Thomas Potthast, Lieske Voget-Kleschin, Margret Engelhard, Simon P. Meisch, Konrad Ott und Gisela Stolpe
Zusammenfassung
Im Gegensatz zum Naturbegriff wurde der Technikbegriff im Naturschutz meist wenig systematisch und wenig differenziert berücksichtigt. Der erste Teil der Vilmer Thesen thematisiert begriffliche und philosophische Grundlagen von „Natur“ und „Technik“, „Natürlichkeit“ und
„Künstlichkeit“ mit Bezug auf den Naturschutz. Anschließend werden die drei Praxisfelder „Gentechnik im Naturschutz“, „naturnahe Produktionssysteme“ und „Renaturierung“ hinsichtlich konzeptioneller Aspekte und Bewertungsfragen kritisch in den Blick genommen. Angesichts zahlreicher und
heterogener Technikangebote besteht die Notwendigkeit einer vorläufigen und ggf. revidierbaren Bewertung und Entscheidung über die Wünschbarkeit konkreter technischer Zugänge im Naturschutz. Nicht um den – falschen – Gegensatz Mensch/Technik vs. Natur sollte es bei Bewertungen und
Entscheidungen gehen, sondern um unterschiedliche – und unterschiedlich gelingende – Mensch-Technik-Natur-Interaktionen.
Naturbegriff – Technik – Natürlichkeit – Künstlichkeit – Gentechnik – naturnahe Produktionssysteme – Renaturierung – Grundfragen des NaturschutzesAbstract
In contrast to the concept of nature, the concept of technology has gained little systematic attention and little differentiated consideration in nature conservation. The first part of the Vilm Theses discusses the conceptual and philosophical foundations of both terms as well as
of“naturalness” and “artificiality” with reference to nature conservation. Subsequently, the three practical fields, i) genetic engineering in nature conservation, ii) near-natural production systems and iii) ecological restoration are critically examined against the background
of the above-mentioned conceptual and assessment issues. In view of the numerous and heterogeneous technologies on offer, there is a need for a preliminary and, when appropriate, revisable assessment and decision regarding the desirability of specific technical approaches in nature
conservation. Rather than framing this as a – false – dichotomy of man/technology vs. nature, assessment and decision-making should distinguish between different – and to differing degrees sustainable – human-technology-nature interactions.
Concept of nature – Technology – Naturalness – Artificiality – Genetic engineering – Near-natural production systems – Ecological restoration – Fundamental issues of nature conservationInhalt
Einleitung
Die Kategorie des Natürlichen ist für den Naturschutz ebenso grundlegend wie strittig. Wer Natur schützen will, muss sagen können, was dazugehört und welche Eigenschaften den Schutz begründen. Ist es vor allem die Natürlichkeit? Hier – wie auch bei den Gegenbegriffen des
Unnatürlichen und des Künstlichen – liegen Beschreibung und Bewertung engstens beieinander (vgl. Potthast, Ott 2017). Wo und inwiefern ist es angemessen, mittels technischer, also künstlicher, Verfahren Natur schützen oder
wiederherstellen zu wollen? Solche Fragen betreffen Grundlagen der Selbstverortung des Naturschutzes in einer technisch geprägten Welt. Zugleich wird aktuell konkret diskutiert,
● ob sich der Grad der Künstlichkeit neuer Gentechniken (CRISPR-Cas9, Gene Drives) von demjenigen bisheriger gentechnischer Verfahren unterscheidet, ob dies an Bewertungsfragen etwas ändern würde und inwiefern diese Techniken insgesamt für den Arten- und Naturschutz „passen“
(siehe Teil II), ● wie als künstlich eingeschätzte neue Produktionssysteme (z. B. in der Aquakultur) mit Bezug auf ihre Naturschutzdimension zu bewerten sind, bei denen eine Kombination von verstärkter Technisierung und dem Versuch, geschlossene Stoffkreisläufe nach „natürlichem
Vorbild“ herzustellen, angestrebt wird (siehe Teil III), ● inwiefern – gerade im Kontext von Klimaschutz und der Wahrnehmung eines „Anthropozäns“ – Ziele der Renaturierung mit Hilfe zunehmend technisierter Interventionen in Ökosysteme sinnvoll erreichbar sind und welche Konflikte mit Naturschutzprioritäten sich daraus ggf.
ergeben (siehe Teil IV).
Der erste Teil der Thesen thematisiert begriffliche und philosophische Grundlagen von „Natürlichkeit“, „Künstlichkeit“ und „Technik“ mit Bezug auf den Naturschutz (siehe Teil I). Anschließend werden die drei genannten Praxisfelder
in den Blick genommen (siehe Teil II – IV).
I. Natürlichkeit und Künstlichkeit – konzeptionelle Grundlagen für den Naturschutz
1. Der Naturbegriff umfasst drei grundlegende Dimensionen, die den Naturschutz prägen. Die dabei vielleicht wichtigste Bestimmung von Natur als Gegensatz zum von Menschen Gestalteten sollte nicht binär, sondern graduell verstanden werden.
Der Naturbegriff hat viele Facetten und jeder Versuch „Natur“ ein-eindeutig und trennscharf definieren zu wollen, geht an der Sache vorbei. Es gibt zwar die Objektdimension, in der gefragt wird, was Natur „ist“ und welche Eigenschaften sie hat. Doch sind hier weder eine
Formaldefinition wie für „Kreis“ in der Geometrie noch eine empirische Realdefinition wie für „Wassereinzugsgebiet“ eines Ökosystems möglich. Denn Natur ist als sog. komplexer Reflexionsbegriff Grundlage unserer Orientierung in der Welt insgesamt: Wir fragen, in und mit welchen
Kategorien wir überhaupt denken (Metaprädikation). Keinesfalls bedeutet dies, dass beliebige Naturbegriffe möglich wären. Im Kontext westlich geprägter Kulturen lassen sich drei grundsätzliche Bedeutungsdimensionen unterscheiden (vgl. Birnbacher
2006): Natur als Gegensatz zum von Menschen Gestalteten (A), als Gegensatz zum Übernatürlichen (Metaphysischen) (B) und als Wesenskern von etwas (Gegensatz: un- bzw. widernatürlich; mit wertender Konnotation) (C).
Alle drei Dimensionen von Natur und Natürlichkeit finden sich notwendig auch im Naturschutzdiskurs. Sie können und sollten auseinandergehalten werden, sowohl der Klarheit wegen als auch um unnötige Scheindebatten zu vermeiden. Für den Naturschutz prägend ist sicherlich die Dimension
(A); hier liegt der Fokus eindeutig auf dem Herstellungsprozess, der ein Produkt als natürlich bzw. unnatürlich entstanden ausweist. Zugleich bestehen unterschiedliche Gegenbegriffe, die jeweils leicht andere Akzente setzen: Auf Aristoteles geht die Unterscheidung von Natur und Artefakt
zurück, das die Ursache seiner Entstehung bzw. Existenz dem Menschen verdankt. Als „naturidentisch“ gilt ein menschliches Artefakt (sic!), das wie gewordene Natur aussieht, aber genau das nicht ist. Es besteht – zumindest weitgehend – Identität auf der Ebene des Produkts
bei maximal möglicher Differenz im Entstehungsprozess zwischen natürlichem Gewordensein und technischer Herstellung. Als weitere Gegenbegriffe zu „Natur“ werden „Künstliches“, „Kultur“, „Technik“ (als System der Weltgestaltung) oder „Mensch“ verwendet. Letzteres ist problematisch, weil
Menschen eben auch Naturwesen sind. Ursächlich für viele Missverständnisse und Polemiken ist, wenn der Gegensatz „Natur – Artefakt“ binär, also als „entweder – oder“, verstanden wird: Dann wäre die Natur (in) der Kulturlandschaft keine Natur mehr oder jeder winzige
anthropogene Einfluss machte Natur gar zu etwas vollständig Künstlichem. Wichtig ist also, Natürlichkeit als Gradienten zwischen zwei Polen zu verstehen, wie dies in Ökologie und Naturschutzpraxis u. a. mittels Hemerobiekonzepten seit Langem geschieht (vgl. Kowarik 2006).
2. Naturschutz versteht sich seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert als Gegenbewegung zu einer Natur zerstörenden Technisierung der Welt. Entsprechende negative Wertungen des„Künstlichen“ sind aber zu differenzieren und deren Begründung ist zu prüfen.
Der Naturschutz in Deutschland (wie auch anderen Ländern) entstand im 19. Jahrhundert nicht zuletzt aus Motiven, die sich gegen die technisch-industrielle Zivilisation richteten. „Natur“ stand als Chiffre für eine bedrohte Ursprünglichkeit. Hier zeigt sich eine problematische
Ineinssetzung der zuvor genannten unterschiedlichen Dimensionen: Vermeintlich als „natürlich“ gegeben und geboten galten die feudale politische Ordnung oder der ohne moderne technische Hilfsmittel arbeitende Bauer. Und keineswegs war nur eine unbeeinflusste Natur Gegenstand des
Landschafts- und Naturdenkmalschutzes (vgl. Schmoll 2004). Naturschutz bezog sich von Anfang an auch und gerade auf die biologische und landschaftliche Vielfalt als „künstliches“ Resultat bestimmter (Agri-)Kulturleistungen, die wiederum auf der
Verwendung von Techniken beruhen. Der Fokus liegt jedoch auf den nichttechnischen „natürlichen“ Elementen (Arten, Lebensgemeinschaften) der Kulturlandschaft – dies entspricht dem Kern von „Naturschutz“. Dass das Natürliche generell etwas Gutes bzw. Erstrebenswertes sei, stellt
allerdings einen naturalistischen Fehlschluss dar (vgl. Potthast, Ott 2017). Daher bedarf es stets konkreter Argumente hinsichtlich der Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit, bspw. über Kriterien wie Seltenheit und Gefährdung, kulturelle
Bedeutung, ökologische Funktionen, Eigenwerte, um (Natur-)Schutzgüter begründet auszuweisen.
3. (Auch) Für den Naturschutz sind weder die generische Ablehnung „der Technik“ noch ein reiner Instrumentalismus („der Zweck heiligt die Mittel“) angemessen; vielmehr gilt es, Ziele, Mittel, Folgen und Nebenfolgen von Techniken integriert zu bewerten.
Im Gegensatz zum Naturbegriff (vgl. Eser 2021) ist der Technikbegriff im Naturschutz meist wenig systematisch und differenziert berücksichtigt worden. Technische Dinge und Prozesse gehören nicht zu den Zielen oder Schutzgütern des
Naturschutzes, aber Technik spielt eine Rolle als Mittel, um die Ziele zu erreichen. Weder die generische Ablehnung „der Technik“ noch reiner Instrumentalismus („der ‚richtige‘ Zweck erlaubt/erfordert alle Mittel“) sind dabei angemessen. Im Kulturlandschaftsschutz sind anthropogene, also
technische, Maßnahmen zur Verhinderung der Sukzession seit jeher in Verwendung. Doch sind dafür Tiere in der Beweidung, Menschen mit handbetriebenen Geräten oder automatisierte Maschinen gleich zu bewerten? Analoges gilt für die bei der Renaturierung verwendeten Techniken (siehe Teil IV). Ist nur das Ergebnis wichtig oder gilt eine Priorität den naturnäheren Lösungen – für den Naturschutz ebenso wie für die agrarische, fischereiliche und forstliche Nutzung (siehe Teil III)? Und warum (nicht) synthetische Pestizide oder Gentechniken einsetzen, um Ziele des Naturschutzes zu erreichen? Eine ethische Beurteilung muss Aussagen dazu treffen, ob eine Technik(entwicklung) erlaubt, wünschenswert und realistisch ist hinsichtlich
1) der konkreten Ziele, die mit der Technik erreicht werden sollen, 2) der Eignung, Angemessenheit und Verfügbarkeit der eingesetzten Mittel, 3) der möglichen Folgen und Nebenfolgen, die sich aus dem Einsatz ergeben, und 4) des gesamtgesellschaftlichen
Kontextes, in den eine Technologie eingebettet ist. Dazu gehört u. a. die Frage, ob die technische Lösung nur an Symptomen, nicht aber den Ursachen eines Problems ansetzt (vgl. Potthast 2019).
II. Neue Gentechniken für den Naturschutz?
4. Über die „Natürlichkeit“ der Gentechnik(en) kann anhand der Konzeptionen von„Biofakten“ und „Eingriffstiefe“ differenziert gesprochen werden. Zugleich muss die Frage nach der „Künstlichkeit“ sowohl das Produkt als auch den Prozess einbeziehen.
Die Gradualität des Natürlichen besteht nicht zuletzt mit Bezug auf von Menschen modifizierte Lebewesen. Karafyllis (2006) hat dazu eine Systematik von „Biofakten“ zwischen Natur und Technik vorgeschlagen. Zu differenzieren ist
prozessbezogen nach der Art des technischen Eingreifens und auch danach, zu welchem Zeitpunkt des Werdens des Lebewesens die Handlung stattfindet, weil das Verhältnis zwischen (Eigen-)Wachstum und menschlichen Eingriffen von entscheidender Bedeutung ist. Als ein prozess- und
eigenschaftsbezogenes Kriterium von (gradueller!) Natürlichkeit lässt sich das Konzept der „Eingriffstiefe“ verwenden, demgemäß der gentechnische Eingriff in die Organisation des Wachstums fundamentaler erscheint als Züchtungen auf Basis des Phänotyps. Nach Achatz (2013) weisen „naturidentische Systeme“ sogar die höchste „Eingriffs-“ oder „Einflusstiefe“ auf, weil hier die prozessbezogene Eigendynamik des Natürlichen maximal überprägt und letztlich verdrängt wird. So ist auch für gentechnisch veränderte
Organismen (GVO) „naturidentisch“ gerade nicht gleichbedeutend mit „natürlich“ (siehe These 1), sondern ein maximaler Gegensatz, auch dann, wenn das Technische selbst im GVO nicht mehr sichtbar wäre. Daher beruht die Behauptung einer
größeren Natürlichkeit der neuen Gentechniken oder der Synthetischen Biologie insgesamt im Sinne des „Naturidentischen“ auf einem Fehler. Sie ist als unbegründet zurückzuweisen, weil sie nur das Produkt betrachtet und inhaltlich und begrifflich Wesentliches, nämlich den Prozess der
Entstehung, ausblendet.
5. Gentechniken für Naturschutzzwecke einzusetzen ist mit schwerwiegenden ökologischen Risiken verbunden und wirft kritische Fragen hinsichtlich einer Machbarkeitsideologie und nach Prioritätensetzungen im Naturschutz auf.
Um die Zulässigkeit, Wünsch- und Machbarkeit bestimmter Anwendungen der Gentechnik für den Einsatz im Naturschutz zu bewerten, müssen alle vier in These 3, S. 301, genannten Ebenen adressiert werden. Dies kann hier nicht im
Detail erfolgen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je „machtvoller“ eine Technik in Ökosysteme eingreift, desto mehr wachsen die Risikopotenziale. Dies gilt nicht nur, aber insbesondere für den Einsatz sog. Gene Drives, also sich rasch ausbreitender Transgene, die bspw. unerwünschte
Pathogene geschützter Arten ausrotten sollen (vgl. Wells, Steinbrecher 2021). Persistenz und Ausbreitung der GVO-Konstrukte ist hier Ziel der gentechnischen Veränderung, solche Freisetzungen sind also bereits von der Intention her irreversibel.
Dies widerspricht dem Vorsorgeprinzip, das Maßnahmen vorzieht, deren Folgen (und Nebenfolgen) als reversibel gelten. Zudem setzt Gentechnik nicht an den Ursachen der Bedrohung von Natur und Umwelt an. Insofern kann bei einem symptomorientierten Fokus auf das technische Mittel GVO
(„technological fix“) die Suche nach besser passenden Lösungen auf der Ursachenebene (z. B. die Anwendung angemessener Landnutzungspraktiken) noch weiter aus dem Blick geraten.
6. Gene Drives ebenso wie Ankündigungen einer sog. „Regenesis“ zur Wiederherstellung ausgestorbener Arten werfen die Frage auf, ob Ansätze einer weitgehenden Technisierung von Lebewesen mit der Grundorientierung des Naturschutzes zusammenpassen.
Zusätzlich zu Risiko- und Prioritätenaspekten ist eine Grundsatzfrage, ob die Mittel der Gentechnik und die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Praktiken zur übergreifenden Zielsetzung des Naturschutzes passen. Je nach Bedeutung der Orientierung an natürlichen
Prozessen – auch in der Kulturlandschaft – wird die Antwort vielleicht unterschiedlich strikt ausfallen. In jedem Fall sind das Ob und Wie einer Gen-Technisierung im und für den Naturschutz zu diskutieren. Zu berücksichtigen sind zudem damit möglicherweise verbundene
Verschiebungen der Debatte zu GVO in anderen Praxisfeldern wie in ökologisch orientierten Ansätzen des Landbaus, des Waldbaus und der Fischereiwirtschaft hinsichtlich deren grundsätzlicher Ausrichtungen. Zugespitzt formuliert: Das Mittel der Gentechnik leistet einer Art der Technisierung
des Naturschutzes Vorschub, die weder gut zu dessen Grundidee noch zu seinen bevorzugten Interventionsmitteln passt (vgl. Toepfer 2020): Die symptomfixierte Praxis und der auf technische Lösungen fixierte Kontext der Gentechnik entsprechen
schwerlich den Idealen einer „respektvollen“ Mensch-Natur-Interaktion, die auf das Naturnähere, insbesondere eine möglichst geringe Eingriffstiefe setzt. Eine extreme Technisierungsorientierung zeigt sich sowohl bei den zuvor erwähnten Gene Drives als auch bei der sog. „Regenesis“ in der
Synthetischen Biologie zur Wiederherstellung ausgestorbener Arten: Natur erscheint als nach Belieben aus- bzw. anschaltbar – geradezu ein Symbol für das, was oft als menschliche Hybris (d. h. anmaßende und unangemessene Selbstüberschätzung) im Umgang mit Natur bezeichnet
wird. Solche naturethischen und naturphilosophischen Dimensionen sind hinsichtlich des Einsatzes von GVO im Naturschutz zu berücksichtigen. Eine intensive Debatte dazu findet gerade in der Weltnaturschutzunion IUCN statt (https://www.iucncongress2020.org/motion/075).
III. Naturnahe und/oder künstliche Produktionssysteme?
7. Bestimmte gering technisierte Landnutzungssysteme, die primär der Produktion dien(t)en, erfüllen wichtige Funktionen für die Sicherung von Naturschutzgütern. Für künftige Produktionssysteme ist umfassend verstandene Nachhaltigkeit anzustreben.
Dass Ökosysteme, die ursprünglich der landwirtschaftlichen Produktion dien(t)en, wichtige Naturschutzfunktionen erfüllen und daher für die Erhaltung bestimmter Arten und Lebensgemeinschaften landwirtschaftliche Nutzungen nicht nur möglich, sondern notwendig sind, ist seit Langem
bekannt. Dass alle Produktionssysteme anthropogen und damit (auch) „künstlich“ sind, ist trivial. Die industrielle Intensivierung der Landwirtschaft hat inzwischen zu extrem negativen Effekten auf die Biodiversität, das Landschaftsbild, die Bodenfruchtbarkeit, die Wasserqualität und das
Klima geführt (vgl. Leopoldina et al. 2020). Die Lösung kann nicht in einer rein musealen Aufrechterhaltung historischer Nutzungsformen liegen. Forderungen nach „Naturnähe“ meinen hier, die agrarische Landnutzung so auszulegen, dass
dabei die zuvor genannten Schutzgüter (wieder) gesichert und gefördert werden. Begrifflich erscheint es dann angemessener, von Naturverträglichkeit bzw. Nachhaltigkeit der Landnutzung zu sprechen. Ausdrücklich angemerkt sei: Wenn Flächen statt der aktuell vorherrschenden Praxis im
genannten Sinne nachhaltig bewirtschaftet werden, sind im Schnitt bei gegebener Fläche weniger landwirtschaftliche Produkte zu erwarten. Dies ist dann nicht problematisch, wenn sich die Nachfrage aufgrund suffizienterer Ernährungsweisen (u. a. weniger Fleischprodukte) entsprechend
verändert, was naturschutz- ebenso wie tierethisch und hinsichtlich menschlicher Gesundheit ohnehin wünschenswert ist (vgl. Voget-Kleschin et al. 2014).
8. Naturnähe und Technikeinsatz in Produktionssystemen schließen sich gegenseitig nicht grundsätzlich aus. Zu spezifizieren ist, wie ersteres als Ziel durch zweiteres als Mittel erreichbar wäre. Unangemessen ist eine undifferenzierte „Nature knows best“-Idee.
Auch für die Beurteilung des Technikeinsatzes in Land-, Wald- und Fischereiwirtschaft gelten die in These 3 genannten Kriterien. Es können allerdings Zielkonflikte auftreten: So können in den USA ausschließlich Fische aus
geschlossenen Aquakulturen biozertifiziert werden, weil diese Produktionsweise nach Auffassung der dafür Zuständigen am besten geeignet sei, Umweltbelastungen und Schäden in natürlichen Gewässern zu verhindern. In Europa dagegen können Fische solcher Herkunft bisher gerade nicht
biozertifiziert werden, weil die EU-Biozertifizierung ein System „as close to nature as possible“ fordert; geschlossene Systeme gelten demnach als (zu) künstlich. Die Idee der Naturnähe kommt hier an Grenzen: Sollen Produktionssysteme möglichst die Natur imitieren? In welchen Fällen ist
dies angemessen, in welchen nicht? Mit welchem Aufwand und welcher Eingriffstiefe soll technisch gestaltet werden? Gehört zu naturnahen Bedingungen nicht auch Stress durch Fressfeinde, der auf dem Acker, im Teich oder im Stall gerade reduziert wird? Begrifflich ist ein
undifferenziertes„nature knows best“ zur Gestaltung von Produktionssystemen problematisch, weil es hier um Zweckorientierungen geht, die aus der menschlichen Sphäre stammen. Angemessener erscheint es, konkrete Ziele zu formulieren, wie das Wohl der Nutztiere, die Zirkulation von
Nährstoffen ohne Überschüsse und die Förderung einer bestimmten Biodiversität in Produktionssystemen gesichert werden können (vgl. Meisch, Stark 2019). Gleichwohl schließt dies einen technischen Vorbildcharakter natürlicher Zusammenhänge als
Mittel für bestimmte Problemlösungen keineswegs aus.
IV. Renaturierung, Künstlichkeit, Natur und das Anthropozän
9. Renaturierung zielt darauf ab, ein Gebiet, dessen Zustand als unbefriedigend erachtet wird, auf Basis nachvollziehbarer Gründe Gründen in Richtung größerer Naturnähe zu entwickeln. Dabei wird bewusst auf technischem Weg Natur aus zweiter Hand angestrebt.
Die Anfänge der Renaturierung reichen in Deutschland bis in die 1920er-Jahre zurück (Bepflanzung von Abraumhalden). In den USA wurden seit den 1950er-Jahren ehemalige Präriegebiete aus der landwirtschaftlichen Nutzung genommen, um sie wieder zur Prärie zu machen. Der anzustrebende
künftige Zustand wird häufig unter Rekurs auf frühere Zustände bestimmt („Wiederherstellung“). Renaturierung differenziert sich nach verschiedenen Zielfunktionen, so i) einen historisch definierten und erwünschten Zustand wiederherzustellen bzw. zu erreichen, ii) einen
Zustand geringerer Nutzungs- bzw. Eingriffsintensität und damit mehr Naturnähe zu erreichen, iii) bestimmte Ökosystemfunktionen bzw. Ökosystemleistungen (wieder)herzustellen (vgl. Zerbe, Wiegleb 2009). Das jeweilige Ziel kann auf der den
Prozess betreffenden Mittelebene auf einem Gradienten von aktiver technischer (Um-)Gestaltung bis zu reinem „Laufenlassen“ angegangen werden. Renaturierung strebt einen künftigen naturnäheren Zustand (als „Produkt“) an. Daher sollte das „Re“ auf der Zielebene generell nicht als „Zurück
zu“ („back to“) verstanden werden, sondern eher im Sinne einer Wiederkehr von Natur („return of“). Daraus lässt sich ableiten:
1. Wenn diese Wiederkehr von Natur nach ihren eigenen Regeln, nämlich dynamisch und selbstorganisierend (autopoietisch) erfolgen kann, dann sollte nicht technisch eingegriffen werden.
2. Wird angenommen, dass ein Ziel besser bzw. schneller mit anthropogener „Starthilfe“ erreicht werden kann, muss abgewogen werden, ob letztere im Rahmen einer umfassenden Bewertung (vgl. These 3) angemessen ist.
3. Analoges gilt erst recht (a fortiori), wenn ein Ziel der Renaturierung umfassende technische Eingriffe erfordert, um ein „naturidentisches“ Ökosystem zu erreichen.
Insofern müssen auf der Prozessebene die spezifische Art und Weise sowie der raumzeitliche Umfang technischer Maßnahmen selbst Gegenstand einer naturschutzbezogenen Bewertung anhand der in These 3 genannten Kriterien
sein. Ansätze der Renaturierung können sich auf der (technischen) Mittelebene (Prozess) unterscheiden, streben aber alle eine sich später möglichst selbst erhaltende und entwickelnde „Natur aus zweiter Hand“ als Ziel (Produkt) an (vgl. Ott in Zerbe,
Wiegleb 2009). Im Fall von Prozessschutzgebieten, in denen es auf der Zielebene ausdrücklich darum geht „Natur Natur sein (zu) lassen“, sollte auch auf der Mittelebene möglichst ganz auf die Dynamik der Natur gesetzt werden.
10. Der Verweis auf das „Anthropozän“ ist hinsichtlich der Fragen nach Natur und Natürlichkeit problematisch, weil er wichtige Differenzierungen mit Bezug auf die Art, das Ausmaß und die Kontexte menschlicher Einflussnahme verwischt bzw. ignoriert.
Eine Bezugnahme auf Natur ist grundlegend, weil Naturschutz spezifizieren können muss, welche Formen von Natur auf der Zielebene geschützt oder angestrebt werden sollen: Wildnis/Prozessschutz, bestimmte Taxa und Lebensgemeinschaften, Kulturlandschaften, renaturierte Ökosysteme. Das
Wissen um die maßgebliche Einflussnahme von Menschen auf die gesamte Biosphäre im Klimawandel und das Ausrufen des neuen Zeitalters „Anthropozän“ haben allerdings zuweilen zu Forderungen geführt, den Naturbegriff ganz zu verwerfen. So wurde etwa die polemisch-aufrüttelnd gemeinte Rede
vom „Ende der Natur“ (McKibben 1989) (miss-)verstanden. Auch wird oft die Unterscheidung von Mensch(en) und Natur als grundlegend falsch verworfen. Doch wird dabei wiederum eine Dichotomie Mensch-Natur als eine Entweder-Oder-Struktur
missverstanden, die in einem graduell zu verstehenden Naturbegriff (siehe These 1) gar nicht gemeint ist bzw. sein sollte. Ähnlich problematisch ist die Rede vom „Anthropozän“ dann, wenn wichtige Differenzierungen mit Bezug auf die Art,
das Ausmaß und die Kontexte menschlicher Einflussnahme ignoriert werden. Denn es ist ja nicht per se jede bzw. jeder oder „der“ Mensch, der „die“ Natur zerstört, sondern bestimmte Gruppen von Menschen haben bestimmte naturschädigende – ressourcenintensive, extraktivistische,
biodiversitäts- und klimaschutzfeindliche – Praktiken inzwischen global durchgesetzt (vgl. Manemann 2014). Als neu vorgeschlagene Zielvorstellungen für den Naturschutz, die von „ungestümen Gärten“ (Marris 2011) oder „Konvivalität“ (Büscher, Fletcher 2020) sprechen (vgl. auch Dudley 2011), konvergieren hier mit älteren Ansätzen aus dem deutschsprachigen Kontext (vgl. Meyer-Abich 1997, Potthast 1999), die naturphilosophisch die Verbundenheit von Menschen und Mitwelt betonen, was gemeinsame Gestaltungsaspekte umfasst, gleichzeitig aber das „Natur Natur sein lassen“
keinesfalls verwirft.
11. Die Debatte um „künstliche Natur“ hat immer zwei Ebenen: Konkret geht es um Mittel-Ziel-Verhältnisse, alternative Optionen, Kosten und Risiken, während die Tiefendimension adressiert, womit Naturschutz (un)verträglich sein sollte.
Um Ziele des Naturschutzes zu erreichen, werden notwendig auch Techniken eingesetzt. Dies bedeutet aber keine generelle Erlaubnis: So dürfen Techniken nicht mit negativen Auswirkungen auf andere Schutzgüter und/oder mit gravierenden anderen Gefahren verbunden sein. Zugleich muss
gefragt werden, ob bestimmte Techniken mit dem Selbstverständnis des Naturschutzes vereinbar sind. Dies betrifft vor allem Techniken mit großer Eingriffstiefe. Fraglich ist, ob hier immer allgemeine oder (fall)spezifische Konsense möglich sind, gerade weil Grundfragen der ethischen und
naturphilosophischen Verortung des Naturschutzes berührt werden. Angesichts zahlreicher und heterogener Technikangebote besteht allerdings die Notwendigkeit einer vorläufigen und ggf. revidierbaren Bewertung und Entscheidung gemäß der in These 3 genannten Kriterien. Nicht um den – falschen – Gegensatz Mensch/Technik vs. Natur sollte es dabei gehen, sondern um unterschiedliche – und unterschiedlich gelingende – Mensch-Technik-Natur-Inter-aktionen.
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Fußnoten