Katinka Sauer, Gaby Schulemann-Maier,
Sebastian König und Stefan
Brunzel
Zusammenfassung
Die Verwendung digitaler Formate spielt im Bildungsbereich eine immer größere Rolle. Digitale Hilfsmittel wie auch E-Learning
haben schon vor der COVID-19-Pandemie mit der Wissensvermittlung über Tier- und Pflanzenarten Eingang in Bildungsformate im
Naturschutz gefunden. Dennoch sind digitale Formate in der Naturschutzbildung – ob im beruflichen Kontext oder Freizeitbereich –
häufig noch unterrepräsentiert. Im vorliegenden Beitrag werden beispielhaft wegbereitende und innovative Initiativen und Projekte
in der Naturschutzbildung mit ihren Inhalten vorgestellt. Hierbei handelt es sich um den E-Learning-Lehrgang
„Natura-2000-Manager/in“, die „NABU|naturgucker-Akademie“ sowie die Smartphone-App „Flora Incognita“. Vorteile, die digitale
Formate auch in der Naturschutzbildung haben können, werden diskutiert. Demgegenüber zu befürchtende, potenziell negative Effekte
werden ebenfalls beleuchtet.
Digitale Bildungsformate – Natur- und Umweltbildung – Natura 2000 – Artenkenntnis – Natura-2000-Manager – Flora Incognita – NABU|naturgucker-AkademieAbstract
The use of digital formats plays an increasingly important role in the education sector. Even before the COVID-19 pandemic,
digital tools and e-learning found their way into educational formats on nature conservation, facilitating the transfer of
knowledge about animal and plant species. However, digital formats are still often underrepresented in conservation education –
whether in a professional or recreational context. In this article, pioneering and innovative initiatives and projects in nature
conservation education and their content are presented as examples. These comprise the e-learning “Natura 2000 Manager” course,
the “NABU|naturgucker-Akademie” and the “Flora Incognita” smartphone app. The article discusses the advantages that digital
formats in nature conservation education can have. In contrast, potentially negative effects to be feared are also
highlighted.
Digital education formats – Nature and environmental education – Natura 2000 – Species knowledge – Natura 2000 manager – Flora Incognita – NABU|naturgucker-AkademieInhalt
1 Einleitung
Das Wissen über Arten und ökologische Zusammenhänge nimmt in der bundesdeutschen Bevölkerung und auch unter Akteuren aus dem
Naturschutz ab ( Frobel, Schlumprecht 2014). Mit abnehmender Naturerfahrung und Kenntnis
heimischer Tier- und Pflanzenarten nimmt aber auch die Bereitschaft der Menschen ab, sich für Belange des Natur- und Umweltschutzes
einzusetzen ( Lindemann-Matthies 2002, 2005;
Soga, Gaston 2016; Hergenröder et al. 2022),
obwohl Naturzerstörung von der Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen wird ( BMUV, UBA 2022).
Gleichzeitig ist die Kenntnis heimischer Tier- und Pflanzenarten für viele Fachkräfte im beruflichen Naturschutz eine Notwendigkeit,
um bspw. Lebensräume und deren Veränderungen beurteilen und bewerten zu können ( Kühne et al.
2014). Damit ist Artenkenntnis insbesondere für das Management von Schutzgebieten, z. B. im Rahmen von Natura 2000, eine
essenzielle Voraussetzung ( Schulte et al. 2019). Entsprechend wichtig ist es daher, der
Bevölkerung und den Fachkräften Wissen über ökologische Zusammenhänge, Ursachen der Gefährdung von Arten und Lebensräumen sowie über
Schutzmaßnahmen zu vermitteln. Dabei ist nicht zuletzt auch die Vermittlung von Artenkenntnis wichtig.
Wissensvermittlung geschieht zunehmend auch über digitale Formate ( Dotterweich 2020;
Groß et al. 2022). In Bereichen wie der Automobilindustrie ist die Wissensvermittlung
durch digitale Hilfsmittel, z. B. „erweiterte Realität“ (augmented reality, AR) und „virtuelle Realität“ (virtual reality, VR;
Abb. 1) oder online abrufbare Videos ( Rademacher
2014), etabliert. In der Naturschutzbildung, ob im beruflichen Kontext oder im Freizeitbereich, ist sie jedoch oft noch
unterrepräsentiert.
Abb. 1: Virtuelle Realität als Instrument, um über 50 Fauna-Flora-Habitat(FFH)-Lebensraumtypen im Lehrgang
„Natura-2000-Manager/in“ virtuell begehbar zu machen.
(Foto: Benjamin Melzer)
Fig. 1: Virtual reality as a tool for communicating more than 50 habitat types protected under the EU Habitats
Directive.
Digitale Formate, wie AR, VR und spielbasiertes digitales Lernen (game-based learning, GBL), z. B. auf mobilen
Endgeräten, oder E-Learning-Plattformen, die Lehrmaterial (Videos, Tutorials) vorhalten, sollen weder analoge Lernangebote noch
In-situ-Naturerfahrungen durch Exkursionen o. Ä. oder den realen Austausch mit Lehrenden, Fachexpertinnen und Fachexperten ersetzen
( Eckes et al. 2021). Sie können jedoch verschiedenartige Anreize schaffen und
Erfahrungsmöglichkeiten bieten, die analog nicht oder nur eingeschränkt realisierbar sind. So können Detektoren Fledermausrufe für das
menschliche Ohr hörbar machen ( Dotterweich, Lude 2021), VR kann Erkundungen an nicht oder
nur schwer zugänglichen Orten wie Korallenriffen oder Naturschutzgebieten ermöglichen und diese bspw. für mobilitätseingeschränkte
Menschen erschließen ( Eckes et al. 2021). Ebenso lassen sich abstrakte Prozesse
visualisieren, bspw. die Folgen des Klimawandels für Korallenriffe anhand eines 360-Grad-Films (ebd.). E-Learning-Angebote haben den
Vorteil, einen orts- und zeitunabhängigen Zugang zu Bildungsinhalten zu schaffen und sich flexibel in individuelle Lebensstile
integrieren zu lassen ( Bacelar-Nicolau et al. 2009).
Einige Studien, in denen analoge, klassische Bildungsangebote mit Angeboten auf mobilen Endgeräten (Smartphone, Tablet) verglichen
wurden, konnten zeigen, dass der Wissenserwerb bei den mobilen digitalen Angeboten vergleichbar (oder höher) war ( Ruchter et al. 2010; Crawford et al. 2017) und sie im
Schulunterricht generell eine Bereicherung darstellen können ( Groß et al. 2022).
Insbesondere in Hinblick auf fachfremde Personen und spezielle Kompetenzen wie Artenkenntnis verschaffen Apps wie Flora Incognita
einen ersten Zugang zur Materie und erhöhen den Reiz und die Motivation, sich intensiver mit bisher unbekannten Themen zu beschäftigen
( Mäder et al. 2021). Andere Studien zeigen, dass z. B. bei GBL deutliche Unterschiede
hinsichtlich des Lernerfolgs zwischen stationären und mobilen Endgeräten bestehen können ( Giannakas
et al. 2018). Grundsätzlich können digitale Formate in der Naturschutzbildung didaktisch sinnvoll oder eher
kontraproduktiv eingesetzt werden, dann mit im Vergleich zu rein analogen Formaten geringerem Lernerfolg ( Dotterweich 2020). In einem didaktischen Sinne kontraproduktiv sind digitale Formate z. B. immer
dann, wenn sie technisch überladen zu einer Überforderung der Nutzerinnen und Nutzer führen ( Dunleavy,
Dede 2014).
Der vorliegende Artikel befasst sich daher mit der Frage, welche Chancen und Risiken eine Digitalisierung der Naturschutzbildung
bietet. Hierbei geht es speziell um die Nutzung digitaler Formate zur Vermittlung von Wissen über Natur und Naturschutz, nicht um
Wissensvermittlung zu den digitalen Techniken an sich. Weiterhin wird im Folgenden unter dem Begriff „Naturschutzbildung“ Natur- und
Umweltbildung zusammengefasst, da auch reine Naturwissensvermittlung Naturschutzbildung im weiteren Sinne ist. Hierzu werden
beispielhaft unterschiedliche Ansätze und Projekte vorgestellt: der Einsatz von VR im E-Learning-Lehrgang „Natura-2000-Manager/in“,
die Vermittlung von Artenkenntnis über Online-Schulungen der NABU|naturgucker-Akademie (NABU – Naturschutzbund Deutschland) sowie
Flora Incognita, eine auf maschinellem Lernen basierende App zur Bestimmung von Pflanzen.
2 Digitalisierung in der Naturschutzbildung – Fallbeispiele
2.1 E-Learning und virtuelle Realität im Lehrgang „Natura-2000-Manager/in“
Der Lehrgang „Natura-2000-Manager/in“ dient der beruflichen Weiterbildung und bündelt umfänglich Fachinhalte zu Natura 2000 aus
unterschiedlichsten Disziplinen, die für die Ausübung des komplexen Berufsbilds von Natura-2000-Managerinnen und -Managern relevant
sind: von der Landwirtschaft über die Ökologie bis hin zu Projektmanagement und Kommunikationsstrategien. Diese interdisziplinäre
Verschneidung unterschiedlichster Inhalte stellt damit ein Lehrangebot dar, das in der deutschsprachigen Naturschutzaus- und
-weiterbildung bisher so nicht vorhanden ist.
Zielgruppe des Lehrgangs sind Studierende aus einschlägigen Studiengängen, v. a. aber Personen, die bereits im Naturschutz
arbeiten und mit der Umsetzung von Natura 2000 befasst sind. Dies können Mitarbeitende aus biologischen Stationen sowie
Natura-2000-Stationen, Naturschutzbehörden oder Planungsbüros sein. Der Lehrgang bietet damit die Möglichkeit einer freiwilligen,
berufsbegleitenden Weiterbildungsmaßnahme.
Die derzeit 57 Lerneinheiten werden von über 40 Referentinnen und Referenten aus Hochschulen, Vereinen und Stiftungen
bereitgestellt, zumeist als vertonte Vorlesungspräsentationen zum Selbstlernen. Einige Präsenzseminare, Exkursionen und
Online-Konsultationen zum Austausch mit Teilnehmenden und Referierenden ergänzen das Angebot. Die Lehrinhalte verteilen sich auf
11 Themenblöcke:
● Grundlagen von Natura 2000,
● Kenntnisse über Arten der Fauna-Flora-Habitat(FFH)- und Vogelschutzrichtlinie,
● Renaturierungsökologie,
● Natura 2000 und Landwirtschaft,
● Natura 2000 und Gewässer,
● Natura 2000 und Freizeitnutzung,
● Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und
Ein erster Testlehrgang mit 46 Teilnehmerinnen und Teilnehmern begann am 12.11.2022, dauerte bis Ende Mai 2023 und wurde mit einer
Prüfung Anfang Juni abgeschlossen. Der erste offizielle Lehrgang startet im November 2023 und wird sich, wie die zukünftigen
Lehrgänge, über einen Zeitraum von 6 Monaten erstrecken. Ein Beirat, bestehend aus 17 Fachexpertinnen und Fachexperten, begleitet den
Lehrgang inhaltlich und stellt auf diese Weise dessen Qualität sicher. Die digitale Umsetzung ermöglicht es den Teilnehmerinnen
und Teilnehmern, sich orts- und zeitunabhängig im Selbststudium weiterzubilden und in Online-Konsultationen
untereinander und mit Dozierenden auszutauschen.
In Hinblick auf Natura 2000 sowie die FFH-Richtlinie bilden die 360-Grad-Panoramen von 59 in Deutschland vorkommenden
FFH-Lebensraumtypen in virtueller 3D-Realität ein Kernstück des Lehrgangs ( Abb. 2). Die
Panoramen der Lebensraumtypen (LRT) sind mit Informationsfenstern, einem Drop-down-Element zu den jeweiligen lebensraumtypischen
Pflanzenarten und mit der am Aufnahmeort für den Lebensraum typischen Geräuschkulisse ausgestattet. Der größte Teil der LRT-Panoramen
ist bereits für Kursteilnehmerinnen und teilnehmer sowie alle Interessierten auf der Website https://www.natura2000manager.de frei zugänglich und kann mit VR-Brille in
3D begangen werden. Die Darstellung der FFH-LRT komplettiert das Lernangebot, da Exkursionen zu LRT von Alpen- bis Küstenregionen in
diesem Umfang nicht stattfinden könnten.
Abb. 2: Beispiel eines 360-Grad-Panoramas eines Kalk-Magerrasens mit einer Liste der kennzeichnenden Arten und einer
Beispielart.
(Quelle: BUND Thüringen)
Fig. 2: Example of a 360-degree panorama of a calcareous nutrient-poor grassland with a list of the characteristic species
and an example species.
(Source: BUND Thüringen)
2.2 Artenkenntnis erwerben mit der NABU|naturgucker-Akademie
Die NABU|naturgucker-Akademie schafft Online-Angebote zum Erwerb von Artenkenntnis mit stark motivationsorientierter
Ausgestaltung. Mittels multimedial und allgemein verständlich aufbereiteter Schulungen möchten die gemeinnützige Genossenschaft
naturgucker.de und der NABU eine möglichst große Bevölkerungsgruppe an klassische biologische Inhalte heranführen, Menschen für die
Natur begeistern und einen neuen Zugang zu Wissen über Arten sowie Lebensräume bieten. Dafür wurde Anfang 2021 die
NABU|naturgucker-Akademie ins Leben gerufen, deren kostenlos nutzbare E-Learning-Inhalte unter https://artenwissen.online zeitlich flexibel abrufbar sind. Durch das Kombinieren von E-Learning und Präsenzlernen
nutzt die NABU|naturgucker-Akademie die u. a. durch Kraft (2003) hervorgehobenen
Möglichkeiten des Blended Learning. Die Bedürfnisse der Lernenden stehen bei der Konzeption der Lerninhalte im Mittelpunkt.
Naturinteressierte werden allgemein sowie hinsichtlich spezifischer Fragestellungen geschult. Das Lernen soll außerdem Freude
bereiten. Aus Sicht der Betreibenden der NABU|naturgucker-Akademie lässt sich nur so nachhaltige Begeisterung für die Natur, deren
Schutz und das Beobachten wecken – „Spaß an etwas zu haben“ gehört zu den wichtigsten intrinsischen Motivationen ( Richter et al. 2021).
Um diese Freude am Lernen zu unterstützen, wird auf einen hohen Bild- und Videoanteil gesetzt (
Abb. 3). Die mehr als 25 Kursautorinnen und -autoren stellen in Videos die Inhalte der einzelnen Kapitel vor. Bei der
Wissensvermittlung wird u. a. auf vertonte Bildschirmpräsentationen und stark auf „gamification“ zur Motivationssteigerung und
potenziellen Verbesserung der Lernerfolge gesetzt ( Kalogiannakis et al. 2021). Zum Einsatz
kommen interaktive Elemente, wie Hotspot-Bilder zum Anklicken für mehr Informationen und Lückentexte (
Abb. 4). Damit können die Lernenden auf spielerische Weise Wissen am Bildschirm erarbeiten und informell ihren
Lernfortschritt prüfen.
Abb. 3: Zur Steigerung der Motivation setzt die Website der NABU|naturgucker-Akademie des Naturschutzbunds Deutschland
(NABU) auf fachlich fundierte, attraktiv aufbereitete Inhalte sowie auf eine emotionale Ansprache der
Lernenden.
(Quelle: NABU|naturgucker-Akademie)
Fig. 3: To increase motivation, the website of the NABU|naturgucker Academy of the Nature and Biodiversity Conservation
Union Germany (NABU) relies on professionally sound, attractive content and an emotional appeal to learners.
(Source: NABU|naturgucker-Akademie)
Abb. 4: Einblick in das Lernthema Vögel auf der Website der NABU|naturgucker-Akademie des Naturschutzbunds Deutschland
(NABU).
(Quelle: NABU|naturgucker-Akademie)
Fig. 4: Insight into a teaching unit on birds of the NABU|naturgucker Academy of the Nature and Biodiversity Conservation
Union Germany (NABU).
(Source: NABU|naturgucker-Akademie)
Derzeit umfasst das Angebotsspektrum der NABU|naturgucker-Akademie hauptsächlich niederschwellige Inhalte (Grundwissen). Darauf
aufbauende Lerneinheiten zum Vermitteln von Spezialwissen (Aufbauwissen) sind in Planung bzw. teils bereits in Arbeit. Diese
stufenweise Konzeption, wie sie z. B. in der Schweiz seit 2010 im Rahmen öffentlicher Zertifizierungsmöglichkeiten in der Feldbotanik
erfolgreich eingesetzt wird ( Kuss et al. 2021), unterstützt die Lernenden in deren
eigenständig gelenktem Lernprozess. Inhaltlich werden drei Segmente abgedeckt: Organismengruppen, Lebensräume sowie allgemeine Themen,
die Naturschutz und Naturbeobachtung betreffen.
Ferner können sich die Nutzerinnen und Nutzer auf Wunsch am Ende vieler Lernangebote einer Abschlussprüfung unterziehen, um
Zertifikate zu erlangen. Diese orientieren sich am Zertifizierungssystem des Bundesweiten Arbeitskreises der staatlich getragenen
Umweltbildungsstätten im Natur- und Umweltschutz (BANU) (Silbernagl 2022). Des Weiteren werden zu den meisten Lernthemen mindestens
einmal jährlich ergänzende Online-Seminare durchgeführt. Kooperationen unterhält die NABU|naturgucker-Akademie mit der
Naturschutz-Akademie Hessen (NAH), dem BANU, der Fachhochschule Erfurt, der Deutschen Gesellschaft für Mykologie (DGfM) sowie mit den
Projekten KennArt (bundesweite Initiative zur Ausbildung von Artenkennerinnen und -kennern) und FörTax (Förderung taxonomischen
Wissens als Grundlage für den Naturschutz), die ein anderes Zielpublikum adressieren (Fachleute bzw. junge Erwachsene).
2.3 Artenbestimmung mit der Flora-Incognita-App
Das Projekt Flora Incognita wurde 2014 gemeinsam von der Technischen Universität Ilmenau sowie dem Max-Planck-Institut für
Biogeochemie Jena begonnen. Die gleichnamige App zur Pflanzenbestimmung wurde 2018 in allen gängigen App-Stores
veröffentlicht. Derzeit verzeichnet die App mehr als 2 Mio. Installationen. Viele Millionen Beobachtungen wurden bisher erstellt
( Flora Incognita 2014; Mäder et al. 2021). Im
Rahmen des Projekts wurde ein Verfahren zur interaktiven, automatischen Pflanzenbestimmung mit Smartphones entwickelt. Die konsequente
Nutzung neuester Ansätze des maschinellen Lernens in Kombination mit der weitreichenden Verfügbarkeit mobiler Endgeräte wie
Smartphones und Tablets macht es möglich, die Bestimmung von Pflanzen deutlich zu vereinfachen (vgl. Beitrag von Schneider et al. 2023 in dieser Ausgabe). Mit der Kamera des Smartphones wird die Blüte einer
Pflanze fotografiert, dann ggf. das Blatt und in Sekundenschnelle erhält man einen Vorschlag zum Namen der Pflanze sowie
weiterführende Informationen ( Flora Incognita 2014). Die zugrunde liegenden Methoden des
maschinellen Lernens haben inzwischen eine Qualität erreicht, dass die App zunehmend auch für professionelle, wissenschaftliche
Anwenderinnen und Anwender interessant werden wird ( Pärtel et al. 2021).
Flora Incognita ist es gelungen, den Erwerb von Artenkenntnis mit dem vom überwiegenden Teil der Bevölkerung genutzten Smartphone
zu verbinden und somit auf spielerische Weise Interesse an Artenkenntnis zu wecken ( Flora Incognita
2014; Mäder et al. 2021). Flora Incognita deckt hierbei zwei aus didaktischer
Sicht geforderte Schlüsselaspekte ab ( Dotterweich 2020; Horn
2022): Einbindung von Gamification-Elementen und von Citizen Science. Ein Gamification-Element (Abzeichen mit
verschiedenen Levels) sorgt bei Flora Incognita dafür, dass die Nutzerinnen und Nutzer gezielt nach Arten Ausschau halten, die noch
nicht auf der eigenen Beobachtungsliste stehen, und soll auf diese Weise die Begeisterung für das Pflanzensammeln erhöhen. Gepaart mit
der gezielten Vermittlung von Pflanzenwissen und den aktuellen Forschungsneuigkeiten in den App-Stories versucht Flora Incognita
Nutzerinnen und Nutzer in eine aktive Citizen Science Community zu integrieren (https://floraincognita.de/flora-incognita-plusplus/).
Schnittstellen zu anderen Naturbildungs-Apps wie „beeactive“, die den Bestimmungsalgorithmus von Flora Incognita nutzen, schaffen
durch diese Vernetzung einen weiteren didaktischen Mehrwert.
3 Diskussion
Die „extinction of experience“, also der Verlust von Naturerfahrung ( Soga, Gaston 2016),
und eine damit einhergehende problematische Entfremdung von der zu schützenden Natur beruhen nicht nur auf dem Verlust unmittelbarer
In-situ-Erfahrungen, sondern generell auf einer mangelnden Auseinandersetzung mit der Natur. So konnten Glaab, Heyne (2019) und Hergenröder et al. (2022) zeigen, dass Lehreinheiten
zu gefährdeten Arten auch indoor, z. B. an Tierpräparaten, nicht nur das Wissen über die Arten, deren Ökologie und Gefährdung erhöhen,
sondern gleichzeitig und langfristig auch die Einstellung zum notwendigen Schutz dieser Arten befördern. Ebenso und darüber
hinausgehend können digitale Formate indoor die Vermittlung von Wissen auf Grund ihrer freien, raum- und zeitunabhängigen
Zugänglichkeit, ihrer Komplexität und nicht zuletzt ihrer spiel- und technikbasierten Attraktivität erheblich verbessern, insbesondere
bei fachfremden Laien und digital versierten Jugendlichen ( Dunleavy, Dede 2014; Crawford et al. 2017; Giannakas et al. 2018; Mäder et al. 2021).
Grundsätzlich lassen sich „Draußen-Erfahrungen“ weder durch Indoor-Naturbildung noch durch Verwendung digitaler Hilfsmittel völlig
ersetzen. So werden gerade draußen im Zusammenspiel unterschiedlicher Sinneseindrücke umfassende „Erfahrungsmehrwerte“ geschaffen:
Selbst in einer technisch hoch entwickelten VR riecht es nicht, man hört keine wechselnden Geräusche, erlebt keine variierenden
Windverhältnisse, bekommt keine nassen Füße und auch keinen Adrenalinstoß wie z. B. bei einer Begegnung mit einem Rothirsch in der
realen Welt. Alle haptischen und taktilen Eindrücke fehlen oder lassen sich nur stereotyp und sehr aufwendig nachstellen. Die Grenzen
digitaler Formate in der Bildung werden zum Teil auch in einer möglichen Reizüberflutung der Lernenden gesehen. So weisen Dunleavy, Dede (2014) und Hans, Crasta (2019) darauf
hin, dass vor allem VR und AR auf Grund der Komplexität und Dichte der Inhalte und Eindrücke zu Überforderung, Ablenkung und
mangelnder Konzentrationsfähigkeit hinsichtlich der Inhalte führen können. Daneben ist immer noch zu beachten, dass nicht an jedem Ort
und für jede und jeden eine gute Zugänglichkeit zum Internet und damit zu digitalen Formaten gewährleistet ist.
Auch die smartphone-gestützte Pflanzenbestimmung mit der sogar für Fachleute sehr gut funktionierenden Flora-Incognita-App stößt
hier und da (noch) an ihre Grenzen. So gibt es bei Gräsern (Poaceae) häufig noch Fehlbestimmungen, insbesondere wenn die Art nicht vor
einem homogenen Hintergrund fotografiert wird. Auch die Angabe von „Trefferwahrscheinlichkeiten“ – bspw. die Angabe, dass
die vorgeschlagene Art mit 80 %iger Wahrscheinlichkeit erkannt wurde – ist wichtig, gibt aber keine abschließende Antwort auf die
Frage, um welche Pflanzenart es sich handelt. Gerade die algorithmen- und technikbedingte Angabe von Wahrscheinlichkeiten macht die
Grenzen dieser App klar: App-unabhängige Kenntnisse über die Merkmale einer Art sind nötig, um aus wahrscheinlichkeitsbasierten
Angaben der App „sicheres“ Wissen zu formen.
Selbstverständlich kann aber auch mit Kenntnis der Merkmale einer Pflanze und der richtigen Anwendung eines
Bestimmungsschlüssels eine Fehlbestimmung einer unbekannten Pflanze resultieren. Eine grundsätzliche Kritik an allein durch
automatisierte Fotoerkennung erworbener Artenkenntnis besteht darin, dass diese gegenüber durch Bestimmungsschlüssel erworbener
Artenkenntnis u. U. nicht nachhaltig sei und dass die Frage, welche Merkmale dazu führen, dass es diese Art und keine andere ist,
nicht beantwortet werde (vgl. Horn 2022). Ob diese Kritik zutreffend ist, kann im Moment
nicht abschließend beurteilt werden. Denn es fehlen in Hinblick auf Apps wie Flora Incognita, die mit automatischer Artbestimmung
arbeiten, solide empirische Studien, die den tatsächlichen Lerneffekt untersuchen. Hier besteht Forschungsbedarf. Wir sind jedoch aus
eigener Erfahrung und der Erfahrung anderer Fachleute der Auffassung, dass die Artbestimmung durch Expertinnen und Experten ebenfalls
zu einem großen Teil auf Bilderkennung und weniger auf Bestimmungsschlüsselmerkmalen basiert. Es erscheint daher möglich, dass das
zerebrale Erkennungssystem von Artenkennerinnen und Artenkennern ähnlich funktioniert wie die automatisierte Fotoerkennung von Flora
Incognita.
4 Fazit
Angesichts der erodierenden Naturkenntnisse allgemein und Artenkenntnisse im Besonderen ist jede Art von Bildungsformat wichtig,
das dazu beiträgt, Interesse an Natur und Arten zu entfachen und Kenntnisse über Natur und Naturschutz – und seien sie noch so
kurzlebig und gering – zu vermitteln. Es lässt sich jedoch festhalten, dass Lehrinhalte auch in der Naturschutzbildung wahrscheinlich
besonders effektiv und attraktiv in einer geeigneten Mischung (Blended Learning) aus analogen und digitalen Formaten vermittelt werden
können ( Kraft 2003). Hinsichtlich digitaler Formate wird von
Horn (2022) unter Nennung besonders geeigneter Apps darauf hingewiesen, dass Gamification-Elemente und Bezüge zu Citizen
Science – z. B. die Einspeisung von Informationen über Pflanzen, die mit Smartphone-Apps bestimmt wurden, in Datenbanken – zur
Verstetigung des erworbenen Wissens und zur Steigerung des didaktischen Mehrwerts digitaler Formate beitragen.
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Silbernagl S. (2022): Wissen – Qualifizieren – Zertifizieren für die Artenvielfalt: Ein bundesweites Projekt,
um Artenkenntnisse zu fördern. ANLIEGEN NATUR 44(1): 95 – 98.
↑
Soga M., Gaston K.J. (2016): Extinction
of experience: The loss of human-nature interactions. Frontiers in Ecology and the Environment 14(2): 94 – 101. DOI:
10.1002/fee.1225
Förderung und Dank
Die Autorinnen und Autoren bedanken sich für die Förderung des Projekts E-Learning-Lehrgang „Natura-2000-Manager/in“ bei der
Deutschen Bundesstiftung Umwelt (Förderkennzeichen 35435/01-43/0) und dem Thüringer Ministerium für Umwelt, Energie und Naturschutz
(Förderkennzeichen 0901-46-8698/26-2-18123/2021). Die Autorinnen und Autoren bedanken sich ebenso für die Förderung der
NABU|naturgucker-Akademie im Rahmen des Bundesprogramms Biologische Vielfalt durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (Förderkennzeichen 3520685030).