Christoph Schleer, Marc Calmbach und Fritz Reusswig
Zusammenfassung
Der Beitrag gibt aus soziokultureller Perspektive Einblicke in die Jugendkultur und die heutigen Lebenswelten von Jugendlichen. Ausgehend von einigen zentralen Befunden aktueller Jugendstudien wird aufgezeigt, dass die häufig erwähnte kulturkritische These, wonach „die Jugend“
der Natur immer mehr entfremdet gegenübersteht, nicht aufrechterhalten werden kann. Zwar sind Naturferne, Desinteresse und mangelndes Engagement Phänomene, die wir bei Jugendlichen beobachten können. Aber weder lassen sie sich für „die Jugend“ verallgemeinern, noch ist ein Trend der
Verschlechterung des Naturbewusstseins bei Jugendlichen zu erkennen.
Jugendliche Lebenswelten – Naturbewusstsein – Nachhaltigkeit – Naturschutzkommunikation – ZielgruppenAbstract
The article provides insights into youth culture and the lifeworlds of young people today from a socio-cultural perspective. Based on key findings of recent youth studies, it is shown that the frequently mentioned cultural-critical thesis, according to which “the youth” is
increasingly alienated from nature, cannot be upheld. It is true that distance from nature, disinterest and lack of commitment are phenomena that we can observe among young people. But neither can they be generalised for “the youth”, nor is there a trend of deteriorating nature
awareness among young people.
Youth lifeworlds – Nature awareness – Sustainability – Nature conservation communication – Target groupsInhalt
1 Einleitung
Wie steht die Jugend in Deutschland zu Naturschutz und Nachhaltigkeit? Bei kaum einer gesellschaftlichen Gruppierung haben sich die Einschätzungen dazu so massiv gewandelt wie bei dieser. Fast hatten wir uns an die Auskunft gewöhnt, Kinder und Jugendliche würden sich immer weniger
für Natur und Naturschutzbelange interessieren. Sie würden mehr Apps als Arten kennen, gingen kaum noch raus in die freie Natur und engagierten sich immer weniger für naturpolitische Themen. An empirischen Belegen dafür schien es nicht zu mangeln. So lässt sich die gesellschaftsweit
feststellbare Erosion der Artenkenntnis (Gerl et al. 2017; Schulemann-Maier, Munzinger 2018; Schulte et al. 2019) auch bei Kindern und
Jugendlichen zeigen (Jäkel, Schaer 2004; Zahner et al. 2007; Dachs et al. 2009; LBV 2018). Für diese
angeblich jugendtypische „Naturvergessenheit“ wurden v. a. die übermächtigen Trends einer modernen und hochtechnisierten Konsum- und Mediengesellschaft verantwortlich gemacht (Brämer 2010).
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob sich die empirische Datenlage zu Jugend und Natur(schutz) zu einer geschlossenen kulturkritischen Gesamtdeutung zusammenfügen lässt – oder ob es nicht auch Deutungsansätze gibt, die zu weniger Pessimismus Anlass geben. Denn:
Spätestens seit den stark von Kindern und Jugendlichen geprägten Klimaschutzprotesten von Fridays for Future hat sich das Bild gewandelt (u. a. BMU 2018). Plötzlich erscheint „die Jugend“ als Avantgarde einer neuen
Nachhaltigkeitsbewegung, die auch der Politik „Beine macht“ (Haunss, Sommer 2020). Schon wird von einer „Generation Greta“ (Hurrelmann, Albrecht 2020a) gesprochen und von Fridays for Future als dem
Beginn einer neuen Epoche der Veränderung von Gesellschaft insgesamt (Hurrelmann, Albrecht 2020b).
Für eine differenziertere Analyse wollen wir die Rede von „der“ jungen Generation aufbrechen und einen empirischen Blick auf die Vielfalt jugendlicher Lebenswelten werfen. Auf Basis einiger ausgewählter Ergebnisse der SINUS-Studie „Wie ticken Jugendliche 2020?“ (Calmbach et al. 2020) und der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 (BMU, BfN 2021) wird im Folgenden gezeigt, dass der Zugang zu Natur(schutz) milieuspezifisch variiert und Catch-all-Diagnosen bei
diesem Thema kaum möglich sind.
Nach einer kurzen Einführung in die methodische Vorgehensweise der Studien wird die soziokulturelle Vielfalt der Jugendpopulation der 14- bis 17-Jährigen anhand des SINUS-Modells für jugendliche Lebenswelten beschrieben. Daran anschließend werden einige zentrale Befunde der
SINUS-Jugendforschung im Kontext Natur(schutz) präsentiert. Der Beitrag schließt mit einem Fazit, das die Notwendigkeit einer zielgruppenspezifischen Naturschutzkommunikation herausstellt.
2 Untersuchungsanlage der Studien
Für die qualitative SINUS-Jugendstudie 2020 wurden 72 narrative Interviews (Einzelexplorationen) mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren durchgeführt (Dauer: ca. 90 min). Die Befragungen fanden im häuslichen Umfeld der Jugendlichen statt und
wurden deutschlandweit in der Zeit von Anfang März 2019 bis Ende Juni 2019 realisiert.
Die Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 ist demgegenüber eine quantitative Repräsentativbefragung, die im Frühsommer 2020 mit über 1.000 Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren durchgeführt wurde (siehe auch Kasten 1). Für die Datenerhebung wurde ein Mixed-mode-Design entworfen, bestehend aus einer Onlinebefragung (n = 902) und zusätzlichen persönlich-mündlichen Interviews (n = 101), die durchgeführt wurden, um auch jene Jugendliche zu
befragen, die online nur schwer zu erreichen sind.
Kasten 1: Jugend-Naturbewusstsein 2020 – Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Jugendlichen zu Einstellungen und Handlungsbereitschaft für Naturschutz und biologische Vielfalt.
Box 1: 2020 Youth Nature Awareness – Results of a representative survey of young people on attitudes and willingness to act for nature conservation and biodiversity.
Die Ergebnisse der ersten Jugend-Naturbewusstseinsstudie wurden im April 2021 vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit und dem Bundesamt für Naturschutz veröffentlicht (BMU, BfN 2021). Diese
bundesweite Erhebung zum Bewusstsein von Jugendlichen und jungen Erwachsenen für Natur, Naturschutz und biologische Vielfalt wurde in einem ersten Schritt im Frühsommer 2020 durch Befragung von 1.003 Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren durchgeführt. Die
Befragung erfolgte überwiegend online, ergänzend wurden persönliche Gespräche geführt. Eine weitere Befragung fand im November 2020 online zum Thema Naturbeziehung in Zeiten der Coronapandemie statt. Dabei wurden weitere 1.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter
von 18 bis 24 Jahren befragt. Die Studie ist repräsentativ für Jugendliche aller Regionen und sozialen Lagen in Deutschland.
Kernaussagen der Studie sind unter anderem:
● 88 % der Jugendlichen bringen den Begriff der biologischen Vielfalt mit Artenvielfalt in Verbindung, 22 % mit der Vielfalt von Lebensräumen und 10 % mit genetischer Vielfalt.
● 60 % wünschen sich eine bessere Artenkenntnis.
● 52 % halten sich seit Beginn der Coronakrise viel oder etwas häufiger in der Natur auf.
● 84 % sehen den Naturschutz voll und ganz oder zumindest eher als eine kollektive Aufgabe an, bei der „wir gemeinsam“ mehr erreichen können (Abb. K1-1).
Abb. K1-1: Jugendliche sind 2020 viel stärker davon überzeugt, gemeinsam als Menschheit etwas für die Natur auf der Erde erreichen zu können, als wenn sie auf sich allein gestellt sind.
Fig. K1-1: In 2020, young people are much more convinced that humankind as a whole can achieve something to protect nature on Earth, in contrast to achieving something entirely on their own.
(Quelle: BMU, BfN 2021, verändert)(source: BMU, BfN 2021, modified)
● 90 % ärgern sich über einen sorglosen Umgang mit der Natur und 91 % sind der Meinung, dass es die Pflicht des Menschen ist, die Natur zu schützen.
● 33 % haben bereits an einer Demonstration für den Natur- und Umweltschutz teilgenommen.
● 66 % der Jugendlichen halten die Energiewende für richtig.
Die Ergebnisse der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 zeigen eine facettenreiche Generation, die schon jetzt hohe Einsatzbereitschaft für Natur und biologische Vielfalt besitzt, aber auch in vielen Bereichen offen ist für eine aktive Gestaltung des transformativen Wandels
hin zu einer nachhaltigen und naturverträglichen Gesellschaft.
Damit alle Generationen gemeinsam an zukunftsorientierten, innovativen und tragfähigen Lösungsstrategien für Naturschutz, Klimaschutz und eine nachhaltige Entwicklung arbeiten können, ist es erforderlich, Jugendlichen authentisch „auf Augenhöhe“ zu begegnen und sie über
Partizipationsprozesse einzubinden. Toleranz auch für neue und ungewohnte Lösungsvorschläge ist dabei unbedingt erforderlich, damit sich das kreative Potenzial einer engagierten und naturbewussten jungen Generation voll entfalten kann.
Die Veröffentlichung inklusive Analysen nach dem Lebensstilmodell der SINUS-Milieus (sozialer Gruppen von Jugendlichen mit unterschiedlichen Werthaltungen) sowie Empfehlungen für die Naturschutzkommunikation stehen in deutscher und englischer Sprache im Internet unter https://www.bfn.de/naturbewusstsein zum kostenlosen Abruf bereit.
Eine Fortsetzung der Untersuchung des Naturbewusstseins Jugendlicher findet im Rahmen der aktuellen Naturbewusstseinsstudie 2021 statt, eine Veröffentlichung ist für das zweite Quartal 2022 vorgesehen.
Literatur
BMU, BfN/Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, Bundesamt für Naturschutz (2021): Jugend-Naturbewusstsein 2020. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt. BMU, BfN. Berlin,
Bonn: 103 S.
Autor
Dr. Andreas Wilhelm Mues
Fachgebiet I 2.2 „Naturschutz, Gesellschaft und soziale Fragen“
Bundesamt für Naturschutz
Konstantinstraße 110
53179 Bonn
E-Mail:
andreas.mues@bfn.de
3 Das SINUS-Modell für jugendliche Lebenswelten in Deutschland
Um der Frage nachzugehen, inwiefern sich die soziokulturelle Vielfalt der Jugendlichen in Deutschland auf die verschiedenen Werthaltungen der jungen Generation zurückführen lässt, hat das Sinus-Institut auf Grundlage qualitativer Befragungen ein werte- bzw. lifestylebasiertes
Lebensweltenmodell entwickelt. Dafür wurden – neben Werthaltungen – die verschiedensten Facetten des täglichen Lebens (z. B. Freizeit, Familie, Schule, Freundeskreise, Mediennutzung, Berufsorientierung) in den Blick genommen, um ein möglichst umfassendes Bild
jugendlicher Orientierungen und Lebensweisen zu erhalten. Das SINUS-Modell der jugendlichen Lebenswelten bezieht sich damit nicht auf Teilaspekte der Alltagswirklichkeit, sondern rückt die Jugendlichen und das gesamte Bezugssystem ihrer Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld.
Zentral für das Verständnis des Modells ist dessen Fundierung durch qualitative Forschung: Im Gegensatz zu einem induktiv-empiristischen Vorgehen, nach dem Lebensstiltypen mittels statistischer Ordnungsverfahren wie Cluster- und Korrespondenzanalysen generiert und nicht a priori
bestimmt werden, erfolgte die Entwicklung des Lebensweltenmodells von SINUS auf Basis qualitativer Befunde. Dabei wird unterschieden zwischen sieben Gruppierungen mit gemeinsamen Sinn-
und Kommunikationszusammenhängen in ihrer Alltagswelt, mit vergleichbaren handlungsleitenden Konzepten des im Leben Wertvollen und Wichtigen sowie ähnlichen Vorstellungen von Lebensqualität und Lebensweise. Diese Lebenswelten werden in einem zweidimensionalen Achsensystem verortet. Die
vertikale Achse bildet den Bildungsgrad ab und die horizontale Achse die normative Grundorientierung. Je höher eine Lebenswelt in dieser Graphik angesiedelt ist, desto gehobener ist die Bildung; je weiter rechts sie sich erstreckt, desto moderner im soziokulturellen Sinn sind die
Werthaltungen (ausführliche Erläuterung bei Calmbach et al. 2020). Dabei wird berücksichtigt, dass die Grenzen zwischen den Lebenswelten fließend sind. Es liegt in der Natur der sozialen Wirklichkeit, dass Lebenswelten nicht so
(vermeintlich) exakt eingrenzbar sind wie soziale Schichten. Im SINUS-Modell wird dies als „Unschärferelation der Alltagswirklichkeit“ bezeichnet und als grundlegender Bestandteil des Milieukonzepts betrachtet. Zwischen den verschiedenen Lebenswelten gibt es Berührungspunkte und
Übergänge. Erst dadurch wird es möglich, von einem lebensechten Modell zu sprechen.
Durch die Aufnahme des SINUS-Lebensweltenindikators in das Fragebogendesign der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 lassen sich die qualitativ identifizierten Lebenswelten quantitativ auf die Jugendpopulation abbilden. Der Indikator für jugendliche Lebenswelten beinhaltet
Statements, die die typischen Werthaltungen der einzelnen Lebensstile repräsentieren und damit auch die Grenzen zwischen den Gruppen rekonstruierbar machen. Dabei haben sich Aussagen am besten bewährt, die Grundüberzeugungen der Befragten erfassen oder alltäglich wirksame Motive
diagnostizieren. Kriterium für die Auswahl solcher Statements ist ihre Differenzierungskraft, d. h. ihre Eignung, die verschiedenen Gruppen optimal voneinander zu trennen. Auf dieser Basis werden die Befragten anhand eines Wahrscheinlichkeitsmodells mit Hilfe einer speziell
adaptierten Form der Clusteranalyse den Lebenswelten zugeordnet. Dies geschieht, indem für jede Gruppe eine spezifische Verteilung von Antwortwahrscheinlichkeiten über alle Indikator-Items bestimmt wird (Normprofile). Die Lebensstilklassifikation erfolgt dann nach Ähnlichkeit der
individuellen Antwortmuster mit dem Wahrscheinlichkeitsmodell, entsprechend der Logik des Profilvergleichs.
Nachfolgend werden die sieben jugendlichen Lebenswelten kurz vorgestellt. Abb. 1 zeigt die Verteilungen für die 14- bis 17-Jährigen in Deutschland.
Abb. 1: SINUS-Modell für jugendliche Lebenswelten in Deutschland 2020.
Fig. 1: SINUS model for youth lifeworlds in Germany 2020.
(aus BMU, BfN 2021, verändert)(from BMU, BfN 2021, modified)
Traditionell-Bürgerliche
Das Werteprofil dieser Jugendlichen ist vom Bedürfnis nach Beständigkeit, Ordnung und Balance geprägt. Kennzeichnend ist ein modern-bürgerlicher Lebensstil, charakterisiert durch das Streben nach sozialer Nähe und Wärme sowie nach Ausgleich von Arbeit und Freizeit, persönlichen
Interessen und familiären Pflichten. Das Freizeitverhalten der Traditionell-Bürgerlichen ist v. a. gemeinschaftsorientiert. Hoch im Kurs stehen unmittelbare Naturerfahrungen (z. B. Zelten mit Lagerfeuer), wobei insbesondere gemeinschaftsstiftende Momente positiv erwähnt
werden (sei es mit der Familie oder mit Freunden). Die Natur ist für diese Jugendlichen ein Symbol für Heimat, Ruhe und Harmonie und für christlich Gläubige außerdem ein Teil der göttlichen Schöpfung. Ein ökologisches Bewusstsein kann in dieser Lebenswelt v. a. dort entstehen, wo
es sich als Teil der Übernahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung präsentiert.
Adaptiv-Pragmatische
Adaptiv-Pragmatische kombinieren die bürgerlichen Grundwerte und Tugenden wie Harmonie, Familie, Vertrauen, Pünktlichkeit, Fleiß und Leistungsbereitschaft mit (post)modernen und hedonistischen Werten wie Selbstverwirklichung und Flexibilität sowie dem Wunsch nach Spaß und einem
intensiven Leben. Anpassungs- und Kompromissbereitschaft sowie Realismus bezeichnen Jugendliche dieser Lebenswelt als ihre Stärken. Ideologien stehen sie eher skeptisch gegenüber. Sie orientieren sich nicht an Utopien, sondern am Machbaren. Neuem treten sie grundsätzlich offen gegenüber;
sie adaptieren aufkommende Trends – auch wenn sie keine wirklichen Trendsetterinnen und Trendsetter (wie die Expeditiven) sind. Natur erscheint ihnen nicht als Symbol von Ordnung, Harmonie und Heimatlichkeit, ökologische Fundamentalkritik ist ihnen ebenso fremd. Aber eine
Orientierung an ökologischen Leitwerten des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ist deutlich vorhanden.
Prekäre Jugendliche
Das französische Wort „précaire“ bedeutet übersetzt „heikel“, „unsicher“ und „widerruflich“ – zentrale Begriffe, mit denen das Lebensgefühl und die Lebenssituation dieser Jugendlichen beschrieben werden können. Ihre Biographie weist schon früh erste Brüche auf
(z. B. unvollständige, problematische Familienverhältnisse). Ihr Alltag ist vom Kampf um Normalität und Mithalten geprägt. Prekäre Jugendliche haben den starken Wunsch dazuzugehören, nehmen jedoch wahr, dass das im Alltag nur selten gelingt. Dabei sehen sie Gerechtigkeit und
Fairness in der Gesellschaft kaum verwirklicht. Ihre Freizeitgestaltung bewegt sich bisweilen am Rande der Legalität oder schon darüber hinaus. Naturräume spielen für diese Jugendlichen insbesondere deshalb eine Rolle, weil sie gesellschaftlich weniger kontrolliert sind, auch weniger
kommerziell überprägt. Dennoch ist die Wertschätzung für Natur und Umwelt in dieser Lebenswelt sehr schwach ausgeprägt und fällt häufig den restriktiven sozialen und kulturellen Lebensbedingungen zum Opfer.
Konsum-Materialisten
Bei Konsum-Materialisten legen Mädchen wie Jungen großen Wert auf Status und Prestige. Kurzfristige Konsumziele haben einen hohen Stellenwert – aktuelle Kleidung und Schuhe sowie Modeschmuck sind diesen Jugendlichen äußerst wichtig. Zu Bildung im Sinne von schulischem Lernen
haben sie eine geringe Affinität. Grundsätzlich handeln Konsum-Materialisten v. a. gegenwarts- und ichbezogen. Sie wissen, dass man sich mit der Zukunft beschäftigen müsste, schieben die Auseinandersetzung damit aber oft auf die lange Bank. Während die Familie Geborgenheit und
Sicherheit gibt, steht der Freundeskreis für Fun und Action. Ähnlich wie bei den Prekären Jugendlichen spielen ökologische Werte in dieser Lebenswelt eine untergeordnete Rolle, aber es ist nicht so sehr ein „Zuwenig“ an materiellen Ressourcen als vielmehr ein „Zuviel“ an
konsum-materialistischen Wertvorstellungen, das ihre Wertschätzung verhindert.
Experimentalisten
Experimentalisten wollen das Leben in vollen Zügen genießen und den Ernst des Lebens möglichst lange hinauszögern. Man lebt v. a. im Hier und Jetzt und mag es gar nicht, wenn das Leben nur aus Vorschriften besteht. Der Wunsch nach ungehinderter Selbstentfaltung ist groß. Sich
Selbstdisziplin und Selbstkontrolle abzufordern, liegt Experimentalisten oft fern. Zu klassisch bürgerlichen Werten wie Bodenständigkeit, Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein und Ordnung haben die Experimentalisten im Vergleich der jugendlichen Lebenswelten die geringste Affinität. Das
Spießbürgerliche, Normale, Konventionelle langweilt sie. Man möchte sich abgrenzen, auffallen, aus der Masse hervorstechen und sich immer wieder verändern. Das prägt auch ihr Naturbild und ihre ökologischen Präferenzen. Natur kommt bei ihnen weniger als intakter Naturhaushalt in den
Blick, sondern eher als Reservoir an „krassen“ Lebensformen und Lösungsideen, die das eigene Lebensempfinden unterstützen.
Postmaterielle
Postmaterielle formulieren bereits recht deutlich den für sie relevanten, stark humanistisch geprägten Wertekatalog. Demokratie, Freiheit, Pazifismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Sorgsamkeit gegenüber Mensch, Tier und Umwelt sind Maximen, nach denen sie ihr Leben
ausrichten wollen. Einige haben dabei auch ein vergleichsweise starkes Sendungsbewusstsein – andere von ihren Ansichten zu überzeugen, ist ihnen wichtig. Postmaterielle sind sehr bildungsaffine Jugendliche. Ihnen ist es wichtig und es macht ihnen Spaß, ihr Wissen, den eigenen
Horizont und die persönlichen Fertigkeiten zu erweitern. In ihrer Freizeit suchen sie vielfältige intellektuelle, künstlerische oder kreative Erfahrungen. Dabei beschäftigen sie sich gern mit gesellschaftlichen und politischen Themen. Sie sind hauptsächlich an Natur-, Umwelt- und
Nachhaltigkeitsthemen sowie (besonders die Mädchen) an Gender- und Sexualitätsthemen interessiert. Im Freundeskreis diskutiert man über diese Themen gern und viel. Die Postmateriellen sind daher auch eine primäre Trägergruppe des jugendlichen Naturengagements.
Expeditive
Typisch für Expeditive ist ein buntes Wertepatchwork. Sie legen großen Wert auf eine Balance zwischen Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung und Kreativität einerseits sowie Leistungsidealen wie Streben nach Karriere und Erfolg andererseits. Von allen Jugendlichen sind sie die
flexibelsten, mobilsten und innovativsten. Den eigenen Erfahrungshorizont ständig zu erweitern, ist für sie eine wichtige Lebensmaxime. Expeditive weisen eine geringe Kontroll- und Autoritätsorientierung auf. Groß sind auch die Abgrenzungsbemühungen zum Mainstream. Expeditive sind dabei
aber weniger „verbissen“ und rigoros als die Experimentalisten. Ihre Distinktionsbestrebungen gestalten sich weniger als rebellisches Kämpfen, sondern ergeben sich quasi selbstverständlich aus der doch „offensichtlichen“ intellektuellen und stilistischen Überlegenheit (insbesondere
gegenüber Gleichaltrigen). Ihre antiideologische Grundausrichtung macht sie für ein geschlossenes ökologisches Weltbild wenig empfänglich, aber ihre hohe Bildungsaffinität öffnet sie für Anliegen des Natur- und Umweltschutzes.
4 Das Naturbewusstsein der jugendlichen Lebenswelten
Die SINUS-Jugendforschung zeigt, dass Nachhaltigkeit ein Wert ist, der von der jungen Generation in unterschiedlichem Maße als wichtig hervorgehoben wird (Calmbach et al. 2020). Eine genauere Auseinandersetzung damit findet jedoch
v. a. in der modernen gesellschaftlichen Mitte der Jugendpopulation (Adaptiv-Pragmatische) und in der bildungsnahen Lebenswelt der Postmateriellen statt. Dort besteht nicht nur das Bewusstsein für die Naturgefährdung, sondern man nimmt sich auch selbst stärker in die Pflicht,
etwas dagegen zu tun.
Im nächsten Abschnitt wird zunächst aufgezeigt, wie sich die befragten Jugendlichen in der SINUS-Jugendstudie 2020 zu dem Themenkomplex Klimawandel, Natur- und Umweltprobleme äußerten. Daran anschließend werden ausgewählte Ergebnisse der
Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 dargestellt. Eine Zusammenfassung von weiteren Ergebnissen der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 findet sich in Kasten 1.
Klimawandel, Natur und Umweltschutz als aktuelles Schlüsselthema
Die Reaktionen der Jugendlichen auf die in der qualitativen Studie offen formulierte Frage (ohne Antwortvorgaben), welche politischen Themen für sie besonders wichtig sind, machen deutlich, dass der Themenkomplex Klimawandel, Natur- und Umweltprobleme die junge Generation in hohem
Maße beunruhigt. Zum Erhebungszeitpunkt (Frühjahr 2019) wird er von nahezu allen Befragten hervorgehoben (für einige typische Zitate siehe Kasten 2). Dabei wird die zunehmende Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde von vielen Jugendlichen als essenziell für die eigene und
die Zukunft ihrer Kinder empfunden. Verbreitet ist auch die Ansicht, dass die Klimakrise von den Verantwortlichen (Politik/Regierung, aber auch Wirtschaft) nicht ernst genommen wird und mögliche Problemlösungen nicht angegangen werden. Wirksame politische Maßnahmen, etwa gegen den
Klimawandel, werden – so die Überzeugung der meisten Befragten – von egoistischen wirtschaftlichen Interessen und kurzsichtiger Klientelpolitik ausgebremst. Vereinzelt wird die Benachteiligung des globalen Südens durch den Klimawandel thematisiert – wenn auch nur von
wenigen der befragten Jugendlichen. Vor allem Jugendliche aus der postmateriellen Lebenswelt verweisen auf globale Schieflagen. Gefordert wird, verbindliche Klimaziele zu formulieren und diese auch durchzusetzen. Insgesamt, so die nahezu einhellige Meinung, sollte den Themen Klima, Natur
und Umwelt höhere politische Priorität zugeschrieben werden.
Kasten 2: Typische Zitate von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren (aus Calmbach et al. 2020).
Box 2: Typical quotes from young people aged 14 to 17 years (from Calmbach et al. 2020).
„Das mit dem Klimawandel. Das schon. Das ist eigentlich, da bin ich echt dafür, weil ich will, dass meine Kinder irgendwas noch von der Welt sehen. Oder dass halt andere Kinder, die halt jetzt gerade erst frisch geboren sind, zum Beispiel meine kleine Nichte oder so, dass die
halt etwas sehen und nicht, dass irgendwann mal alles vollge … Also dass es gar keine Natur mehr gibt.“ (Männlich, 16 Jahre, Migrationshintergrund, Konsum-Materialisten)
„Klimawandel ist ein Thema, was ich sehr mit der Politik verbinde, weil es ist auch ein großes Thema geworden. Und ich finde, das sollte es auch sein, sollte ein noch größeres Thema sein.“ (Männlich, 15 Jahre, Expeditive)
„Also jetzt vor allem auch gerade im Moment gehe ich oft auf diese Fridays-for-Future-Demos, weil das finde ich halt auch voll interessant und cool, und einfach eine … Also es funktioniert voll gut, finde ich. Das ist halt wirklich so, da habe ich so das Gefühl, das könnt
wirklich was bringen. Und auch in dem Bereich will ich mich auch engagieren, also so Klimaschutz und so.“ (Weiblich, 15 Jahre, Postmaterielle)
„Ähm. Finde ich, muss man zweigeteilt sehen. Es gibt ja immer Gewinner der Globalisierung, wo ich behaupten würde, dass Deutschland dazugehört. Es gibt natürlich auch Länder, die dadurch jetzt Schaden nehmen. Zum Beispiel irgendwelche Länder, wo Textilfabriken gebaut werden und
die Kleidung für die Welt produzieren, die sind natürlich irgendwo – denke ich mal – Verlierer der Globalisierung.“ (Männlich, 17 Jahre, Postmaterielle)
„Ausreichend ist es noch lange nicht, weil Frieden haben wir vielleicht zwischen den Ländern, aber mit unserem Planeten dann halt nicht.“ (Männlich, 14 Jahre, Traditionell-Bürgerliche)
„Naturschutz wird auch vernachlässigt. Und Klimawandel wird auch nicht gerade so beachtet. Es wird auch sehr viel auf Geld geachtet. Also achten nur aufs Geld und nicht auf die Risiken oder darauf, was passieren kann durch ihr Handeln.“ (Männlich, 15 Jahre, Adaptiv-Pragmatische)
„Ja, wahrscheinlich auch wieder zum Thema Klimawandel. Dass die Leute halt auch mal die Augen aufmachen, weil, ich glaube halt, es gibt so viele kleine Sachen, auf die halt jeder achten könnte, die im Großen ganz viel ausmachen würden.“ (Weiblich, 17 Jahre, Expeditive)
„Ich weiß nicht, an wen man sich da wenden könnte, dass man überhaupt seine Meinung sagen kann. Und wenn, weiß ich auch nicht, ob die das überhaupt ernst nehmen würden.“ (Männlich, 16 Jahre, Migrationshintergrund, Konsum-Materialisten)
„Ja, aber dafür muss man halt auch Geld haben oder groß rauskommen halt, dass man was machen kann. Aber wenn man so ein kleiner Fuzzi ist, dann kann man nichts machen, also wirklich.“ (Männlich, 15 Jahre, Konsum-Materialisten)
Auch die Antworten auf die hypothetische Frage, wofür sich die Jugendlichen, wenn sie es denn täten, politisch engagieren würden, zeigt, dass der Natur- und Umweltschutz als besonders dringlich eingestuft wird: Quer durch die Lebenswelten würden sich die meisten Jugendlichen noch
vor allem anderen (z. B. Kampf gegen Armut, Hungersnöte, Ausbeutung, Krieg, Ausländerfeindlichkeit etc.) für den Klimaschutz sowie die Bewahrung der natürlichen Umwelt einsetzen. Allerdings machen die Befragungen auch deutlich, dass viele Teenager – v. a. aus den
bildungsbenachteiligten Lebenswelten – ein Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit umtreibt. Einige sind überzeugt, als Minderjährige nichts ausrichten zu können, im Zweifel nicht einmal gehört zu werden.
Um die Unterschiede im Naturbewusstsein der Jugendlichen differenzierter herauszuarbeiten, werden nachfolgend einige ausgewählte Ergebnisse der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 präsentiert.
Postmaterielle und Adaptiv-Pragmatische sind besonders sensibilisiert für die Naturgefährdung und den Schutz der Natur
Das größte Bewusstsein für die Naturgefährdung und den Schutz der Natur ist in den Lebenswelten der bildungsnahen Postmateriellen und der anpassungsorientierten Adaptiv-Pragmatischen vorhanden. Beispielsweise geben 84 % der Postmateriellen und 67 % der
Adaptiv-Pragmatischen uneingeschränkt an, sich darüber zu ärgern, dass viele Menschen so sorglos mit der Natur umgehen (höchste Zustimmungsstufe: Durchschnitt 56 %). Während bei den Postmateriellen ein hohes Bewusstsein für sozialökologische Themen milieukonstituierend und somit
wenig überraschend ist, mag der vergleichsweise hohe Wert unter den Adaptiv-Pragmatischen auf den ersten Blick überraschen. Aber zum einen muss daran erinnert werden, dass diese Gruppe besonders sensibel auf Trends im gesellschaftlichen Mainstream reagiert. Zum anderen liegt die
Vermutung nahe, dass sich in der Bedeutungszuschreibung an eine intakte Natur auch der milieutypische Ankerwert der Harmonie widerspiegelt. Die Natur gilt als etwas Romantisches und Heiles, das es zu bewahren gilt. Sie ist zudem ein sozialer Ort, der meist in Gemeinschaft in der Familie
und mit engen Freunden besucht, durchwandert, durchradelt wird. Insofern sucht man heile, schöne Natur.
Auch die heimatverbundenen und nach Beständigkeit strebenden Traditionell-Bürgerlichen sind überdurchschnittlich sensibilisiert (65 %). Im Vergleich dazu ist das Bewusstsein bei den prekären Jugendlichen und v. a. unter Konsum-Materialisten weniger groß. In diesen
Lebenswelten sind es 44 % bzw. 27 %, die sich über den sorglosen Umgang mit der Natur empören (Abb. 2). Diese Abstufung der beiden am wenigsten für den Naturschutz affinen Lebenswelten macht deutlich, dass es nicht die
soziale Lage der Jugendlichen allein ist, sondern diese nur im Zusammenhang mit einer spezifischen Wertekonstellation prägend auf Naturschutzeinstellungen wirkt.
Abb. 2: Verärgerung über den sorglosen Umgang mit der Natur.
Fig. 2: Anger about careless treatment of nature.
(aus BMU, BfN 2021, verändert)(from BMU, BfN 2021, modified)
Auch bei der Betrachtung der Bereitschaften zum persönlichen Engagement für den Naturschutz lassen sich deutliche lebensweltspezifische Unterschiede erkennen: Insgesamt bekunden die nachhaltigkeitsorientierten Postmateriellen und die zielorientierten Adaptiv-Pragmatischen die größte
Bereitschaft, sich persönlich für den Naturschutz einzusetzen. Hingegen kommt am wenigsten Bereitschaft aus der Lebenswelt der stark gegenwarts- und ichbezogenen Konsum-Materialisten. Beispielsweise zeigen sich 50 % der Postmateriellen und 37 % der Adaptiv-Pragmatischen
„sehr bereit“, ihren Fleischkonsum einzuschränken bzw. auf Fleisch zu verzichten. In der Lebenswelt der Konsum-Materialisten sind es nur 9 % (Durchschnitt 30 %).
In den bildungsbenachteiligten Lebenswelten ist die Wahrnehmung eigener Einflussmöglichkeiten am geringsten ausgeprägt
In den Lebenswelten der Postmateriellen und Adaptiv-Pragmatischen gibt es am häufigsten das Bewusstsein eines persönlichen Impacts. So sind jeweils zwei Drittel der Postmateriellen und der Adaptiv-Pragmatischen „voll und ganz“ oder zumindest „eher“ davon überzeugt, selbst etwas für
den Schutz der Natur auf der Erde erreichen zu können (Durchschnitt 53 %). Weiterhin geben 72 % der Postmateriellen und 65 % der Adaptiv-Pragmatischen an, durch das eigene Engagement auch andere motivieren zu können (Durchschnitt 52 %). Im Gegensatz dazu fällt
die Einschätzung der eigenen Wirksamkeit bei den prekären Jugendlichen und den Konsum-Materialisten deutlich zurückhaltender aus. Beispielsweise glauben nur 32 % der Prekären und 27 % der Konsum-Materialisten, durch das eigene Zutun auch andere motivieren zu
können.
5 Fazit
Die hier präsentierten Befunde der SINUS-Jugendstudie 2020 und der Jugend-Naturbewusstseinsstudie 2020 belegen, dass die eingangs erwähnte kulturkritische Diagnose, wonach „die Jugend“ der Natur immer mehr entfremdet gegenübersteht und sich für deren Erhaltung nicht
sonderlich interessiert, nicht aufrechterhalten werden kann. Naturentfremdung, Desinteresse und mangelndes Engagement gibt es bei Jugendlichen natürlich, und die Ergebnisse etwa zu abnehmender Artenkenntnis müssen ernst genommen werden. Aber weder lassen sie sich für „die Jugend“
verallgemeinern, noch ist ein eindeutiger Trend der Verschlechterung des Naturbewusstseins bei Jugendlichen zu beobachten. In den letzten Jahren ist eher das Gegenteil zu erkennen. Dafür waren der Aufschwung der „Fridays for Future“-Bewegung im Jahr 2019 und das mediale Interesse
daran ein wichtiger Indikator. Die „Fridays for Future“-Bewegung hat sich als schnell mobilisierungsfähiges Generationenprojekt gezeigt, das um das Thema Klimawandel herum auch viele andere Fragen der Nachhaltigkeit und des Umgangs mit Natur insgesamt virulent gemacht hat (Rucht, Sommer 2019). Von einigen Beobachtern als „Kinderkreuzzug“ (Aust 2019) verspottet, hat die Bewegung gezeigt, dass „die Jugend“ sehr wohl politisch denkt und dass in ihrem politischen Denken ökologische
Ängste, aber auch eindeutige Erwartungen an ein Umsteuern der Gesellschaft insgesamt einen wichtigen Platz einnehmen.
Entscheidend ist aus unserer Sicht, mit der Rede von „der Jugend“ aufzuhören (u. a. auch BMU 2018). Angesichts der Ausdifferenzierung der jugendlichen Lebenswelten, die sich auch in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Natur
gegenüber niederschlägt, verschleiert die Rede von „der Jugend“ nämlich mehr, als sie enthüllt. Naturferne und Desinteresse sind Phänomene, die wir beobachten können. Aber sie tauchen eben in bestimmten Lebenswelten gehäuft auf, während sie in anderen eher unbekannt sind. Für die
Naturgefährdung und den Schutz der Natur sensibilisiert sind v. a. die konsumkritisch und humanistisch orientierten bildungsnahen Jugendlichen (postmaterielle Lebenswelt) sowie die angepassten und leistungsorientierten Jugendlichen der modernen Mitte (Lebenswelt der
Adaptiv-Pragmatischen). Häufig sind auch die heimatverbundenen und nach Beständigkeit strebenden Traditionell-Bürgerlichen überzeugte Vertreterinnen und Vertreter des Naturschutzes. Dem stehen Jugendliche gegenüber, die ein deutlich geringeres Interesse für die Kernanliegen des
Naturschutzes aufweisen. Am wenigsten naturschutzaffin sind die jugendlichen Lebenswelten der Konsum-Materialisten und Prekären. Dabei, und das ist ein wichtiges Detail, ist es weniger der Tatbestand einer statusniedrigen sozialen Lage als vielmehr der Komplex einer
konsum-materialistischen Wertewelt, der Jugendliche der Natur stärker entfremdet.
An diesen Differenzierungen gilt es für den Naturschutz anzusetzen, wenn er durch veränderte Angebote, Rahmungen und Formen der Ansprache die jüngere Generation noch stärker erreichen will. Dabei richtet sich der Blick v. a. auf die bisher eher nicht erreichten Jugendlichen
aus sozial benachteiligten und stark hedonistisch geprägten Lebenswelten, denn diese hat der klassische Naturschutz lange vernachlässigt (Frohn et al. 2020).
Darüber hinaus sollten auch die weniger naturschutzorientierten, aber besser gebildeten und kreativen Lebenswelten der Experimentalisten und Expeditiven stärker in den Blick genommen werden: Da die aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Krisen durch die etablierten Lebens-
und Wirtschaftsweisen der Erwachsenen verursacht sind, kann das kreative Potenzial und „Out-of-the-box-Denken“ dieser Jugendlichen eine wichtige Rolle beim Überwinden struktureller Probleme bieten. Umso wichtiger wäre es, wenn es Naturschutzakteuren (z. B. Naturschutzverbänden)
künftig besser gelänge, auch die vergleichsweise unangepassten Lebenswelten der Experimentalisten und Expeditiven für ein Engagement im Naturschutz zu interessieren. Da sich diese Gruppen ungern festlegen und langfristig verpflichten lassen, sind kurzfristige, projektbezogene
Engagementformen vielversprechend – v. a. wenn sie konzeptionell und kommunikativ unkonventionell sind. In beiden Lebenswelten möchte man sich lieber gegen statt für etwas positionieren. Zudem ist zu beachten, dass sich diese Jugendlichen zwar für komplexe
Sachverhalte interessieren und auch inhaltlich gefordert werden möchten, gleichzeitig aber das Aufmerksamkeitspotenzial begrenzt und die Ablenkungsgefahr groß ist. Es gibt einfach zu viele spannende Themen, mit denen man sich näher auseinandersetzen möchte. Daher sollten Informationen
prägnant und kreativ aufbereitet werden („Hingucker“).
6 Literatur
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Fußnoten