau, einen Null-Schadstoff-Aktionsplan und einen Vorschlag für eine neue EU-Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pestiziden
vorgelegt, die die jeweiligen EBS- bzw. F2F-Ziele umsetzen sollen. Letzterer wurde mit Blick auf den Krieg in der Ukraine deutlich später
vorgelegt als ursprünglich geplant, ebenso wie der Verordnungsentwurf der KOM zur Wiederherstellung der Natur, der zwar das qualitative
EBS-Ziel zum Bestäuberschutz aufgreift, jedoch das quantitative Ziel eines Flächenanteils von 10 % biodiversitätsreichen
Landschaftselementen nur indirekt adressiert (KOM 2022c).
Als besonders bedeutendes Umsetzungsinstrument ist die in der EBS geforderte Integration ihrer Ziele in die nationalen
GAP-Strategiepläne zu bewerten. Der Reformprozess für die neue GAP-Förderperiode bis 2027 begann jedoch lange vor Veröffentlichung des
Grünen Deals und dessen EBS und F2F-Strategie. Der Vorschlag der KOM wurde 2018 vorgelegt. Die darin enthaltenen Umweltambitionen wurden
jedoch im Laufe der langwierigen Trilogverhandlungen mit Rat und Parlament deutlich abgeschwächt. Fachliche Empfehlungen für erforderliche
Änderungen des GAP-Reformvorschlags, um dem Biodiversitätsverlust in der EU effektiv entgegenzuwirken, wurden nicht aufgegriffen (vgl.
ENCA 2020; Pe'er et al. 2020). Trotz Forderungen von
KOM-Vizepräsident Timmermans, die Ziele des Grünen Deals in der GAP-Reform deutlicher zu berücksichtigen, wurde 2021 ein Kompromisstext
ausgehandelt, in dem die EBS und die F2F-Strategie nur in der Präambel erwähnt werden (EU 2021).
Somit ist eine stärkere Umsetzung der beiden EU-Strategien in der GAP mit der Möglichkeit für die KOM, deren Ambitionen als Referenz zur
Beurteilung nationaler GAP-Strategiepläne zu verwenden, nicht gelungen.
Seitdem sind die Nachhaltigkeitsziele und -ambitionen der KOM durch die aktuellen Debatten zur Ernährungssicherheit sogar noch weiter
unter Druck geraten. Um die Getreideerzeugung in der EU kurzfristig zu steigern, wurden im Sommer 2022 von der KOM für das Jahr 2023
Ausnahmemöglichkeiten im Bereich der verpflichtenden Konditionalität der GAP bezüglich Fruchtwechsel und nichtproduktiver Flächen
eröffnet, von denen alle Mitgliedstaaten Gebrauch machen können (KOM 2022d).
2.4 Normative Wirkung der Strategieziele auf nationaler Ebene
Obwohl die EBS insgesamt unverbindlich ist, können ihre Ziele und deren Kommunikation gegenüber den EU-Mitgliedstaaten dennoch eine
normative Wirkung entfalten. Huntley, Redford (2014) unterstreichen in ihrem Bericht
„Mainstreaming biodiversity in practice“ die herausragende Wichtigkeit der rechtzeitigen Kommunikation zielgruppenspezifischer Botschaften
im Mainstreaming – hierfür seien insbesondere wirtschaftliche Argumente entscheidend. Argumentativ unterscheidet sich die EBS für 2030
deutlich von der vorherigen EBS: Sie hebt die Bedeutung der Natur als Grundlage des menschlichen Lebens und Wirtschaftens stärker hervor
und nennt ökonomische Vorteile des Naturschutzes für verschiedene Wirtschaftssektoren sowie zu erwartende Kosten der Untätigkeit. Für
Mainstreaming im Kontext von Biodiversitätsstrategien ist dies ein sehr vorteilhaftes Grundnarrativ (siehe Whitehorn et al. 2019).
Inwieweit die Ziele der aktuellen EBS wirklich von den EU-Mitgliedstaaten aufgegriffen und umgesetzt werden, bleibt abzuwarten –
zumindest in den im Jahr 2020 verabschiedeten Ratsschlussfolgerungen zur EBS sprach der Rat der EU den EBS-Zielen seine Unterstützung aus
(Council of the European Union 2020).
Ein Beispiel für die positive nationale Signalwirkung der EBS bieten die Empfehlungen der durch die deutsche Bundesregierung
eingesetzten „Zukunftskommission Landwirtschaft“. Dieses hochrangige Gremium von Expertinnen und Experten hat sich 2021 in seinem
Abschlussbericht zur Transformation des deutschen Agrar- und Ernährungssystems explizit zum EBS-Ziel eines Flächenanteils von 10 %
biodiversitätsreichen Landschaftselementen bekannt: „Für Landschaftsstrukturelemente, Saumstrukturen und nicht produktive Flächen sollte
ein Mindestflächenanteil von 10 % in der Offenlandschaft angestrebt werden“ (ZKL 2021). Die EBS
hat hier also rein narrativ einen von ihr losgelösten, langfristigen Prozess auf nationaler Ebene maßgeblich mitgeprägt.
Der erste deutsche Entwurf zum GAP-Strategieplan, der Anfang 2022 der KOM vorgelegt wurde, hat das 10 %-Ziel nicht explizit
aufgegriffen (siehe BMEL 2022). Entsprechend den Vorgaben zur Konditionalität der neuen GAP müssen
Landwirtschaftsbetriebe mit mehr als 10 ha und überwiegend Ackerbau in Deutschland 4 % ihrer Agrarflächen verpflichtend als
nicht-produktive Flächen vorhalten. Durch eine freiwillige Öko-Regelung kann die Bereitstellung zusätzlicher Flächen zur Verbesserung der
Biodiversität und Erhaltung von Lebensräumen zwar vergütet werden, jedoch wurde im ersten Entwurf des deutschen GAP-Strategieplans weder
ein bundesweiter Zielwert für die Umsetzung dieser Öko-Regelung genannt noch ein entsprechender Ergebnisindikator für die
Berichterstattung ausgewählt. Die KOM hat im deutschen Entwurf des GAP-Strategieplans fehlende Kohärenz mit den Zielen der EBS
und F2F-Strategie bemängelt und Nachbesserungen gefordert (KOM 2022e), kann diese jedoch nicht
rechtsverbindlich vorschreiben. Ein überarbeiteter Entwurf wurde Ende September 2022 veröffentlicht (BMEL
2022). Darin heißt es zwar, dass Deutschland beabsichtigt, zum 10 %-Ziel der EBS beizutragen (BMEL 2022), laut Umweltverbänden fehlen jedoch grundlegende inhaltliche Verbesserungen (DNR
2022).
3 Diskussion und Ausblick
Die vorherigen Abschnitte zeigen, dass die EBS das Biodiversitätsmainstreaming in die EU-Politik grundsätzlich auf systematische und
umfassende Weise fördert. Anknüpfungspunkte bieten organisatorische Prozesse inklusive transparenterer Governanceansätze und quantitativer
Finanzierungsziele, ebenso wie die programmatische und regulative Integration von Biodiversitätsbelangen in andere Wirtschaftssektoren
mithilfe eines weiten Spektrums rechtlicher bis kooperativer Politikinstrumente. Die EBS bündelt alle diese biodiversitätsrelevanten
Schlüsselmaßnahmen in einem gemeinsamen, koordinierenden Fahrplan, der die Naturschutzarbeit der KOM in den kommenden Jahren bestimmen
wird.
Zugleich zeigt das Beispiel der GAP jedoch auch die Herausforderungen der bisherigen Mainstreamingbemühungen auf EU-Ebene auf. Zwar
wurden in der Vergangenheit inkrementelle Fortschritte erzielt, doch nie in ausreichendem Umfang, um angesichts der immer gravierenderen
Beeinträchtigungen der biologischen Vielfalt in der EU durch die Landwirtschaft zu einer Trendwende zu gelangen (siehe Pe'er et al. 2020). Im Kontext der aktuellen Debatten zur Ernährungssicherheit ist zu befürchten, dass
zugunsten kurzfristiger Ertragssteigerungen die notwendige Transformation zu langfristiger Nachhaltigkeit und Resilienz des
Ernährungssystems weiter aufgeschoben wird (vgl. Pörtner et al. 2022).
Grundsätzlich bleibt Biodiversitätsmainstreaming ein komplexer, kosten- und zeitaufwendiger Prozess, dessen Umsetzung meist
Jahrzehnte beansprucht (Huntley, Redford 2014). Nordbeck, Steurer
(2016) argumentieren in einer kritischen Analyse bisheriger Strategien für nachhaltige Entwicklung sogar, dass multisektorale
Strategien grundsätzlich keine ausreichende Politikintegration mit einzelnen Sektorpolitiken erzielen könnten, da ihnen u. a. die
politische Durchsetzungskraft fehle.
Mit Blick auf den eigentlichen Inhalt der EBS bleibt es daher fraglich, ob ihre ambitionierten Ziele für 2030 erreicht werden können
oder ob einige davon ebenso verfehlt werden wie die EU-Biodiversitätsziele für 2010 und 2020. Über Erfolg oder Nichterfolg werden nicht
nur die Durchführung von Schlüsselmaßnahmen seitens der KOM, sondern in erster Linie die nationalen Umsetzungsbemühungen in den
EU-Mitgliedstaaten bestimmen. Hierfür wird die normative bzw. kommunikative Wirkung der EBS entscheidend sein. Nordbeck, Steurer (2016) kommen in ihrer Analyse sogar zu dem Schluss, dass Kommunikation und
Kapazitätsentwicklung der Hauptzweck multisektoraler Strategien sein sollten.
Als Kommunikationsdokument ist die EBS für 2030 aufgrund ihrer neuen zielgruppenorientierten Argumentationslinie und konkreteren,
messbaren Zielformulierungen als deutlich geeigneter zu bewerten als ihre Vorgängerstrategien. Die kommenden Jahre werden zeigen,
inwiefern die EBS für 2030 durch ihre normative Signalwirkung Mainstreamingerfolge für eine nationale Umsetzung erzielen kann.
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