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Die Sorgfaltspflichten der Verordnung (EU) Nr. 511/2014 in der Praxis – Zumutung für die Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen oder Compliance-System mit Augenmaß?

The due diligence obligations of Regulation (EU) No 511/2014 in practice – An excessive burden upon users of genetic resources or a compliance system with a sense of proportion?

DOI: 10.19217/NuL2024-03-03 • Manuskripteinreichung: 19.6.2023, Annahme: 8.12.2023

Ellen Frederichs und Thomas Greiber

Zusammenfassung

Die zur Umsetzung der Compliance-Vorgaben des Nagoya-Protokolls vorgesehenen Sorgfaltspflichten, die sich aus der Verordnung der Europäischen Union (EU) Nr. 511/2014 (EU-VO) ergeben, werden von vielen Nutzerinnen und Nutzern genetischer Ressourcen stark kritisiert. Unter anderem seien die Verpflichtungen unverhältnismäßig hoch und erzeugten auf Grund unklarer Begriffe und Anforderungen Rechtsunsicherheit. Bei näherer Betrachtung können die geäußerten Kritikpunkte jedoch nicht überzeugen. Der gewählte Sorgfaltsansatz ist vielmehr als maßvolles und ausgewogenes Instrument zu werten, mit dem einerseits die Einhaltung der nationalen Regelungen zu Access and Benefit-sharing (ABS) der Bereitstellerländer sichergestellt werden kann, andererseits jedoch Forschungsprojekte nicht verboten werden, wenn die zur Sicherstellung der Einhaltung nationaler ABS-Regelungen erforderlichen Informationen nicht verfügbar sind. Gleichwohl werden erst die weiteren Vollzugserfahrungen zeigen, ob die EU-VO insgesamt zur Sicherstellung einer Nutzung genetischer Ressourcen und damit verbundenen traditionellen Wissens in Übereinstimmung mit ggf. bestehenden ABS-Regelungen der Bereitstellerländer sowie zur Aufteilung der sich aus der Nutzung ergebenden Vorteile führt.

Nagoya-Protokoll – Einhaltung von Vorschriften – Verordnung (EU) Nr. 511/2014 – Sorgfaltsverpflichtungen – Kritik – Zugangs- und Vorteils-ausgleichsregelungen – Genetische Ressourcen

Abstract

The due diligence obligations provided for in the European Union (EU) Regulation No 511/2014 to implement the compliance requirements of the Nagoya Protocol are criticised strongly by many users of genetic resources. Among other things, the obligations are criticised as being disproportionately high and as creating legal uncertainty due to unclear terms and requirements. On closer examination, however, the criticisms voiced are not convincing. The chosen due diligence approach is rather to be seen as a moderate and balanced instrument, which, on the one hand, can ensure compliance with the national regulations on Access and Benefit-sharing (ABS) of the provider countries, but which, on the other hand, does not prohibit research projects if the information required to ensure compliance with national ABS regulations is not available. Nevertheless, only further enforcement experience will show whether EU Regulation No 511/2014 as a whole will ensure utilisation of genetic resources and associated traditional knowledge in accordance with existing ABS regulations of the provider countries as well as sharing of benefits resulting from utilisation.

Nagoya Protocol – Compliance – Regulation (EU) No 511/2014 – Due diligence obligations – Criticism – Access and Benefit-sharing regulations – Genetic resources

Inhalt

1 Einleitung

2 Umsetzung des Nagoya-Protokolls in der Europäischen Union

3 Kritik von Seiten der Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen

4 Gegenstand der wesentlichen Kritikpunkte

4.1 Regelungen der Bereitstellerländer

4.2 Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO

4.3 Einhaltung der sich aus der EU-VO ergebenden Sorgfaltspflichten

5 Bewertung der Kritikpunkte

6 Ergebnis

7 Rechtsquellen

8 Literatur

1 Einleitung

Zur Vermeidung von Verstößen gegen nationale Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen müssen Vertragsparteien des Nagoya-Protokolls (NP; Secretariat CBD 2011) dafür Sorge tragen, dass innerhalb ihres Territoriums nur legal erworbene genetische Ressourcen und darauf bezogenes traditionelles Wissen genutzt werden und der daraus erzielte Vorteil mit dem so genannten Bereitstellerland geteilt wird (Art. 15 ff. NP). Sie sind folglich verpflichtet, die Nutzung ausländischer genetischer Ressourcen und des darauf bezogenen traditionellen Wissens im eigenen Hoheitsgebiet zu überwachen, Kontrollen durchzuführen und Verstöße zu ahnden.

Die Compliance-Vorschriften des NP werden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) durch die Verordnung (EU) Nr. 511/2014 (EU-VO; EU 2014) und die Durchführungsverordnung (EU) 2015/1866 (EU 2015) umgesetzt. Die EU-VO etabliert dabei ein so genanntes Sorgfaltspflichtensystem, das für die Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen und des darauf bezogenen traditionellen Wissens v. a. Dokumentations-, Aufbewahrungs-, Weitergabe- und Erklärungspflichten begründet. Obwohl der Sorgfaltsansatz der EU-VO als Entgegenkommen für Industrie und akademische Forschung gedacht war, wird das System überwiegend als zu bürokratisch und im Anwendungsbereich als nicht ausreichend klar kritisiert.

Der Artikel bietet einen Überblick über die Hintergründe des gewählten Sorgfaltspflichtenansatzes, die wichtigsten Kritikpunkte, die von unmittelbar Betroffenen geäußert werden, sowie eine Auseinandersetzung mit häufig vorgetragenen Argumenten. Diese werden im Lichte der bisherigen Vollzugserfahrungen des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) als hierfür zuständige Behörde gemäß § 6 des Gesetzes zur Umsetzung des NP und der EU-VO (NagProtUmsG) analysiert.

2 Umsetzung des Nagoya-Protokolls in der Europäischen Union

Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung zur Umsetzung des NP im Jahr 2012 basierte auf einer Studie zur Folgenabschätzung, auf öffentlichen Konsultationen mit Interessengruppen sowie auf zahlreichen Beratungen mit internationalen Partnerinnen und Partnern (Europäische Kommission 2012a: 2). Geprüft wurden zur Umsetzung der Compliance-Vorschriften des NP verschiedene Optionen, u. a. auch ein „Verbot“ der Nutzung unrechtmäßig erworbener genetischer Ressourcen oder von unrechtmäßig erworbenem traditionellem Wissen über genetische Ressourcen mit einem „nachgelagerten“ Überwachungssystem (Option UC-4, Europäische Kommission 2012b: 59). Letztlich empfahl die Europäische Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat, ein EU-weit harmonisiertes Sorgfaltspflichtensystem zu etablieren. Dies sollte für alle, die an der Wertschöpfungskette genetischer Ressourcen mit Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten innerhalb der EU beteiligt sind, gleiche Bedingungen schaffen, Rechtssicherheit herstellen, die operationellen Risiken minimieren und dadurch die Möglichkeiten für Forschung und Entwicklung maximieren (Europäische Kommission 2012a: 4). Der Sorgfaltspflichtenansatz wurde von vielen Interessengruppen wegen seiner Flexibilität, die eine Anpassung an die jeweiligen Situationen in den verschiedenen Sektoren (z. B. unterschiedliche Beschaffungswege und Forschungs- und Entwicklungsansätze) möglich zu machen schien, befürwortet (beispielhaft: ICC 2012).

Die EU-VO sieht im Kern die Verpflichtung vor, bei der Nutzung genetischer Ressourcen oder des darauf bezogenen traditionellen Wissens aus Vertragsparteien des NP mit der gebotenen Sorgfalt vorzugehen, um festzustellen, dass der Zugang zur genutzten genetischen Ressource in Übereinstimmung mit den Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen dieser Vertragspartei erfolgt und dass die Vorteile ausgewogen und gerecht zu einvernehmlich festgelegten Bedingungen aufgeteilt werden. Die zu diesem Zweck einzuholenden Dokumente und Informationen (Dokumentationspflicht) bewahren die Nutzerinnen und Nutzer für einen Zeitraum von 20 Jahren ab Ende der Nutzung auf und geben sie ggf. an nachfolgende Nutzerinnen und Nutzer weiter (Art. 4 EU-VO). Weitere Verpflichtungen beziehen sich auf die Abgabe so genannter Sorgfaltserklärungen, in denen die Rechtmäßigkeit einer konkreten Nutzungstätigkeit an zwei bestimmten Punkten in der Wertschöpfungskette gegenüber der zuständigen Vollzugsbehörde zu erklären ist (Art. 7 Abs. 1 und 2 EU-VO). Die Erklärung ist von Nutzerinnen und Nutzern zu Beginn der Wertschöpfungskette (nach Erhalt von Forschungsgeldern) oder in der letzten Phase der Entwicklung eines Produkts abzugeben (näheres zu den einzelnen Verpflichtungen: Hennicke et al. 2024 in dieser Ausgabe). Dies entspricht der Vorgabe aus Art. 17 NP.

Die EU-VO trat am 12.10.2014 gleichzeitig mit dem NP in Kraft. Das BfN setzt sie seit dem 1.7.2016 als zuständige Behörde in Deutschland um.

Zur Erläuterung der verschiedenen Begrifflichkeiten und der daraus entstehenden Interpretations- und Abgrenzungsfragen entwickelte die EU-Kommission einen Leitfaden zum Anwendungsbereich und den Kernverpflichtungen der EU-VO (Europäische Kommission 2021), der den Nutzerinnen und Nutzern genetischer Ressourcen und den zuständigen Behörden weitere Unterstützung bei der Umsetzung bieten soll.

3 Kritik von Seiten der Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen

In einer von der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2020 über die Auswirkungen der EU-VO auf Forschungseinrichtungen und Unternehmen des privaten Sektors (Milieu Consulting 2020) gab ein überwiegender Teil der Befragten an, dass die sich aus der EU-VO ergebenden Compliance-Verpflichtungen aufwändig und belastend (ebd.: 12) bzw. unverhältnismäßig hoch und teilweise nicht umsetzbar (ebd.: 33) seien. Die Prüfung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO und der nationalen Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen in den Bereitstellerländern der genetischen Ressourcen erfordere einen hohen Aufwand, wobei sich herausstellen würde, dass viele der genetischen Ressourcen schließlich gar nicht betroffen seien (ebd.: 33). Die Vielzahl unterschiedlichster nationaler Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen, die Feststellung ihrer Existenz und Ausgestaltung sowie ihre Einhaltung würden eine rechtmäßige Nutzung erschweren bzw. verhindern. Dabei wurden als maßgebliche Kritikpunkte genannt (ebd.: 33): fehlende Informationen im Access and Benefit-sharing Clearing-House (ABS Clearing-House, eine ABS-Informationsplattform des NP gemäß Art. 14 NP), keine Antworten von Seiten der nationalen Anlaufstellen (national focal points), die nach Art. 13 NP u. a. Informationen zu bestehenden Zugangs- und Ausgleichsregelungen geben sollen, langwierige Antragsverfahren und überzogene Erwartungen an einen Vorteilsausgleich. Obwohl alle Befragten dieser Studie die allgemeinen Grundsätze des NP und der EU-VO unterstützten (ebd.: 26), d. h. sich zu den Zielen von Access and Benefit-sharing (ABS) bekannten, wurde das Bestehen von ABS-Verpflichtungen (sowohl von nationalen Vorschriften über den Zugang als auch von Verpflichtungen aus der EU-VO) als Hindernis für Forschung wahrgenommen (ebd.: 33).

Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt der Nutzerinnen und Nutzer ist, dass die EU-VO auf Grund unklarer Begriffe und unklarer Anforderungen Rechtsunsicherheit erzeuge (Schriftliche Stellungnahme der DIB 2015; Leibniz-Gemeinschaft et al. 2015; Milieu Consulting 2020: 24). Nachfragen an das BfN sowie in der Literatur geäußerte Kritik (u. a. Movilla Pateiro 2020: 287) beziehen sich entsprechend häufig auf Unsicherheiten mit Blick darauf, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um der Sorgfaltspflicht insbesondere bei der Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO gerecht zu werden.

4 Gegenstand der wesentlichen Kritikpunkte

Die geäußerten Kritikpunkte beziehen sich einerseits auf Schwierigkeiten im praktischen Umgang mit der EU-VO und andererseits auf die nationalen Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen der Bereitstellerländer bzw. deren Transparenz und Ausgestaltung.

4.1 Regelungen der Bereitstellerländer

Die Heterogenität der verschiedenen Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen und von deren Anwendung ist kein Umstand, der sich aus der EU-VO ergibt oder auf den die EU einen unmittelbaren Einfluss hätte, sondern eine Folge des souveränen Rechts jedes Staats, frei über den Zugang zu den eigenen genetischen Ressourcen und über deren Nutzung entscheiden zu können (zu Letzterem: Kamau 2024 in dieser Ausgabe). An die sich aus solchen nationalen Regelungen unmittelbar ergebenden Verpflichtungen müssen sich Nutzerinnen und Nutzer unabhängig vom Bestehen der EU-VO halten, wenn sie Zugang zu den genetischen Ressourcen erhalten und diese nutzen wollen. Sie müssen also unabhängig von der Sorgfaltspflicht nach EU-VO herausfinden, ob es Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen im Bereitstellerland der jeweiligen genetischen Ressource gibt, und diese ggf. einhalten. Das Bestehen einer Compliance-Vorschrift in der EU führt „lediglich“ dazu, dass diese Einhaltung auch am Ort der Nutzung in gewissem Umfang überwacht wird.

Die Compliance-Regelungen innerhalb der EU bewirken allerdings, dass Nutzerinnen und Nutzer zusätzlich zur Einhaltung der Regelungen der Bereitstellerländer die Anwendbarkeit der EU-VO prüfen und ggf. die darin enthaltenen weiteren Sorgfaltspflichten zur Dokumentation, Aufbewahrung, Weitergabe und Abgabe einer Sorgfaltserklärung erfüllen müssen. Eine weitere Konsequenz ist, dass die Einhaltung dieser Verpflichtung ggf. durch die zuständigen Behörden in der EU kontrolliert wird.

4.2 Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO

Bei der Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO zeigt ein Blick in den EU-Leitfaden, dass hier zahlreiche Variablen zu berücksichtigen sind – bspw. Fragen zur Einordnung des Materials als im Sinne der EU-VO relevante genetische Ressource, Besonderheiten bei Derivaten, Laborstämmen, Humanpathogenen und dem menschlichen Mikrobiom oder bei genetischen Ressourcen, die von in der EU gebietsfremden Arten stammen oder die als Handelsware (siehe Abb. 1) erworben werden (Europäische Kommission 2021, Kapitel 2.3.1.3, S. 9 f: als Handelsware erworbene genetische Ressourcen können unter die EU-VO fallen, wenn sie zu Nutzungszwecken verwendet werden). Bei Letzterem stehen Nutzerinnen und Nutzer bspw. vor der Frage, welchen Aufwand sie betreiben müssen, um Informationen über Datum und Ort des Zugangs der Handelsware einzuholen. Dieser Aufwand kann umso höher werden, je länger und internationaler die Lieferkette ist, und potenziert sich entsprechend, wenn eine Vielzahl genetischer Ressourcen Gegenstand der Forschungsaktivität ist (bspw. in der Pflanzenzucht).

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Abb. 1: Forschung zu genetischen Ressourcen kann auch an handelsüblichen Waren durchgeführt werden: Marktstand mit verschiedenen pflanzlichen Produkten.
(Foto: Monika Engels)
Fig. 1: Research on genetic resources can also be carried out on commercially available commodities: Market stall with various plant products.

Bei der Feststellung, ob für die konkrete genetische Ressource nationale Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen des Bereitstellerlands gelten, ist es aus Sicht der EU-VO nicht ausreichend, sich auf die Angaben im ABS Clearing-House zu verlassen. Sind in diesem keine Informationen zum Bestehen oder Nichtbestehen von Regelungen enthalten, obwohl die Vertragsparteien hier zur Veröffentlichung verpflichtet sind (Art. 14 NP), so müssen sich die Nutzerinnen und Nutzer direkt an den national focal point der jeweiligen Vertragspartei wenden und dort über die Rechtslage erkundigen. Erhalten sie auch dort „trotz aller zumutbaren Bemühungen“ keine Antwort, können sie selbst entscheiden, ob sie Zugang zu der genetischen Ressource nehmen und diese nutzen wollen (Europäische Kommission 2021, Kapitel 3.2, S. 21). Allerdings ist dabei zu beachten, dass ein Forschungsabbruch erforderlich werden kann, wenn sich während der Nutzung herausstellt, dass der Anwendungsbereich der EU-VO doch eröffnet und Regelungen des Bereitstellerlands zu beachten waren (Art. 4 Abs. 5 EU-VO).

Weitere erhebliche Herausforderungen für von der EU-VO potenziell Betroffene ergeben sich auch aus der Definition von „Nutzung“ gemäß Art. 3 Nr. 5 EU-VO. Im Zusammenhang mit dieser sieht der EU-Leitfaden vor, dass sich Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen selbst die Frage stellen sollen, ob ihre Arbeit neue Erkenntnisse über die genetische oder biochemische Zusammensetzung der untersuchten genetischen Ressource hervorbringt (Europäische Kommission 2021, Kapitel 2.3.3.1, S. 15). Dies führt in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten, so dass sich der größte Teil des EU-Leitfadens speziell mit Erläuterungen und Fallbeispielen zu diesem Thema befasst (Europäische Kommission 2021, Anhang II, S. 32 – 68). Die Komplexität der Lebenswirklichkeit, die Dynamik von Forschung und Entwicklung sowie technologische Fortschritte schließen allerdings aus, dass in dem Leitfaden alle Varianten möglicher Forschungstätigkeiten abgebildet werden können.

4.3 Einhaltung der sich aus der EU-VO ergebenden Sorgfaltspflichten

Ist der Anwendungsbereich der EU-VO eröffnet, ergeben sich die eigentlichen Sorgfaltspflichten der EU-VO aus Art. 4 (siehe oben). Nach den bisherigen Rückmeldungen an das BfN stellt sich deren Erfüllung – mit Ausnahme der Einholung der Informationen und Dokumente, die der Feststellung der Rechtmäßigkeit von Zugang und Vorteilsausgleich dienen – als nicht übermäßig belastend dar. Die Dokumentation bspw. von Zugangszeitpunkt, Herkunft und Verwendung genetischer Ressourcen sowie die Aufbewahrung und ggf. erforderliche Weitergabe dieser Informationen an nachfolgende Nutzerinnen und Nutzer entspricht bereits der gängigen Praxis. Und auch der Kostenaufwand bei der Abgabe von Sorgfaltserklärungen wurde von den Befragten in der Studie zu den Auswirkungen der EU-VO als vernachlässigbar gewertet, wenn zuvor die Dokumente eingeholt worden waren (Milieu Consulting 2020: 17).

Die Hauptschwierigkeit ist demnach v. a. in der Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO und in der Einholung der erforderlichen Dokumente der Bereitstellerländer zu verorten.

5 Bewertung der Kritikpunkte

Die Kritik an der praktischen Umsetzung der EU-VO liegt u. a. darin begründet, dass zur Feststellung der Anwendbarkeit der EU-VO Informationen benötigt werden, die mitunter entweder gar nicht erhältlich sind (z. B. wenn es keine Angaben zur Herkunft einer genetischen Ressource oder zur Existenz nationaler Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen gibt) oder nur unter einem möglicherweise unverhältnismäßigen Aufwand beschafft werden können (z. B. Informationen zur Herkunft von Handelswaren). In solchen Fällen stellt sich der Sorgfaltsansatz jedoch gerade als ein flexibles Instrument dar, das trotz fehlender Informationen zulassen kann, dass mit einer Nutzung begonnen wird. Gleichzeitig erkennt der Ansatz an, dass es im Falle von Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Informationen eine Grenze des Zumutbaren geben muss. Fraglich ist jedoch, wie der Verlauf dieser Grenze bzw. deren Überschreiten im einzelnen Fall geprüft und unter welchen Umständen ein sorgfältiges Handeln anerkannt werden kann.

Kasten 1: Biopiraterie: ja oder nein?
Box 1: Biopiracy: yes or no?

Auch Jahre nach Inkrafttreten des Nagoya-Protokolls (NP) sind die internationalen Diskussionen zu Access and Benefit-sharing (ABS) weiterhin sehr komplex und teilweise von Missverständnissen geprägt. Streitigkeiten resultieren z. B. aus

entgegengesetzten politischen ABS-Strategien: von protektionistisch bis liberal bzw. forschungs- und entwicklungsorientiert,
Unterschieden in der ABS-Umsetzung: etwa bei der Definition genetischer Ressourcen oder dem Verständnis von Forschung und Entwicklung (F&E),
Unterschieden in den mit ABS verbundenen Erwartungen: von der Förderung von Nord-Süd-Forschungskooperationen über Rechtssicherheit in transnationalen F&E-Prozessen bis zu Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern oder gar Wiedergutmachung des durch koloniale Ausbeutung entstandenen historischen Unrechts.

Komplexität und Missverständnisse spiegeln sich v. a. auch in immer wiederkehrenden Biopiraterievorwürfen, die oftmals weniger rechtlich denn politisch-moralisch begründet sind. Veranschaulichen lässt sich dieses Problem z. B. an Vorwürfen, die im Zuge der Verhandlungen zur Anwendung des ABS-Konzepts auf digitale Sequenzinformationen (DSI) zu genetischen Ressourcen erhoben wurden (Riekeberg 2019). Kurz zusammengefasst wurde hier folgender Fall mit Biopiraterie in Verbindung gebracht:

Im März 2014 wurden klinische Proben des Ebola-Virus, die Patientinnen und Patienten im westafrikanischen Guinea entnommen worden waren, zur Analyse an zwei Labore in Europa übersandt. Gemäß guter wissenschaftlicher Praxis veröffentlichten die beteiligten Forscherinnen und Forscher ihren epidemiologischen Bericht in einer Fachzeitschrift sowie die betreffende Gensequenz im internationalen Datenbanksystem für Nukleotidsequenzdaten (International Nucleotide Sequence Database Collaboration – INSDC). Der Open Access zu dieser DSI ermöglichte es einem Unternehmen in den USA, ein Medikament gegen Ebola zu entwickeln und entsprechende Patente anzumelden, ohne mit dem Herkunftsland Guinea über die Nutzungsrechte an der zu Grunde liegenden genetischen Ressource und über einen gerechten Vorteilsausgleich zu verhandeln.

Bei genauerer Betrachtung stellen sich insbesondere zwei Fragen, die beispielhaft die Notwendigkeit einer genaueren Differenzierung in den ABS-Diskussionen aufzeigen: Was ist Biopiraterie und wogegen wird dabei verstoßen?

Was ist Biopiraterie?

Der Begriff Biopiraterie ist in keinem internationalen Abkommen definiert, weder im Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity – CBD) noch im NP oder einem spezialisierten ABS-Instrument. Es handelt sich lediglich um ein Schlagwort und nicht um einen Rechtsbegriff.

Verwendung findet der Begriff häufig im Zusammenhang mit der Anmeldung geistigen Eigentums (Patenten) an Forschungsergebnissen über genetische Ressourcen aus einem fremden Herkunftsland (siehe z. B. Federle 2005). Der Vorwurf der Biopiraterie wird aber auch bei solchen Fällen erhoben, in denen F&E an genetischen Ressourcen ohne vorherige ABS-Genehmigung durch das Bereitstellerland stattfindet, unabhängig von der Anmeldung geistigen Eigentums oder sonstiger wirtschaftlicher Nutzung (siehe z. B. Law 2019; vgl. Abb. K1-1). In wiederum anderen Fällen werden Verstöße gegen die in ABS-Genehmigungen vereinbarten Bedingungen oder die Nichteinhaltung vertraglicher ABS-Pflichten als Biopiraterie bezeichnet (siehe z. B. Rabitz 2015). „Moralisch“ mögen diese Fälle einander ähneln, da das ABS-Ziel einer Kooperation zwischen Bereitstellerland und Nutzerin oder Nutzer einer genetischen Ressource ignoriert wird. Rechtlich sind sie jedoch klar voneinander zu trennen, zumal unterschiedliche Verstöße angeprangert werden.

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Abb. K1-1: Neonblaubeinige Vogelspinne (Birupes simoroxigorum). Kurz nach ihrem Fund im Jahr 2017 in Malaysia wurden zwei Exemplare nach England verbracht, dort wissenschaftlich untersucht und als neue Art beschrieben, ohne dass diese Forschung von ABS-Dokumenten gedeckt war.
(Foto: Lars Fehlandt)
Fig. K1-1: Neon blue-legged tarantula (Birupes simoroxigorum). Shortly after its discovery in Malaysia in 2017, two specimens were brought to England, where they were scientifically examined and described as a new species without this research being covered by ABS documents.

Wogegen wird dabei verstoßen?

Eine weitere Differenzierung ist hinsichtlich des konkreten Vorwurfs notwendig: Verstoß gegen Völkerrecht oder gegen geltendes nationales Recht des Bereitstellerlands oder Widerspruch zu politischen (nicht rechtsverbindlichen) Strategien eines Bereitstellerlands?

Im vorliegenden Fall scheidet ein Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen in mehrfacher Hinsicht aus: Internationale Abkommen wie die CBD und das NP binden nur Staaten, d. h. die Verpflichtungen richten sich gerade nicht an Unternehmen, Forschungsinstitute oder einzelne Forschende. Zudem war das NP zum Zeitpunkt des Exports wie auch der Erforschung der genetischen Ressourcen im März 2014 noch nicht in Kraft und Guinea als Bereitstellerland erst ab Januar 2015 NP-Vertragspartei (siehe ABS Clearing-House unter https://absch.cbd.int). Schließlich hat das Ergebnis der Verhandlungen zu DSI im Rahmen der CBD- und NP-Vertragsstaatenkonferenzen im Jahr 2022 eine Regelungslücke auf internationaler Ebene bestätigt, die es noch zu schließen gilt (näheres hierzu in Scholz et al. 2024 in dieser Ausgabe). Erst im Dezember 2022 beschloss die internationale Staatengemeinschaft, einen multilateralen Mechanismus für den Vorteilsausgleich aus der Nutzung von DSI genetischer Ressourcen einzurichten, der erst noch über eine offene Ad-hoc-Arbeitsgruppe zu entwickeln ist (CBD 2022).

Auch ein Verstoß gegen nationales ABS-Recht oder ABS-Strategien kann im vorliegenden Fall nicht begründet werden. Ausweislich der Einträge im ABS Clearing-House und dem nationalen Interim Report Guineas (veröffentlicht am 26.3.2019) verfügt Guinea bislang nicht über die „finanziellen, technischen und personellen Möglichkeiten“, ein nationales ABS-System aufzubauen. Es bestehen daher keine nationalen ABS-Regelungen, aus denen sich rechtliche Verpflichtungen zum Einholen von ABS-Genehmigungen, zum Abschluss von Vorteilsausgleichsregelungen oder zum Durchlaufen administrativer ABS-Prozesse ergeben könnten.

Folglich kann anhand des vorliegenden Falls zwar eine Regelungslücke veranschaulicht, bei einer differenzierten rechtlichen Betrachtung ein Biopiraterievorwurf aber nicht begründet werden.

Beschrieben wird die Sorgfaltspflicht im EU-Leitfaden (Europäische Kommission 2021) als „gebotene Sorgfalt“, die sich auf die Beurteilung und die Entscheidungen bezieht, die in einer bestimmten Situation nach vernünftigem Ermessen erwartet werden können. Dabei sollen Informationen systematisch erhoben und genutzt werden, wobei es nicht darum geht, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen oder Perfektion anzustreben, sondern um Gründlichkeit und bestmögliches Bemühen (Europäische Kommission 2021, Kapitel 3.1, S. 19). Nutzerinnen und Nutzer können also zunächst selbst bestimmen, ob sie in einer bestimmten Situation den von ihnen betriebenen Aufwand als „bestmögliches Bemühen“ ansehen und mit der Nutzung beginnen möchten.

Im Rahmen der durchgeführten Kontrollen von Nutzerinnen und Nutzern genetischer Ressourcen hat es bislang keine Situation gegeben, in der das BfN über die Frage zu entscheiden hatte, ob ein Bemühen zur Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO in einer konkreten Situation als „bestmögliches Bemühen“ zu bewerten war. Auch der EU-Leitfaden enthält hierzu keine praktischen Erfahrungswerte und die Darstellung und Bewertung rein fiktiver Beispielsituationen haben sich auf Grund der Komplexität realer Sachverhalte bzw. der unterschiedlichsten Faktoren, die bei einer Bewertung zu berücksichtigen sind, als nicht hilfreich erwiesen. Die Befürchtung der Betroffenen, bei der Feststellung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-VO überzogene Anforderungen erfüllen zu müssen, kann jedoch möglicherweise durch folgende Überlegungen relativiert werden. Die Beweislast, dass der Anwendungsbereich der EU-VO eröffnet ist, liegt bei der zuständigen Behörde. Haben sich Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen in einem konkreten Fall um Informationen bemüht und kommen auf Grundlage der vorliegenden oder nicht vorliegenden Informationen zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass der Anwendungsbereich der EU-VO nicht eröffnet ist, so müsste die kontrollierende Behörde zur Feststellung eines Sorgfaltsverstoßes ihrerseits über Informationen verfügen, anhand derer sich die Anwendbarkeit der EU-VO zweifelsfrei belegen lässt. Für die Vorwerfbarkeit des Verstoßes müsste sie darüber hinaus zu der Einschätzung kommen, dass ihr Wissensstand nach vernünftigem Ermessen auch von der Nutzerin oder dem Nutzer hätte erreicht werden können. Ein solcher behördlicher Wissensvorsprung scheint jedoch bei komplexen Sachverhalten wie der unklaren Herkunft einer genetischen Ressource eher unwahrscheinlich. Zumindest ist in der Regel nicht davon auszugehen, dass die zuständige Behörde bezüglich der Feststellung relevanter Tatsachen über Informationen verfügt, die den Betroffenen nur unter unzumutbaren Anstrengungen zugänglich gewesen wären.

Rechtsunsicherheiten bei der Bewertung der eigenen Forschungstätigkeiten als „Nutzung“ ergeben sich bereits aus deren Definition, die sowohl in Art. 3 Nr. 5 der EU-VO als auch gleichlautend in Art. 2 (c) des NP enthalten ist. Insbesondere die in der Definition enthaltenen Begriffe „Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten“ geben dabei Raum für Interpretationen (Europäische Kommission 2021, Kapitel 2.3.3.1, S. 14 ff.). Bei der Bewertung der Kritik an dieser Definition ist jedoch zu berücksichtigen, dass Nutzerinnen und Nutzer die eigene Tätigkeit in jedem Fall auf Rechtsrelevanz prüfen müssen, nämlich bei der Frage, ob für die geplanten Forschungstätigkeiten die Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen des Bereitstellerlands greifen. Wenn die Regelungen des Bereitstellerlands den Begriff „Nutzung“ anders interpretieren und für die jeweilige Forschungstätigkeit Zugangserlaubnisse und einen Vorteilsausgleich vorsehen, so besteht auch jenseits der EU-VO die Verpflichtung, diese Regelungen einzuhalten. Werden dieser Verpflichtung entsprechend die Genehmigungen des Bereitstellerlands eingeholt, so wäre die Sorgfaltspflicht der EU-VO diesbezüglich ohnehin bereits erfüllt. Die Kritik am „komplizierten“ Nutzungsbegriff der EU-VO erscheint vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. In der bisherigen Vollzugspraxis und Beratungstätigkeit des BfN hat sich zudem gezeigt, dass eine detaillierte Prüfung von „Nutzung“ im Sinne der EU-VO für Nutzerinnen und Nutzer insbesondere dann interessant ist, wenn die Einhaltung der Regelungen der Bereitstellerländer aufwändig oder möglicherweise nicht durchführbar erscheint. Von der unstreitigen Annahme ausgehend, dass Regelungen der Bereitstellerländer grundsätzlich auch jenseits der EU-VO einzuhalten sind, ist die Überprüfung der Erfüllung des Nutzungsbegriffs jedoch nicht zwingend als zusätzlicher Aufwand zu werten, der sich aus der EU-VO ergibt.

Zur Bewertung der Sorgfaltspflicht der EU-VO als maßvolles Umsetzungsinstrument ist weiter zu fragen, ob auch eine Umsetzung der Compliance-Vorschriften aus dem NP möglich gewesen wäre, die einen weniger strikten Sorgfaltsmaßstab oder einen engeren Anwendungsbereich vorgesehen hätte. Beispielsweise hätte festgelegt werden können, dass Handelsware aus Gründen der Praktikabilität aus dem Anwendungsbereich der EU-VO ausgenommen wird oder die Sorgfaltspflicht bei einem Fehlen von Informationen im ABS Clearing-House als erfüllt gilt, ohne dass das Risiko einer späteren Nutzungsuntersagung besteht (siehe Abschnitt 4.2). Theoretisch möglich wäre es auch gewesen, den Nutzerinnen und Nutzern bei nachweislich komplizierten oder langwierigen Antragsverfahren in den Bereitstellerländern entgegenzukommen und sie in diesen Fällen von der Pflicht zur Einholung der erforderlichen Dokumente zu entbinden bzw. die Sorgfaltspflicht als erfüllt zu bewerten. Ein anderer, strengerer Ansatz hätte umgekehrt in der Verpflichtung bestehen können, gegenüber den zuständigen EU-Behörden einen Nachweis über die Herkunft genetischer Ressourcen und die Übereinstimmung mit den nationalen Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen führen zu müssen.

Eine tiefer gehende Analyse der rechts- und möglicherweise forschungspolitischen Gründe, weshalb in der EU von diesen Ansätzen abgesehen wurde, kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Doch ist zumindest anzunehmen, dass die Herausnahme von Handelsware aus dem Anwendungsbereich der EU-VO eine erhebliche Regelungslücke und eine leichte Möglichkeit der Umgehung nationaler Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen zur Folge gehabt hätte. Auch eine Erleichterung dahingehend, in bestimmten Fällen von der Einhaltung nationaler ABS-Regelungen abzusehen, wäre vor dem Grundsatz, die souveränen Rechte der Bereitstellerländer anzuerkennen, nicht akzeptabel gewesen. Des Weiteren entspräche es nicht dem Rechtsstaatsprinzip, wenn das ABS Clearing-House, das eine reine Informationsplattform ist, als gültige Rechtsquelle anerkannt würde. Und schließlich wird an dieser Stelle ohne tiefer gehende Analyse davon ausgegangen, dass ein grundlegendes Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Verhältnis zum Sorgfaltsansatz keine Erleichterung bei der Durchführung von Forschungsprojekten bewirkt hätte (Empfehlung einer Verbotsnorm in Godt et al. 2020: 79 und weitere Stellen).

6 Ergebnis

Seit Inkrafttreten der EU-VO am 12.10.2014 besteht für Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen eine behördlich überprüfbare Sorgfaltspflicht, die Übereinstimmung ihres Tuns mit den ggf. bestehenden nationalen Regelungen von Vertragsparteien des NP zum Zugang und Vorteilsausgleich festzustellen. Der Sorgfaltsansatz ermöglicht dabei eine gewisse Flexibilität und Ausgewogenheit, bei der weder eine Missachtung der nationalen Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen geduldet noch die Forschung an genetischen Ressourcen bei unklarer Informations- und Rechtslage verhindert wird. So ermöglicht der Ansatz Forschungstätigkeiten im Unterschied zu einer reinen Verbotsnorm in solchen Fällen, in denen mangels Informationen eine Rechtmäßigkeit der Nutzung zunächst nicht feststellbar ist. Das sich dabei aus Art. 4 Abs. 5 EU-VO ergebende Risiko, die Nutzungstätigkeit wieder beenden zu müssen, wenn sich später herausstellt, dass der Zugang (doch) nicht im Einklang mit den nationalen ABS-Regelungen erfolgte und dieser Umstand nachträglich nicht geheilt werden kann, ist demgegenüber als notwendige Korrektur eines von Anfang an bestehenden rechtswidrigen Zustands zu bewerten.

Den Sorgfaltsansatz als maßgeblich für eine als unangemessen erachtete Belastung oder als Hinderungsgrund von Forschung und Entwicklung zu bewerten, scheint nicht gerechtfertigt. Der größte Aufwand, der sich für Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen aus der EU-VO ergibt, besteht darin, die Rechtmäßigkeit ihrer Tätigkeit sicherzustellen, d. h. sich über die Existenz von Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen der Bereitstellerländer zu informieren, diese zu befolgen sowie ggf. abgeschlossene vertragliche Verpflichtungen in Bezug auf Nutzung und Vorteilsausgleich einzuhalten. Da nationale Zugangs- und Vorteilsausgleichsregelungen unbestritten auch unabhängig von der EU-VO einzuhalten sind, müssen Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen diesen Aufwand jedoch auch dann betreiben, wenn die EU-VO nicht greift oder keine derartigen Verpflichtungen vorsähe. Die weiteren Verpflichtungen aus der EU-VO – die Aufbewahrung und Weitergabe der eingeholten Dokumente und Informationen sowie die Abgabe einer Sorgfaltserklärung – werden von den meisten Betroffenen hingegen kaum als Belastung wahrgenommen.

Insgesamt ist die Sorgfaltspflicht der EU-VO für die Nutzerinnen und Nutzer genetischer Ressourcen als eine Umsetzungsmaßnahme zu werten, bei der die Besonderheiten, die sich aus dem NP mit einer Vielzahl unterschiedlich ausgestalteter nationaler ABS-Maßnahmen ergeben, maßvoll berücksichtigt wurden. Gleichwohl wird sich erst im Weiteren zeigen, ob die vorgesehenen Maßnahmen tatsächlich zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen. Dabei wird insbesondere die Frage zu klären sein, ob die zuständigen Behörden bei den Kontrollen in der Lage sind, die Einhaltung der Sorgfaltspflichten und damit auch die vertraglich vereinbarte Aufteilung der Vorteile mit den Bereitstellern der genetischen Ressourcen ausreichend zu überprüfen. Hierzu bleiben zunächst weitere Erfahrungen im Vollzug der EU-VO abzuwarten.

7 Rechtsquellen

  EU/Europäische Union (2014): Verordnung (EU) Nr. 511/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über Maßnahmen für die Nutzer zur Einhaltung der Vorschriften des Protokolls von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Union. Amtsblatt der Europäischen Union L 150/59.

  EU/Europäische Union (2015): Durchführungsverordnung (EU) 2015/1866 der Kommission vom 13.10.2015 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EU) Nr. 511/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf das Register von Sammlungen, die Überwachung der Einhaltung der Vorschriften durch die Nutzer und bewährte Verfahren. Amtsblatt der Europäischen Union L 275/4.

  NagProtUmsG: Gesetz zur Umsetzung der Verpflichtungen nach dem Nagoya-Protokoll und zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 511/2014 vom 25. November 2015 (BGBl. I S. 2.092), geändert durch Artikel 35 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1.328).

  Secretariat CBD/Secretariat of the Convention on Biological Diversity (2011): Nagoya Protocol on access to genetic resources and the fair and equitable sharing of benefits arising from their utilization to the Convention on Biological Diversity. Text and annex. Secretariat of the CBD. Montreal: 25 S. https://www.cbd.int/abs/doc/protocol/nagoya-protocol-en.pdf (aufgerufen am 17.11.2023).

8 Literatur

  CBD/Convention on Biological Diversity (2022): Digital sequence information on genetic resources. Decision adopted by the Conference of the Parties to the Convention on Biological Diversity. CBD/COP/DEC/15/9. CBD. Montreal: 5 S. https://www.cbd.int/doc/decisions/cop-15/cop-15-dec-09-en.pdf (aufgerufen am 6.12.2023).

  DIB/Deutsche Industrievereinigung Biotechnologie (2015): Schriftliche Stellungnahme der DIB im Rahmen der Anhörung des Umweltausschusses des Bundestags zur Umsetzung des Nagoya Protokolls und zur Durchführung der EU-VO 511/2014. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit. Ausschussdrucksache 18(16)265-C zur Anhörung am 30.9.2015. Berlin: 5 S. https://bit.ly/DIB-NP (aufgerufen am 17.11.2023).

  Europäische Kommission (2012a): Executive summary of the impact assessment: Commission staff working document accompanying the document proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on access to genetic resources and the fair and equitable sharing of benefits arising from their utilization in the Union. SWD (2012) 291 final. Europäische Kommission. Brüssel: 4 S.

  Europäische Kommission (2012b): Impact assessment: Commission staff working document accompanying the document proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on access to genetic resources and the fair and equitable sharing of benefits arising from their utilization in the Union. Part 2 – Annexes. SWD (2012) 292 final. Europäische Kommission. Brüssel: 114 S.

  Europäische Kommission (2021): Leitfaden zu dem Anwendungsbereich und den Kernverpflichtungen der Verordnung (EU) Nr. 511/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates über Maßnahmen für die Nutzer zur Einhaltung der Vorschriften des Protokolls von Nagoya über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile in der Union. Amtsblatt der Europäischen Union vom 12.1.2021 C 13/1. Europäische Kommission. Brüssel: 68 S.

  Federle C. (2005): Biopiraterie und Patentrecht. Schriftenreihe Recht, Ethik und Ökonomie der Biotechnologie 13. Nomos. Baden-Baden: 194 S.

  Godt C., Susnjar D., Wolff F. (2020): Umsetzung des Nagoya Protokolls in EU- und nationales Recht – ein Alternativvorschlag zur Umsetzung der EU VO 511/2014. Umweltrechtliche Studien 51. Nomos. Baden-Baden: 322 S.

  Hennicke L., Qasem F., Gent R. (2024): Access and Benefit-sharing (ABS) in der Praxis: Was muss, was kann getan werden? Natur und Landschaft 99(3): 109 – 117. DOI: 10.19217/NuL2024-03-02

  ICC/International Chamber of Commerce (2012): Nagoya Protocol implementation in the EU: Comments on a possible due diligence system and the EU Timber Regulation. Document No. 450/1075 vom 18.6.2012. ICC. Paris. Publiziert 2016 unter https://bit.ly/ICC-NP (aufgerufen am 17.11.2023).

  Kamau E.C. (2024): Access and Benefit-sharing und das Nagoya-Protokoll: Quid pro quo für die Nutzung der biologischen Vielfalt – eine kritische Bestandsaufnahme. Natur und Landschaft 99(3): 98 – 108. DOI: 10.19217/NuL2024-03-01

  Law Y.-H. (2019): This amazing blue tarantula is a new spider species – But did researchers break the law when they studied it? Science News. https://bit.ly/Science-Blue-Tarantula (aufgerufen am 17.11.2023). DOI: 10.1126/science.aax1678

  Leibniz-Gemeinschaft, VBIO e. V., Konsortium DNFS (2015): Gemeinsames Positionspapier der Leibniz-Gemeinschaft, des Verbands Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) und des Konsortiums Deutsche Naturwissenschaftliche Forschungssammlungen (DNFS) zu den Gesetzesentwürfen der Bundesregierung zu dem Protokoll von Nagoya und dessen nationaler Umsetzung (vorgelegt zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau & Reaktorsicherheit am 30. September 2015). München: 7 S. https://bit.ly/Leibniz-NP (aufgerufen am 17.11.2023).

  Milieu Consulting (2020): Analysis of implications of compliance with the EU ABS Regulation for research organisations and private sector companies. Milieu Law & Policy Consulting. Brüssel: 39 S. https://bit.ly/Milieu_ABS_Regulation (aufgerufen am 21.11.2023).

  Movilla Pateiro L. (2020): Advances and uncertainties in compliance measures for users from the Nagoya Protocol in the European Union. Review of European, Comparative & International Environmental Law 29(2): 282 – 290. DOI: 10.1111/reel.12320

  Rabitz F. (2015): Biopiracy after the Nagoya Protocol: Problem structure, regime design and implementation challenges. Brazilian Political Science Review 9(2): 30 – 53. DOI: 10.1590/1981-38212014000200010

  Riekeberg A. (2019): Biopiraterie 2.0? Digitale Sequenz-Information (DSI) und ihr Potential für neue Formen der Biopiraterie. Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e. V. Berlin: 46 S.

  Scholz A.H., Núñez G. et al. (2024): Die Zukunft des Access and Benefit-sharing: Was folgt auf die Verabschiedung des Globalen Biodiversitätsrahmens und die Entscheidung zu digitalen Sequenzinformationen? Natur und Landschaft 99(3): 135 – 142. DOI: 10.19217/NuL2024-03-05

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Ellen Frederichs

Korrespondierende Autorin

Bundesamt für Naturschutz

Fachgebiet I 1.5 „Vollzug Nagoya-Protokoll“

Konstantinstraße 110

53179 Bonn

E-Mail: ellen.frederichs@bfn.de Ellen Frederichs studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bonn und hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Umsetzung internationaler Naturschutzabkommen beim Bundesamt für Naturschutz (BfN). Sie begann dort ihre berufliche Laufbahn im Jahr 1999 bei der deutschen Vollzugsbehörde für das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora – CITES) und wechselte im Jahr 2015 innerhalb des BfN, um die deutsche Vollzugsbehörde für das Nagoya-Protokoll organisatorisch und inhaltlich von Anfang an mit aufzubauen.

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Thomas Greiber

Bundesamt für Naturschutz

Ehemals Fachgebiet I 1.5 „Vollzug Nagoya-Protokoll“

Konstantinstraße 110

53179 Bonn

E-Mail: thomas.greiber@bfn.de

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