Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziel, während andere uns helfen diese Website und ihre Erfahrung zu verbessern.


Seite 62 - 70

Systematische Herleitung von Prioritätsflächen für die Ausweisung neuer Prozessschutzgebiete in Baden-Württemberg

Wo sollen die „Urwälder von morgen“ entstehen?

Systematic selection of priority areas for the designation of new strictly protected forest reserves in Baden-Württemberg

Where to develop the “primary forests of tomorrow”?

DOI: 10.19217/NuL2022-02-01 • Manuskripteinreichung: 29.4.2021, Annahme: 15.11.2021

Lucia Seebach und Veronika Braunisch

Zusammenfassung

Nutzungsfreie Wälder spielen eine wichtige Rolle für Schutz und Erforschung der natürlichen Waldentwicklung. Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt hat zum Ziel, den Flächenanteil nutzungsfreier Wälder auf 5 % der Gesamtwaldfläche bzw. auf 10 % des öffentlichen Walds zu erhöhen. Am Beispiel des Staatswalds Baden-Württemberg entwickelten wir ein Konzept zur Herleitung von Prioritätsflächen für Neuausweisungen, das ermöglicht, die bestehende Flächenkulisse so zu ergänzen, dass erstens die Repräsentativität in Hinblick auf Waldgesellschaften und standörtliche Bedingungen erhöht wird, und zweitens vor allem ökologisch besonders hochwertige Flächen bevorzugt werden. Da eine gleichzeitige, flächendeckende Optimierung aller Auswahlkriterien mit gutachterlichen Methoden unmöglich ist, nutzten wir Algorithmen zur systematischen Naturschutzplanung. Diese identifizieren, basierend auf räumlich expliziten Daten, die Waldflächen auf denen – einzeln und in Kombination – alle Kriterien bestmöglich erfüllt werden. Die resultierende Flächenkulisse stellt Suchräume bereit, innerhalb derer die genaue Flächenabgrenzung unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten erfolgen kann.

Natürliche Waldentwicklung – Prozessschutzgebiete – systematische Naturschutzplanung – Naturwaldreservate – Flächenpriorisierung – Optimierung

Abstract

Unmanaged forests play a key role in efforts to preserve and study natural forest dynamics. The German National Strategy on Biological Diversity aims to increase the share of unmanaged forests to 5 % of the total forest area and to 10 % of the public forest. Using the example of the state forest of Baden-Württemberg, we present a concept for defining priority areas for the designation of new unmanaged forests. The concept complements the existing set of strict reserves in such a way that (1) the set's overall representativeness with regard to forest communities and site conditions is improved, and (2) areas of high conservation value are preferred. Since a simultaneous, area-wide optimisation of all selection criteria is impossible with expert-based methods, we used algorithms for systematic nature conservation planning. Based on spatially explicit data, these identify the forest areas on which – individually and in combination – all criteria are optimally met. The resulting areas represent search areas within which the reserves can be delimited according to local conditions.

Natural forest dynamics – Strictly protected areas – Systematic conservation planning – Strict forest reserves – Priority areas – Optimisation

Inhalt

1 Einleitung

2 Methoden

2.1 Planungsgebiet

2.2 Kriterienauswahl und Zieldefinition

2.3 Datenauswahl

2.4 Analyse

2.5 Priorisierung

3 Ergebnisse

3.1 Eigenschaften der Flächenkulissen

3.2 Zielerreichung

4 Diskussion

4.1 Zielkonflikte

4.2 Empfehlungen für die Nutzung der Ergebnisse

5 Literatur

1 Einleitung

Prozessschutz ist seit mehr als hundert Jahren ein wichtiges Instrument des Waldnaturschutzes in Europa (Bücking 2007). Von jeglicher Bewirtschaftung ausgenommen, können natürliche Prozesse ungestört ablaufen und „Urwälder von morgen“ entstehen. Prozessschutz verfolgt kein Entwicklungsziel: Alle dynamischen Entwicklungen auf der Ebene von Arten, Biozönosen, Biotopen und Ökosystemen werden zugelassen (Sturm 1993). Der Wald kann so den vollen Zyklus der natürlichen Waldsukzession durchlaufen und bei ausreichender Flächengröße ein Strukturmosaik entwickeln (Remmert 1991). Davon profitieren insbesondere Arten mit hohen Ansprüchen an die Strukturen der Alters- und Zerfallsphasen, die im bewirtschafteten Wald meist unterrepräsentiert sind (Mikoláš et al. 2017; Paillet et al. 2010).

Die Ausweisung nutzungsfreier Waldreservate ist ein wesentliches Ziel internationaler und nationaler Naturschutzstrategien. So sieht die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt (NBS) der Bundesrepublik Deutschland vor, den Anteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung auf 5 % des Gesamtwalds zu erhöhen (BMU 2007). Die Naturschutzstrategie Baden-Württembergs konkretisiert dieses Ziel dahingehend, dass bis 2020 mindestens 10 % der Staatswaldfläche aus der forstlichen Nutzung genommen werden sollten, wobei gesetzlich verordnete Prozessschutzgebiete wie Bannwälder (Naturwaldreservate) und Kernzonen von Großschutzgebieten durch kleinere Flächen des Alt- und Totholzkonzepts (Landesbetrieb ForstBW 2010) ergänzt werden können.

Als Kriterium für die Ausweisung von Prozessschutzgebieten in Baden-Württemberg stand bisher deren Verteilung auf Naturräume und Waldgesellschaften im Vordergrund, mit dem Ziel, ein repräsentatives Netz an Prozessschutzflächen für die Erforschung der natürlichen Waldentwicklung zu schaffen. Ab dem Jahr 1993 kam der Schutz seltener Waldgesellschaften als weitere Zielsetzung hinzu (Bücking et al. 1993). Mit der aktuellen Waldschutzgebietskonzeption 2020 wurden die Ausweisungskriterien um weitere naturschutzfachliche Ziele erweitert (FVA 2021a). Die theoretisch definierten Fachkriterien wurden in der Praxis jedoch häufig von forstpraktischen Aspekten überlagert, weswegen der Anteil bestehender Prozessschutzgebiete in schlecht zugänglichen Steillagen überdurchschnittlich hoch ist. So liegen über 45 % der aktuellen Prozessschutzflächen in Gebieten mit über 40 % Hangneigung, im Vergleich zu ca. 14 % Anteil dieser Steillagen im Gesamtwald. Ähnlich überrepräsentiert ist auch die hochmontane Klimahöhenstufe mit ihren Fichten-Tannenwäldern (FVA 2021b). Waldgesellschaften, Biotope oder Arten auf produktiveren Standorten oder in wirtschaftlich interessanteren Waldbeständen wurden somit nur unzureichend berücksichtigt. Bei einer Erweiterung der bestehenden Gebietskulisse sollte daher nicht allein das Erreichen der politisch definierten Flächenziele, sondern auch eine systematische, nach klar definierten Kriterien optimierte Ergänzung angestrebt werden, die sowohl die Repräsentativität als auch die naturschutzfachliche Wertigkeit der Gebietskulisse erhöht.

Eine gleichzeitige, objektive und reproduzierbare Berücksichtigung und Optimierung zahlreicher, vordefinierter Kriterien und Indikatoren über große Flächen hinweg ist jedoch allein mit gutachterlichen Methoden nur schwer realisierbar. Daher kommen bei der Planung von Schutzgebietskonzepten zunehmend mathematische Algorithmen zur „systematischen Naturschutzplanung“ (Systematic Conservation Planning – SCP) zum Einsatz (Margules, Pressey 2000). Diese Algorithmen identifizieren, basierend auf räumlich expliziten Daten, die Flächen, auf denen die vordefinierten Kriterien bestmöglich erfüllt werden (Ball et al. 2009). Dabei wird nicht nur auf die Optimierung der Kriterien im einzelnen Gebiet geachtet, sondern auch auf deren Komplementarität, d. h. auf die Optimierung aller Kriterien über die Gesamtkombination aller selektierten Flächen hinweg (Cabeza, Moilanen 2001). Da zusätzlich die entstehenden „Kosten“ (entweder in Form der resultierenden Gesamtfläche oder realer, monetärer Kosten) berücksichtigt und minimiert werden können, unterstützen solche Verfahren zudem eine effiziente Verwendung begrenzter Ressourcen.

Wir verwendeten Methoden der SCP, um am Beispiel des Staatswalds in Baden-Württemberg Prioritätsflächen für die Ausweisung neuer Prozessschutzgebiete herzuleiten entsprechend der Kriterien der aktuellen Waldschutzgebietskonzeption Baden-Württembergs (FVA 2021a). Die Ergebnisse zeigen, wo die politisch definierten Flächenziele (hier: 10 % des Staatswalds) bei gleichzeitiger Optimierung aller Fachkriterien bestmöglich umgesetzt werden können.

2 Methoden

Die Herleitung eines naturräumlich repräsentativen und naturschutzfachlich hochwertigen Flächennetzes folgte einem strukturierten, mehrstufigen Verfahren (Margules, Pressey 2000).

2.1 Planungsgebiet

Das Planungsgebiet umfasste den gesamten Staatswald Baden-Württembergs (ca. 3.300 km2). Als Grundlage für die räumliche Modellierung wurde Baden-Württemberg in ein systematisches Raster mit Zellen (= Planungseinheiten, Planning Unit – PU) von 250 m × 250 m (= 6,25 ha) Größe unterteilt. Es wurden alle PUs selektiert, die einen Staatswaldanteil von mindestens 1 % aufwiesen. Dieses finale Raster mit insgesamt 88.333 PUs erlaubte eine kleinräumige Differenzierung und repräsentierte zugleich eine Datenmenge, die der Optimierungsalgorithmus bewerkstelligen kann. PUs, die eine Mindestlänge von 100 m kritischer Verkehrsinfrastruktur – d. h. Straßen aller Kategorien und Bahntrassen entsprechend dem Amtlichen Topographisch-Kartographischen Informationssystem (ATKIS) – aufwiesen, wurden aufgrund ihres hohen Zerschneidungsgrads von der Auswahl ausgeschlossen. Enthielten die PUs allerdings einen Anteil von mindestens 50 % einer bereits bestehenden und rechtlich gesicherten Prozessschutzfläche, wurden diese für die Berechnung als „gesetzt“ festgelegt, d. h. sie waren in jeder möglichen Lösung enthalten.

2.2 Kriterienauswahl und Zieldefinition

Voraussetzung für eine Anwendung algorithmenbasierter Selektionsverfahren ist die Definition eindeutiger Auswahlkriterien sowie quantifizierbarer Indikatoren für deren Bewertung. Die Definition der Kriterien im Rahmen des Projekts erfolgte auf Grundlage der Waldschutzgebietskonzeption 2020 (FVA 2021a): Neue Prozessschutzgebiete sollen demnach einerseits die Repräsentativität der bestehenden Flächenkulisse in Bezug auf die natürlichen Waldgesellschaften (siehe Tab. 1) und Standorteigenschaften gewährleisten oder verbessern, um eine repräsentative Stichprobe für wissenschaftliche Arbeiten bereitzustellen. Andererseits sollen bevorzugt Flächen ausgewiesen werden, die in Hinblick auf ihre ökologische Ausstattung besonders hochwertig sind. Möglichst alte, naturnahe und strukturreiche Wälder sollen in die Kulisse aufgenommen werden, da erwartet wird, dass diese schneller „urwaldähnliche“ Strukturen entwickeln können (Braunisch et al. 2019; WBW, WBBGR 2020). Zudem sollten die Flächen eine kompakte Form und einen geringen Zerschneidungsgrad aufweisen und, wo möglich, bestehende Prozessschutzgebiete erweitern.

Tab. 1: Natürliche Waldgesellschaften der Bundeswaldinventur (BWI) in Baden-Württemberg mit ihrem Flächenanteil an den ausgewählten Planungseinheiten (PUs) im Staatswald. Die großen Buchenwaldgesellschaften wurden nochmals unterteilt in: mit Tanne (Picea abies, mit Ta) und mit gemischten Waldgesellschaften (gemischt). Waldgesellschaften, deren Flächenanteil weniger als 1 % des Staatswalds betragen, sind bei der Auswertung separat als „seltene Waldgesellschaften“ dargestellt. Table 1: Natural forest communities of the Federal Forest Inventory (BWI) in Baden-Wuerttemberg with their area share in the selected planning units in the state forest. The large beech forest communities were again subdivided into: with fir (Picea abies, “mit Ta”) and with mixed forest communities (“gemischt”). Forest communities whose area share is less than 1 % of the state forest area are shown separately in the evaluation as “rare forest communities”.
Natürliche Waldgesellschaft (nach BWI, angepasst)
Kurzname
Flächenanteil [%]
Hainsimsen-Buchenwald mit Tanne
Hain.-Bu-Wald (mit Ta)
27,58
Waldmeister-Buchenwald (rein)
Waldm.-Bu-Wald (rein)
10,65
Waldgersten-Buchenwald (rein)
Waldg.-Bu-Wald (rein)
10,39
Hainsimsen-Buchenwald (rein)
Hain.-Bu-Wald (rein)
8,10
Waldmeister-Buchenwald mit Tanne
Waldm.-Bu-Wald (mit Ta)
7,59
Hainsimsen-Buchenwald u. a. natürliche Waldgesellschaft
Hain.-Bu-Wald (gemischt)
6,41
Preiselbeer-Fichten-Tannenwald
Preiselb.-Fi-Ta-Wald
4,13
Hainsimsen-Fichten-Tannenwald
Hain.-Fi-Ta-Wald
4,08
Waldmeister-Buchenwald u. a. natürliche Waldgesellschaft
Waldm.-Bu-Wald (gemischt)
3,82
Waldgersten-Buchenwald u. a. natürliche Waldgesellschaft
Waldg.-Bu-Wald (gemischt)
2,24
Ahorn-Eschenwald
Ah-Es-Wald
2,24
Sternmieren-Hainbuchen-Stieleichenwald
Sternm.-HBu-StEi-Wald
2,12
Seggen-Buchenwald
Seggen-Bu-Wald
1,82
Buchen-Traubeneichenwald
Bu-TrEi-Wald
1,50
Labkraut-Fichten-Tannenwald
Labk.-Fi-Ta-Wald
1,31
Waldgersten-Buchenwald mit Tanne
Waldg.-Bu-Wald (mit Ta)
1,22
Rauschbeeren-Moorwälder
Rauschb.-Moorwald
0,64
Bach-Eschenwälder
Bach-Es-Wald
0,64
Traubenkirschen-Erlen-Eschenwälder
TrKir-Er-Es-Wald
0,62
Edellaubbaum-Steinschutt- und Blockhangwälder
Blockhangwald
0,47
Stieleichen-Ulmen-Hartholzauewald
StEi-Ul-Weichholzaue
0,36
Alpenheckenkirschen-Tannen-Buchenwald
Alpenh.-Ta-Bu-Wald
0,29
Drahtschmielen-Buchenwald
Draht.-Bu-Wald
0,29
Bergahorn-Buchenwald
BAh-Bu-Wald
0,28
Waldlabkraut-Hainbuchen-Traubeneichenwald
Waldlab.-HBu-TEi-Wald
0,26
Xerotherme Eichen-Mischwälder
Xero.Ei-Mischwald
0,19
Silberweiden-Weichholzauewald
SiWei-Weichholzaue
0,19
Schwarzerlen-Bruch- und Sumpfwälder
Schw.Er-Es-Wald
0,14
Hainmieren-Schwarzerlen-Auewald
Hainm.-SEr-Aue
0,12
Birken-Stieleichenwald
Bi-StEi-Wald
0,12
Peitschenmoos-Fichtenwald
Peit.Fi-Wald
0,08
Birken-Traubeneichenwald
Bi-TrEi-Wald
0,07
Karpatenbirken-Ebereschen-Blockwald
Karp.Blockwald
0,04
Wintergrün-Fichten-Tannenwald
Wint.-Fi-Ta-Wald
0,00
Grauerlenauewald
GraEr-Aue
0,00

In einer Arbeitsgruppe von Expertinnen und Experten wurde hierfür ein Kriterienkatalog erarbeitet und die relevanten Indikatoren für deren Umsetzung konkretisiert (Tab. 2). Die Zielgrößen für jeden Indikator wurden entsprechend der politischen Vorgaben definiert, wobei zwei Varianten (d. h. 5 % und 10 % nutzungsfreie Wälder) analysiert wurden.

Tab. 2: Kriterien für die Flächenselektion und Indikatoren mit ihren Ausprägungsklassen. Table 2: Criteria and indicators for area selection, including their class values.
Ziel
Kriterium
Indikator
Klassen/Definition
Erforschung natürlicher Waldprozesse
Repräsentativität
Hangneigung
1: 0 – 5 %
2: 5 – 20 %
3: 20 – 40 %
4: 40 – 65 %
Exposition
1: Norden (0° – 45°/315° – 360°)
2: Osten (45° – 135°)
3: Süden (135° – 225°)
4: Westen (225° – 315°)
Waldgesellschaften
Natürliche Waldgesellschaften in Baden-Württemberg definiert gemäß der Bundeswaldinventur (BWI)
Klimahöhenstufen
11: planar
12: kollin sommerwarm
22: kollin
23: submontan sommerwarm
33: submontan
34: montan sommerwarm
44: montan
45: hochmontan sommerwarm
55: hochmontan
Schutz des naturschutzfachlichen Potenzials
Hohes Naturpotenzial
Naturnähe der Baumartenzusammensetzung
1: sehr naturnah
2: naturnah
3: bedingt naturnah
4: kulturbetont
5: kulturbestimmt
Altersklasse
Altersklassen aus Bestandsindex*
Vertikale Struktur
1: einschichtig
2: zweischichtig
3: mehrschichtig
Historischer Wald
1: neuer Wald
10: historischer Wald
Vernetzung
Distanz
Geringe Distanz zu bestehenden Wäldern mit natürlicher Entwicklung [m]
Kompaktheit
Geringes Verhältnis Umfang zur Fläche
Zerschneidung
Länge kritischer Infrastruktur [m]
* Dauerwaldphasen wurden angepasst.

2.3 Datenauswahl

Als Datengrundlage konnten nur Geodaten verwendet werden, die für das gesamte Planungsgebiet flächendeckend vorlagen. Hangneigung und Exposition wurden auf Grundlage des digitalen Höhenmodells (Auflösung 25 m × 25 m) berechnet und in diskrete Klassen eingeteilt (Tab. 2). Die elf Klimahöhenstufen wurden anhand von Klimadaten (Periode 1991 – 2013) des Deutschen Wetterdienstes (DWD) nach Michiels (2014) modelliert. Die Altersklassen des aufstockenden Bestands wurden aus dem Bestandsindex der Forsteinrichtung bestimmt. Darauf aufbauend wurde die vertikale Struktur des Bestands in drei Klassen approximiert. Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung wurde nach Seebach et al. (2020) auf Grundlage der Forsteinrichtungsdaten und der Standortkartierung Baden-Württembergs hergeleitet. Die Habitattradition wurde mit dem Datensatz zu historisch alten Waldstandorten (Glaser, Hauke 2004) approximiert. Alle Geodaten wurden in ein Rasterformat mit einheitlicher Auflösung (25 m × 25 m) konvertiert und der Anteil jeder Ausprägungsklasse je PU berechnet.

2.4 Analyse

Zur Herleitung der Prioritätsflächen wurde die Software MarxanMarxan® identifiziert dabei alle Kombinationen von PUs, die die zuvor definierten Kriterien mit geringen Kosten erfüllen („gute Lösungen“) sowie eine gute Lösung mit den kleinsten Kosten („beste Lösung“). Als Kosten können zum einen reale (d. h. monetäre) Kosten verstanden werden, die für jede PU angegeben werden müssen, zum anderen kann aber auch – wie in unserem Fall – die reine Fläche als „Kosten“ gelten: Je mehr PUs ausgewählt werden müssen, um die Ziele zu erreichen, desto teurer ist die Lösung. Weiterhin gibt Marxan® die prozentuale Häufigkeit an, mit der eine PU als Element einer der guten Lösungen ausgewählt wurde. Diese Auswahlhäufigkeit (selection frequency) wird auch „Unersetzbarkeit“ genannt und ist ein Hinweis für die relative Bedeutung einer PU für die Zielerreichung.

Für jeden Indikator (Tab. 2) wurden die zwei Zielvarianten (d. h. 5 % und 10 % nutzungsfreie Wälder) berechnet: Bei den Indikatoren des Kriteriums „Repräsentativität“ sollte jede Klasse mit jeweils 5 % (Variante 1) oder 10 % (Variante 2) ihres jeweiligen Anteils im Planungsgebiet repräsentiert werden. Dieser Ansatz galt auch für die Naturnäheklasse „sehr naturnah“ und die Klasse „historischer Wald“ des Kriteriums „Naturpotenzial“, um sicherzustellen, dass diese beiden Eigenschaften entsprechend ihrer Anteile in der Gesamtkulisse vertreten waren.

Für die weiteren Indikatoren des Kriteriums „Naturpotenzial“ wurden jeweils die 5 % (bzw. 10 %) der PUs mit den höchsten Werten ausgewählt, um möglichst alte und strukturreiche Bestände zu erhalten. Zusätzlich wurde pro PU die inverse Summe der mit ihren Anteilen gewichteten Naturnäheklassen berechnet, um nicht allein den Anteil „sehr naturnaher“ Bestände, sondern auch die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung über die gesamte PU zu berücksichtigen. Zusätzlich zu den Zielwerten kann ein Gewichtungsfaktor (Species Penalty Factor – SPF) für jeden Indikator angegeben werden. Dieser Faktor hilft der Modellierung, ausgewählte Indikatoren bei der Zielerreichung höher zu priorisieren. Hier wurden durch mehrfache Kalibrierung die SPFs für jeden Indikator optimiert. Seltenen Waldgesellschaften beispielsweise wurde ein höherer Wert zugewiesen als häufigen Waldgesellschaften, um sicherzustellen, dass diese bei der Auswahl nicht vernachlässigt werden. Eine detaillierte Beschreibung dieser Kalibrierung ist in FVA (2021c) enthalten.

Der Aspekt „Vernetzung“ wurde vom Marxan®-Modell durch die Minimierung des Umfangs der Gebiete im Verhältnis zu ihrer Fläche (boundary length) berücksichtigt. So wurden – wenn möglich – große, kompakte Gebiete und Erweiterungen bestehender Prozessschutzgebiete gegenüber kleinen, verinselten Flächen bevorzugt.

2.5 Priorisierung

Der Algorithmus von Marxan® versucht, für jeden Indikator mit kleinstmöglichen Kosten (bzw. kleinstmöglicher Fläche) das definierte Ziel (z. B. einen prozentualen Anteil bestimmter Eigenschaften an der Flächenkulisse) zu erreichen. Da sich die einzelnen Ausprägungen der Indikatoren jedoch nicht vollständig überlagern, kann ein vollständiges Erreichen der „Naturschutzziele“ dazu führen, dass die Fläche der ausgewählten Kulisse weitaus größer ist als das politisch definierte „Flächenziel“ (hier: 5 % oder 10 % der Planungsfläche). Um beiden Zielen bestmöglich gerecht zu werden und Prioritäten für die Umsetzung zu setzen, wurden die resultierenden Flächenkulissen der beiden Varianten zu einer Karte mit unterschiedlichen Prioritätsstufen kombiniert.

Prioritätstufe 1 basierte auf den Modellergebnissen der Variante 1 (Zielgröße: 5 %). Um die Flächenkulisse auf 5 % der Staatswaldfläche zu reduzieren, wurde die Auswahlhäufigkeit jeder PU berücksichtigt und es wurden 5 % aller Zellen ausgewählt, die am häufigsten in einer der möglichen „guten Lösungen“ vertreten waren (Levin et al. 2015). Prioritätsstufe 2 umfasste alle Zellen der „besten Lösung“ der Variante 1. Für Prioritätsstufe 3 wurden die 10 % der Zellen mit besonders hoher Auswahlhäufigkeit der Variante 2 ausgewählt.

Die Flächenkulissen der drei Prioritätsstufen wurden zu einer Gesamtkulisse zusammengeführt, bei der für jede Rasterzelle jeweils die höchste Prioritätsstufe angegeben wurde.

3 Ergebnisse

Die Gesamtkulisse (Prioritätsstufen 1 – 3) umfasst rund 10 % (11,1 %, aufgrund nicht vollständiger Überlagerung der drei Flächenkulissen) der Staatswaldfläche (Abb. 1). Während die Flächen der Prioritätsstufe 1 (im Folgenden PRIO 1) die 5 % des Staatswalds abdecken, mit denen die Kriterien bestmöglich erfüllt werden, wird bei zusätzlicher Berücksichtigung der Flächen mit Prioritätsstufe 2 (im Folgenden PRIO 2 = Prioritätsstufen 1 und 2) eine 5 %ige Repräsentativität aller Kriterien erreicht. Die Gesamtkulisse (im Folgenden PRIO 3 = Prioritätsstufen 1 – 3) entspricht der Fläche, mit der alle Kriterien bestmöglich auf 10 % des Staatswalds repräsentiert sind. Vor dem Hintergrund, dass eine vollständige Ausweisung aller dieser Flächen als Prozessschutzgebiete vermutlich unrealistisch ist, kann ein Fokus auf Zellen der PRIO 1 und PRIO 2 sicherstellen, dass eine repräsentative Erreichung aller Ziele auch in einer reduzierten Kulisse gegeben ist.

/fileadmin/magazines/naturundlandschaft/current/2022_02/images/NuL_02_2022_Seebach_01.jpg _01-Seebach_ID20
Abb. 1: Übersicht über die Suchkulisse mit unterschiedlichen Prioritätsstufen für die Ausweisung neuer Prozessschutzgebiete im Staatswald von Baden-Württemberg. Bereits bestehende Prozessschutzgebiete sind violett dargestellt.
Fig. 1: Search area with different priority levels as basis for the designation of new strict forest reserves within the state forest of Baden-Wuerttemberg. Already existing strict forest reserves are indicated in violet.

3.1 Eigenschaften der Flächenkulissen

Die drei Flächenkulissen (PRIO 1 – 3) haben aufgrund ihrer Herleitung einen unterschiedlichen Umfang und Anteil am Staatswald (Tab. 3), der mit abnehmender Priorität steigt. Proportional hierzu nimmt der Bestandswert der Kulissen zu. Der Kompaktheitsindex (je kleiner der Wert, desto kompakter die Einzelflächen der Kulisse) folgt allerdings keinem Trend. Die Kulissen mit dem niedrigsten Kompaktheitsindex sind PRIO 1 und PRIO 3. Das ist darauf zurückzuführen, dass für diese Flächenauswahl die Auswahlhäufigkeit zugrunde lag. Für PRIO 2 war die Bedingung, dass für alle Ausprägungsklassen der Indikatoren die definierte Zielgröße erreicht werden musste. Hierfür mussten auch kleine, isoliert liegende Flächen (beispielsweise mit selten und kleinräumig vorkommenden Eigenschaften) mit in die Suchkulisse aufgenommen werden. Dies spiegelt sich auch in den Größenverteilungen der Einzelflächen der Kulissen wider (Abb. 2): PRIO 2 weist den höchsten Anteil an Kleinflächen auf.

/fileadmin/magazines/naturundlandschaft/current/2022_02/images/NuL_02_2022_Seebach_02.jpg _01-Seebach_ID21
Abb. 2: Verteilung der Teilflächen der Flächenkulissen (PRIO 1 – 3) auf Größenklassen.
Fig. 2: Distribution of patch sizes within the different priority levels (PRIO 1 – 3) depending on their size classes.
Tab. 3: Eigenschaften der Flächenkulissen PRIO1 – 3 und der bestehenden Prozessschutzflächen. Table 3: Properties of the different priority levels PRIO1 – 3 and the existing forest reserves.
Bestehende Prozessschutzflächen
PRIO 1
inkl. bestehende Prozessschutzflächen
PRIO 2
inkl. PRIO 1
PRIO 3
inkl. PRIO 2
Planungseinheiten
2.450
4.453
6.667
9.825
Fläche [ha]
15.313
27.831
41.669
61.406
Anteil am Staatswald [%]
2,8
5,0
7,5
11,1
Bestandswert [Mio. €]
28
57
93
141
Kompaktheitsindex
254
205
226
217

3.2 Zielerreichung

Ziel der Studie war es, Flächenkulissen herzuleiten, in denen unterschiedliche Indikatoren repräsentativ vertreten sind und die zugleich ein hohes Naturschutzpotenzial aufweisen. Inwieweit diese Repräsentativität in den modellierten Kulissen erreicht wurde, ist in den Abb. 3, 4 und 5 veranschaulicht. Die Erreichung des Ziels ist mit 5 % (für PRIO 1 und PRIO 2) bzw. 10 % (PRIO 3) Repräsentanz gegeben, wobei sich die Prozentzahl auf den Anteil der Fläche bezieht, mit der die jeweilige Eigenschaft im Staatswald Baden-Württembergs vertreten ist. Die Erfüllung des Zielwerts ist daher bei kleinräumigen, seltenen Eigenschaften schon mit wesentlich weniger Fläche erreicht als bei solchen, die großräumig verbreitet sind.

/fileadmin/magazines/naturundlandschaft/current/2022_02/images/NuL_02_2022_Seebach_03a_03b_Tableau.jpg _01-Seebach_ID22
Abb. 3: Übersicht über die Erreichung der Ziele für jedes Feature der Indikatoren pro Prioritätsstufe und bestehenden Prozessschutzflächen: a) Hangneigung und b) Exposition. Gepunktete Linie: 5 %-Zielwert, gestrichelte Linie: 10 %-Zielwert. Die Erreichung des Ziels ist mit 5 % (für PRIO 1 und PRIO 2) bzw. 10 % (PRIO 3) Repräsentanz gegeben, wobei sich die Prozentzahl auf die Fläche bezieht, die das jeweilige Feature im Staatswald Baden-Württembergs aufweist.
Fig. 3: Overview of target attainment for each feature per indicator within the priority levels and existing forest reserves: a) slope and b) exposition. Dotted line: 5 % target, dashed line: 10 % target. The target is achieved for 5 % (for PRIO 1 and PRIO 2) and 10 % (PRIO 3) representativeness, respectively. The percentages are calculated for the area covered by the specific feature in the state forest of Baden-Wuerttemberg.
/fileadmin/magazines/naturundlandschaft/current/2022_02/images/NuL_02_2022_Seebach_04a_KORR_04b_KORR_Tableau.jpg _01-Seebach_ID23
Abb. 4: Übersicht über die Erreichung der Ziele für jedes Feature der Indikatoren pro Prioritätsstufe und bestehenden Prozessschutzflächen getrennt nach natürlichen Waldgesellschaften mit einem Flächenanteil von a) > 1 % und b) < 1 % des Staatswalds in Baden-Württemberg. Die Kurznamen der natürlichen Waldgesellschaften sind in Tabelle 1 erklärt.
Fig. 4: Overview of target attainment for each feature per indicator within the priority levels and existing forest reserves shown for natural forest communities covering a) > 1 % and b) < 1 % of the state forest area of Baden-Wuerttemberg. The abbreviations of the natural forest communities are explained in Table 1.
/fileadmin/magazines/naturundlandschaft/current/2022_02/images/NuL_02_2022_Seebach_05a_05b_Tableau.jpg _01-Seebach_ID24
Abb. 5: Übersicht über die Erreichung der Ziele für jedes Feature der Indikatoren pro Prioritätsstufe und bestehenden Prozessschutzflächen: a) Klimahöhenstufen und b) Naturpotenzial.
Fig. 5: Overview of target attainment for each feature per indicator within the priority levels and existing forest reserves: a) climatic zones and b) natural potential.

Der Vergleich in Bezug auf die Hangneigung zeigt, dass Steillagen in den bereits bestehenden Prozessschutzflächen überproportional stark vertreten sind (Abb. 3a). Ab PRIO 2 sind auch flache und leicht steile Flächen mit über 5 % in die Kulisse eingebunden, wobei die steilen Hänge immer noch stark überrepräsentiert sind. Die Expositionsklassen (Abb. 3b) sind in allen Flächenkulissen gleich verteilt und erfüllen die Zielwerte. Unter den potenziellen natürlichen Waldgesellschaften, die jeweils mehr als 1 % des Staatswalds Baden-Württembergs ausmachen (Abb. 4a), sind die weit verbreiteten, buchendominierten Waldtypen in den bestehenden Prozessschutzgebieten stark unterrepräsentiert und erst ab PRIO 2 mit mehr als 5 % ihres Anteils vertreten. Fichtendominierte Waldtypen, mit Ausnahme des Labkraut-Fichten-Tannenwalds, sind hingegen in der bestehenden Kulisse bereits überrepräsentiert. Von den im Staatswald seltenen natürlichen Waldgesellschaften, die jeweils < 1 % Flächenanteil am Staatswald aufweisen, sind in der bestehenden Kulisse der Prozessschutzflächen bereits ungefähr ein Drittel mit über 5 % ihres Anteils repräsentiert (Abb. 4b). Mit PRIO 2 wird eine Repräsentanz von mindestens 5 % für alle diese Waldgesellschaften erreicht.

Abb. 5a zeigt, dass für die Ausweisung von Prozessschutzgebieten im Staatswald bisher submontane bis hochmontane Standorte bevorzugt wurden. Kolline und planare Klimahöhenstufen sind aktuell stark unterrepräsentiert und weisen erst in PRIO 2 und PRIO 3 mindestens 5 % Flächenanteil auf. Die Zielwerte für Altersverteilung, Vertikalstruktur, Habitattradition, Naturnähe der Baumartenzusammensetzung und Anteil sehr naturnaher Bestände werden dagegen bereits in PRIO 1 erreicht (Abb. 5b).

4 Diskussion

Prozessschutz ist per se nicht auf einen Zielzustand ausgerichtet, die Ausweisung neuer Gebiete ist jedoch durch politische und naturschutzfachliche Zielsetzungen bestimmt. Die Auswahl prioritärer Flächen für künftige Prozessschutzgebiete erfolgte daher mit Methoden der SCP, die in einem Optimierungsprozess versuchen, verschiedene und teilweise konträre Zielsetzungen gleichzeitig zu erreichen. Der Vorteil des hierfür verwendeten algorithmenbasierten Selektionsverfahrens liegt in der Möglichkeit zur transparenten und objektiven Verarbeitung großer Informationsmengen, die eine nachvollziehbare und reproduzierbare Identifizierung von Gebieten unter Berücksichtigung definierter Kriterien erlaubt. Nachteile liegen jedoch im Bedarf flächendeckender Datengrundlagen, die oft nicht für alle Kriterien in gleicher Qualität vorhanden sind. Zudem können lokale Gebietskenntnisse und das Wissen von Expertinnen und Experten zu möglichen Besonderheiten oder Zielkonflikten erst zu einem späteren Zeitpunkt berücksichtigt werden. Algorithmenbasierte und expertenbasierte Auswahlverfahren sollten daher nicht als alternative, sondern als komplementäre, aufeinander aufbauende Ansätze betrachtet werden.

In unserem Fall erfolgte zunächst eine expertenbasierte Definition der Auswahlkriterien und zugehörigen Indikatoren, nachfolgend eine algorithmenbasierte Flächenselektion. Die Ergebnisse des Selektionsprozesses stellen eine großräumige Planungsgrundlage mit „Suchräumen“ bereit, innerhalb derer für eine genaue Flächenabgrenzung weitere Kriterien bzw. Entscheidungshilfen herangezogen und nochmals expertenbasiert bewertet werden müssen. Hierbei sollten primär die Leitlinien der Waldschutzgebietskonzeption (FVA 2021a) hinsichtlich Größe, Kompaktheit und Funktion der Fläche im Rahmen eines ökologischen Vernetzungskonzepts einfließen.

4.1 Zielkonflikte

Im Gegensatz zum bewahrenden Natur- und Artenschutz steht im Prozessschutz eine dynamische Entwicklung von Waldökosystemen im Vordergrund. Diese Entwicklung kann jedoch auch Veränderungen mit sich bringen, die temporär oder dauerhaft zu einem Rückgang bestimmter Arten in einem Prozessschutzgebiet führen. Da bei der Gebietsausweisung die meisten Bestände maximal in der Optimalphase sind, nimmt das Holzvolumen in der Regel zunächst zu, bis Zerfallsprozesse oder natürliche Störungen eintreten (Scherzinger 1996). Dies kann sich negativ auf Lichtbaumarten (Nagel et al. 2013) und die Baumartenvielfalt (Heiri et al. 2009) auswirken. Zudem können sich die Lebensraumbedingungen von Arten, die an lichte Strukturen gebunden sind, temporär verschlechtern (Braunisch et al. 2019), was zu naturschutzfachlichen Zielkonflikten führen kann.

Bei Biotopen, die einer kontinuierlichen Pflege bedürfen, oder Lebensstätten hochgradig gefährdeter Arten mit hohem Pflegebedarf sollte daher abgewogen werden, ob sie dem Prozessschutz überlassen werden. Im Staatswald von Baden-Württemberg weisen kartierte Waldbiotope und Schonwälder mit einem hohen Pflegebedarf zwar nur einen Flächenanteil von 2 % bzw. 1 % an der Priorisierungskulisse auf, zu Vorkommen gefährdeter pflegebedürftiger Arten liegen jedoch nur für wenige Arten systematisch und flächendeckend erhobene Daten vor. In der Regel müssen diese Informationen gezielt gesammelt und abgewogen werden.

Überlagerungen von Prozessschutzgebieten mit Bereichen der Erholungsnutzung sollten ebenfalls bei der Ausweisung berücksichtigt werden – hier entstehen jedoch nicht zwingend Zielkonflikte. Zum einen können Prozessschutzgebiete als „Urwälder von morgen“ attraktiv für Besucherinnen und Besucher sein, zum anderen können Konflikte entschärft werden, indem die finale Flächenauswahl stark frequentierte Wege oder Attraktionen ausschließt, Alternativrouten gefunden oder Besucherlenkungsmaßnahmen eingesetzt werden.

Der am häufigsten genannte Zielkonflikt besteht zwischen dem Verzicht auf Holznutzung und der Versorgung von Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Rohstoff Holz aus einheimischer Produktion. Um bei der Ausweisung neuer Prozessschutzgebiete den entstehenden wirtschaftlichen Verlust einschätzen zu können, wurde jede PU hinsichtlich ihres relativen ökonomischen Werts bewertet. Diese Bewertung sollte allerdings nicht als Ausschlusskriterium für oder gegen eine Fläche betrachtet werden, da auch ökonomisch bedeutsamere Bestände notwendig sind, um eine landesweite Repräsentanz der finalen Kulisse zu gewährleisten (FVA 2021c).

4.2 Empfehlungen für die Nutzung der Ergebnisse

Für die Nutzung der Ergebnisse bei der Auswahl neuer Prozessschutzgebiete empfehlen wir ein mehrstufiges Vorgehen, das sich in folgenden Schritten von einem groben hin zu einem feinen Suchraster bewegt:

    1.

    Wahl einer Potenzialfläche unter Berücksichtigung der Prioritätsstufen (PRIO 1 > PRIO 2 > PRIO 3) und der vorhandenen Prozessschutzflächen. Können bestehende Flächen erweitert werden?

    2.

    Prüfung der Einzelfläche bezüglich Überlagerung mit Schutzgebieten. Bei Überlagerung ist die Abstimmung mit den zuständigen Behörden erforderlich.

    3.

    Prüfung der Einzelfläche anhand vorhandener Geodaten (z. B. Waldbiotopkartierung, Natura-2000-Managementplanung, lokale Pflegekonzeptionen): Gibt es innerhalb der Fläche Gebiete, die ggf. aus naturschutzfachlichen Gründen ausgeschlossen werden sollten?

    4.

    Prüfung jeder Einzelfläche in Bezug auf Vorkommen gefährdeter Arten mit aktivem Habitatpflegebedarf. Gegebenenfalls ist eine Datenerhebung vor Ort notwendig. Zu dieser Prüfung kann auch das Waldnaturschutz-Informationssystem hinzugezogen werden (https://wnsinfo.fva-bw.de/).

    5. Prüfung der Einzelfläche vor Ort. Eignet sich die Fläche als Prozessschutzgebiet? Haben sich die Gegebenheiten verändert bzw. waren in den Daten nicht abgebildet? Sollen kleinräumig Flächen ausgeschlossen werden – z. B. stark begangene Wanderwege, wichtige Zufahrtswege, bewirtschaftete oder bebaute Flächen?
    6.

    Konkrete Flächenabgrenzung auf Bestandsebene unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten in Zusammenarbeit mit den lokalen Forstbehörden und mit allen Beteiligten. Gegebenenfalls Abstimmung mit den Naturschutzbehörden. Beginn des Ausweisungsprozesses (MLR 1996).

Die modellierte Flächenkulisse liefert somit eine Grundlage, um bei der Planung von Neuausweisungen von Naturwaldreservaten oder größeren Waldrefugien im Rahmen des Ziels, 10 % des Staatswalds als Prozessschutzflächen auszuweisen, die vielfältigen Ansprüche an diese Gebiete (FVA 2021a) bestmöglich zu berücksichtigen.

5 Literatur

  Ball I.R., Possingham H.P., Watts M. (2009): Marxan and relatives: Software for spatial conservation prioritisation. In: Moilanen A., Wilson K.A., Possingham H.P. (Hrsg.): Spatial conservation prioritization. Quantitative methods and computational tools. Oxford University Press. Oxford: 185 – 195.

  BMU/Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2007): Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. BMU. Berlin: 178 S.

  Braunisch V., Roder S. et al. (2019): Structural complexity in managed and strictly protected mountain forests: Effects on the habitat suitability for indicator bird species. Forest Ecology and Management 448: 139 – 149.

  Bücking W. (2007): Naturwaldreservate in Europa. Forstarchiv 78: 180 – 187.

  Bücking W., Aldinger E., Mühlhäußer G. (1993): Neue Konzeption für Waldschutzgebiete in Baden-Württemberg. AFZ – Der Wald 48: 1.356 – 1.358.

  Cabeza M., Moilanen A. (2001): Design of reserve networks and the persistence of biodiversity. Trends in Ecology & Evolution 16(5): 242 – 248.

  FVA/Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (Hrsg.) (2021a): Waldschutzgebietskonzeption Baden-Württemberg 2020. Grundlagen und Ziele für Monitoring, Forschung und Maßnahmenbegleitung in Waldschutzgebieten. FVA. Freiburg i. Br.: 53 S.

  FVA/Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (Hrsg.) (2021b): Waldschutzgebiete Baden-Württemberg in Zahl und Bild. Begleitheft zur Waldschutzgebietskonzeption Baden-Württemberg 2020. FVA. Freiburg i. Br.: 61 S.

  FVA/Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (Hrsg.) (2021c): Systematische Herleitung von Prioritätsflächen für die Ausweisung neuer Prozessschutzflächen. FVA. Freiburg i. Br.: 37 S.

  Glaser F., Hauke U. (2004): Historisch alte Waldstandorte und Hutewälder in Deutschland. Angewandte Landschaftsökologie 61: 193 S.

  Heiri C., Wolf A. et al. (2009): Forty years of natural dynamics in Swiss beech forests: Structure, composition, and the influence of former management. Ecological Applications 19(7): 1.920 – 1.934.

  Landesbetrieb ForstBW (Hrsg.) (2010): Alt- und Totholzkonzept Baden-Württemberg. ForstBW. Stuttgart: 42 S.

  Levin N., Mazor T. et al. (2015): Sensitivity analysis of conservation targets in systematic conservation planning. Ecological Applications 25(7): 1.997 – 2.010.

  Margules C.R., Pressey R.L. (2000): Systematic conservation planning. Nature 405(6.783): 243 – 253.

  Michiels H.-G. (2014): Überarbeitung der standortskundlichen regionalen Gliederung von Baden-Württemberg. standort.wald 48: 7 – 40.

  Mikoláš M., Svitok M. et al. (2017): Mixed-severity natural disturbances promote the occurrence of an endangered umbrella species in primary forests. Forest Ecology and Management 405: 210 – 218.

  MLR/Ministerium Ländlicher Raum (1996): Verwaltungsvorschrift des Ministeriums Ländlicher Raum über die Ausweisung von Waldschutzgebieten nach § 32 des Landeswaldgesetzes sowie deren Schutz und Pflege (VwV Waldschutzgebiete) vom 30. Juni 1996. GABI. Az.: 52-8675.10. MLR. Stuttgart: 578 – 591.

  Nagel T.A., Zenner E.K., Brang P. (2013): Research in old-growth forests and forest reserves: Implications for integrated forest management. In: Kraus D., Krumm F. (Hrsg.): Integrative approaches as an opportunity for the conservation of forest biodiversity. European Forest Institute. Joensuu: 44 – 51.

  Paillet Y., Berges L. et al. (2010): Biodiversity differences between managed and unmanaged forests: Meta-analysis of species richness in Europe. Conservation Biology 24(1): 101 – 112.

  Remmert H. (1991): The mosaic-cycle concept of ecosystems. Springer. Berlin: 168 S.

  Scherzinger W. (1996): Naturschutz im Wald: Qualitätsziele einer dynamischen Waldentwicklung. Praktischer Naturschutz. Ulmer. Stuttgart: 447 S.

  Seebach L., Michiels H.-G., Braunisch V. (2020): Naturnähe der Baumartenzusammensetzung im Staatswald Baden-Württemberg räumlich modelliert. standort.wald 51: 37 – 52.

  Sturm K. (1993): Prozeßschutz – ein Konzept für naturschutzgerechte Waldwirtschaft. Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 2(3): 181 – 192.

  WBW, WBBGR/Wissenschaftlicher Beirat für Waldpolitik, Wissenschaftlicher Beirat für Biodiversität und Genetische Ressourcen (Hrsg.) (2020): Wege zu einem effizienten Waldnaturschutz in Deutschland. Stellungnahme. WBW, WBBGR. Berlin: 62 S.

Zurück zum Artikel

Dr. Lucia Seebach

Korrespondierendere Autorin

Forstliche Versuchs- und

Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA)

Abteilung Waldnaturschutz

Wonnhaldestraße 4

79100 Freiburg i. Br.

E-Mail: lucia.seebach@forst.bwl.de Die Autorin ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Naturwaldforschung und Schutzgebietsplanung in der Abteilung Waldnaturschutz der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA). Sie ist zuständig für die fachliche Betreuung der Bannwälder in Baden-Württemberg. Sie hat an der Universität Bayreuth Geoökologie studiert und an der Universität Kopenhagen in angewandter Fernerkundung promoviert. Vorher hat sie sich mehrere Jahre mit der Harmonisierung forstlicher Informationen auf europäischer Ebene am Joint Research Centre der Europäischen Kommission in Ispra (Italien) befasst.

NuL_02_2022_Seebach_Vita.jpg

Dr. Veronika Braunisch

Forstliche Versuchs- und

Forschungsanstalt Baden-Württemberg (FVA)

Abteilung Waldnaturschutz

Wonnhaldestraße 4

79100 Freiburg i. Br.

und

Universität Bern

Institute of Ecology and Evolution, Conservation Biology

Baltzerstrasse 6

3012 Bern

SCHWEIZ

E-Mail: veronika.braunisch@forst.bwl.de

Autoren

Ähnliche Artikel