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Seite 536 - 540

150 Jahre Naturschutz in Deutschland: ein Gespräch über die Anfänge

150 years of nature conservation in Germany: A conversation about the beginnings

DOI: 10.19217/NuL2021-11-05 • Manuskripteinreichung: 27.4.2021, Annahme: 16.8.2021

Gerhard Hachmann und Rainer KochInterview: Ulrich Sukopp

Zusammenfassung

Philipp Leopold Martin (1815 – 1885) war ein bedeutender Naturforscher der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Tierpräparator, Museumsgestalter und Ornithologe war er vielfältig tätig und ist auf diesen Feldern in Fachkreisen bis heute bekannt. Martin hat im Jahr 1871 aber auch als einer der ersten deutschsprachigen Autoren ein Konzept zum Schutz der Natur veröffentlicht. Darin führte er das Wort „Naturschutz“ in die deutsche Sprache ein. Seine Leistungen als Naturschützer gerieten jedoch schon bald nach seinem Tod vollkommen in Vergessenheit und wurden erst vor zehn Jahren wiederentdeckt. Der Beitrag berichtet über die Wiederentdeckung, nennt die vielfältigen Ideen Philipp Leopold Martins und würdigt ihn als weitsichtigen Vordenker des deutschen Naturschutzes.

Philipp Leopold Martin – Naturschutzgeschichte – Deutschland

Abstract

Philipp Leopold Martin (1815 – 1885) was a distinguished naturalist in the second half of the 19th century. He was active in many ways as a taxidermist, museum designer and ornithologist and is still known in these fields in specialist circles today. But in 1871, Martin also published one of the first concept papers on nature conservation written in German. In this publication, he introduced the German term for “nature conservation” (“Naturschutz”). However, his achievements as a conservationist were completely forgotten soon after his death and were only rediscovered 10 years ago. This interview tells the story of the rediscovery, showcases the manifold ideas of Philipp Leopold Martin and acknowledges him as a visionary of German nature conservation.

Philipp Leopold Martin – History of nature conservation – Germany

Inhalt

Hinweis der Redaktion

Ulrich Sukopp (US): Im Jahr 1871 veröffentlichte der Tierpräparator, Ornithologe und Naturforscher Philipp Leopold Martin eine siebenteilige Aufsatzserie, in der erstmals das Wort „Naturschutz“ auftaucht. Martin schrieb, nachdem er Vorschläge gemacht hatte, wie die Gefährdung der Natur einzudämmen sei: „Die absolute Nothwendigkeit eines derartigen Naturschutzes ist noch jetzt nicht hinlänglich genug erkannt worden, sonst würde die Gesetzgebung schon strengere Maßregeln ergriffen haben“ (siehe dazu Abb. 1 mit der Titelseite von „Natur und Landschaft“ 86, Heft 11 aus dem Jahr 2011 mit einer Reproduktion der genannten Stelle in seinem Aufsatz). Natürlich verfügte Martin bei seiner erstmaligen Verwendung dieses Wortes noch nicht über unser heutiges, breites Verständnis von Naturschutz. Aber er führte das Wort in die deutsche Sprache ein.

Bis zu seinem Tod im Jahr 1885 publizierte er mehrfach und ausführlich zu Themen des Schutzes der Natur. Damit war er eine – aus heutiger Sicht durchaus bedeutende – Stimme im Konzert derer, die die Notwendigkeit des Schutzes der Natur sahen und erste Konzepte entwickelten. Trotzdem geriet sein Wirken als Naturschützer schon bald nach seinem Tod für ein Jahrhundert nahezu vollkommen in Vergessenheit. Die erstmalige schriftliche Verwendung des Wortes „Naturschutz“ und die Vorstellung eines der ersten Konzepte zum Schutz der Natur in deutscher Sprache durch Philipp Leopold Martin liegen nun 150 Jahre zurück. Vor 10 Jahren stießen Sie, Herr Hachmann und Herr Koch, auf die Publikation Martins aus dem Jahr 1871 und gingen der spannenden Spur nach.

Warum ist es eigentlich wichtig zu wissen, wann das Wort „Naturschutz“ zum ersten Mal in der deutschen Sprache verwendet wurde?

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Abb. 1: Titelseite der Zeitschrift „Natur und Landschaft“ 86 (2011) Heft 11: Porträtfoto von Philipp Leopold Martin und Ausschnitt aus seinem Aufsatz von 1871.
Fig. 1: Cover of the “Natur und Landschaft” journal, Vol. 86 (2011) No. 11: Portrait photo of Philipp Leopold Martin and excerpt from his 1871 essay.

Gerhard Hachmann (GH): Es ist zunächst einmal ideengeschichtlich von Interesse, wann bestimmte Wörter in einer Sprache erstmals auftauchen und auch, wie oft sie verwendet werden. Mit unseren Worten und Benennungen beschreiben wir ja, was in der Welt vor sich geht. Denken Sie beispielsweise an das Wort „Datenschutz“: Das gibt es ja erst, seit es das Problem gibt. Und so ist auch die Schöpfung und Verwendung des Wortes „Naturschutz“ ein Indikator von vielen dafür, zu welcher Zeit man auf eben diese Problematik aufmerksam wurde, wann man versucht hat, sich einen Begriff davon zu machen, also das Problem zu beschreiben, und wann es jemand mit einem Wort benannt hat, das sich schließlich gegenüber anderen Begriffen durchgesetzt hat und seither verwendet wird.

US: Und das war nach Ihren Erkenntnissen der Tierpräparator und Naturforscher Philipp Leopold Martin. Wie sind Sie auf ihn gestoßen?

Rainer Koch (RK): Wir recherchieren immer wieder in den Datenbanken großer deutscher Bibliotheken nach den aktuellsten Veröffentlichungen zum Naturschutz. Im Februar 2011 stieß ich bei der Durchsicht einer Ergebnisliste zu meiner Überraschung auf ein Buch mit dem Erscheinungsjahr 1882, das den Titel trug „Allgemeiner Naturschutz“. Dieses wegen seines Alters urheberrechtsfreie Buch war gerade von einer deutschen Bibliothek digitalisiert und als E-Book zur Verfügung gestellt worden, es war also sozusagen neu veröffentlicht worden. Deshalb tauchte es in der Trefferliste auf.

US: Warum waren Sie überrascht?

RK: Ich war sogar ziemlich irritiert, als ich das sah. Denn es galt bis dahin als gesichertes Wissen, und das wusste ich auch, dass das Wort „Naturschutz“ erstmals 1888 in der deutschen Sprache verwendet worden sei. Und da sollte bereits sechs Jahre vorher sogar ein ganzes Buch mit diesem Wort im Titel erschienen sein? Zudem sagte mir der Name Philipp Leopold Martin überhaupt nichts.

US: Herr Hachmann, wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

GH: Ich weiß noch genau, wie mein Kollege damals zu mir ins Büro kam und fragte, ob ich schon einmal von diesem Autor gehört hätte. Er sei da auf ein Buch mit einem Titel gestoßen, den es eigentlich nicht geben könne, weil es nach damaligem Stand des Wissens das Wort in jenem Jahr noch gar nicht in der deutschen Sprache gab. Auch mir waren der Autor und sein Buch völlig unbekannt. Aber wir hatten ja mit dem Verfassernamen einen Ansatzpunkt für die weitere Recherche.

US: Wie sind Sie vorgegangen?

RK: Wir haben diese Fährte gemeinsam aufgenommen und in allen einschlägigen Bibliothekskatalogen und Datenbanken recherchiert. Wir sind schnell auf eine große Anzahl von etwa 100 Publikationen unter seinem Namen gestoßen. Und von denen beschäftigten sich vor dem Hintergrund zeitgenössischer Jagd- und Walddebatten eine ganze Reihe mit der Gefährdung der Natur – und zwar in der Folge der damals vor sich gehenden, immer stärkeren Industrialisierung und den sich ändernden Verfahren in der Land- und Forstwirtschaft. Unter diesen Publikationen fanden wir auch eine Artikelserie, die sogar schon 1871 erschienen war, also nochmals deutlich früher als das genannte und von uns zuerst entdeckte Buch. Darin legte Martin auf etwa 20 eng bedruckten Seiten eine Bestandsaufnahme vor, die vor allem die Fauna und die Folgen, die der Waldumbau zu seiner Zeit nach sich zog, betraf. Und er formulierte zahlreiche, praktisch angelegte Vorschläge, wie insbesondere sich aus der Jagd ergebende Probleme im Rückgang von Arten angegangen werden könnten. Und er erfand sozusagen das Wort „Naturschutz“ für das, was zu tun sei, er führte es in die deutsche Sprache ein und prägte es.

GH: Während unserer Recherchen hatten wir zunächst gedacht, nur wir beide hätten noch nie von diesem Naturforscher gehört. Aber es zeigte sich bald, dass er unter den deutschen Naturschutzhistorikerinnen und -historikern ein unbeschriebenes Blatt und in diesen Kreisen völlig unbekannt war.

US: Wie konnten Sie sicher sein, dass Martin nicht doch bereits in Naturschutzkreisen bekannt war?

GH: Das waren wir anfangs überhaupt nicht. Im Gegenteil, wir waren tatsächlich zunächst sehr irritiert und noch recht lange ziemlich verunsichert. Wir haben sämtliche Standardwerke zur Naturschutzgeschichte durchforstet – Fehlanzeige! Bei allen deutschen Naturschutzhistorikerinnen und -historikern war Martin tatsächlich zu dem Zeitpunkt völlig unbekannt. Und auch wenn wir uns schon seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigen, sind wir doch keine Historiker und es war für uns lange nicht vorstellbar, dass diese Person mit ihren vielen Publikationen zum Naturschutz von den Fachleuten komplett übersehen worden sein sollte.

RK: Tatsächlich gibt es auch zwei Ausnahmen. Bei unseren Recherchen stießen wir auf ein Werk der US-Wissenschaftshistorikerin Lynn Nyhart aus dem Jahr 2009 mit dem Titel „Modern Nature“, in dem sie u. a. auch über Martin schrieb. Darin deutete sie zwar am Rande seine Beschäftigung mit dem Naturschutz an, aber die meisten seiner darauf bezogenen Werke waren ihr nicht bekannt. Auch der Stuttgarter Historiker Uwe Albrecht streifte am Rande in einigen kurzen, bereits um die Jahrtausendwende erschienenen Artikeln über den Tierpräparator Martin den Naturschutzaspekt. Aber beide kommen nicht aus der Naturschutzgeschichte und haben Martins Bedeutung auf diesem Feld nicht erkannt. Und die deutschen Naturschutzhistorikerinnen und -historiker haben diese zugegeben etwas spärlichen Hinweise tatsächlich allesamt nicht wahrgenommen.

US: Jetzt war Philipp Leopold Martin aber doch sicher mehr als nur der Schöpfer eines Wortes?

RK: Martin hätte durchaus auch einen kleinen Platz in der Naturschutzgeschichte verdient, wenn er „nur“ als erster das Wort „Naturschutz“ verwendet hätte. Aber er hat eben nicht nur das Wort geprägt. Er hat in dieser Artikelserie aus dem Jahr 1871 auch ein Konzept zum Natur- und Artenschutz vorgelegt, dessen Weitsicht in einigen Punkten einem noch heute die Sprache verschlägt. Und dieses Konzept erschien fast ein ganzes Jahrzehnt vor der Publikation, die bis dahin als die erste Bestandsaufnahme der Natur- und Landschaftszerstörung in Deutschland galt. Also ich meine die Klageschrift des Musikprofessors Ernst Rudorff aus dem Jahr 1880. Neun Jahre früher ist schon eine lange Zeit. Und erst das macht seine wirkliche Bedeutung aus in der Entwicklung des Naturschutzes in Deutschland.

US: Auf diese Bedeutung würde ich gern später noch zurückkommen. Erläutern Sie unseren Leserinnen und Lesern doch bitte zuerst, wer Philipp Leopold Martin überhaupt war.

RK: Er wurde 1815 in Bunzlau in Niederschlesien geboren, dem heute polnischen Bolesławiec, und ist als Sohn eines Bäckers in kleinen Verhältnissen aufgewachsen. Er hat sich schon als Jugendlicher für die Natur interessiert und fertigte bald besonders gern Tierpräparate an. In diesem Metier hat er sich als Autodidakt fortgebildet, er hat also keine richtige Ausbildung bekommen, und er hat auch niemals eine Universität besucht. Er hat sich dann viele Jahre beruflich als Tierpräparator betätigt. In den Jahren 1848/49 konnte er seinem bis dato engen Umfeld erstmals entkommen und er ging auf eine Forschungsreise nach Mittelamerika, übrigens versehen mit einem Empfehlungsschreiben Alexander von Humboldts. Erst als er 36 Jahre alt war, bekam er eine erste feste Anstellung in Berlin als Konservator und Präparator am dortigen Zoologischen Museum (siehe Abb. 2). Dort konnte er seine präparatorischen Kenntnisse noch einmal wesentlich erweitern. 1859 wechselte er dann als nunmehr erster Präparator an das königliche Stuttgarter Naturalienkabinett.

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Abb. 2: Philipp Leopold Martin ca. 1851. Original im Museum für Naturkunde Berlin, Historische Bild- und Schriftgutsammlungen (MfN, HBSB, ZM Orn 94,2 MartinPL).
Fig. 2: Philipp Leopold Martin, circa 1851. Original at the Natural History Museum Berlin, Historical Image and Written Material Collections (MfN, HBSB, ZM Orn 94,2 MartinPL).

US: Das heißt, er war eigentlich ein Tierpräparator?

GH: Ja, und auf diesem Gebiet verfügte er über ein großes Talent und hatte bald umfassende Kenntnisse und Fähigkeiten, was nicht zuletzt aus seiner besonders guten Beobachtungsgabe resultierte. Er wurde nach und nach auf diesem Gebiet zu einer echten Koryphäe. Er hat ganz wesentlich eine neue präparatorische Technik mitentwickelt, die Dermoplastik, und er hat Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts ein dreibändiges Lehrbuch zur Tierpräparation verfasst, das für Jahrzehnte das Standardwerk auf diesem Gebiet war (siehe Abb. 3 mit einem Portrait Martins aus dem ersten Teil seiner „Praxis der Naturgeschichte“). Und als bedeutender Präparator war er immer und ist er auch immer noch bekannt. Dabei agierte er nicht nur als reiner Präparator. Er nahm an den toten Tieren Autopsien vor. Aus den Befunden leitete er beispielsweise ab, dass Vögel an vergifteten Feldmäusen gestorben waren und zog daraus wiederum Schlüsse.

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Abb. 3: Portrait von Philipp Leopold Martin (aus: Praxis der Naturgeschichte; Erster Teil: Taxidermie. 3. Auflage. Weimar: Voigt 1886, Vorseite).
Fig. 3: Portrait of Philipp Leopold Martin (from: Praxis der Naturgeschichte; Erster Teil: Taxidermie. 3rd edition. Weimar: Voigt 1886, preliminary page).

US: Aber seine Überlegungen zum Naturschutz gerieten, wie Sie sagten, in Vergessenheit. Worin liegt Ihrer Ansicht nach dennoch die Bedeutung Martins auf diesem Gebiet?

RK: Da lässt sich an das gerade Erwähnte anknüpfen. Martin war neben allem anderen auch noch ein sehr kundiger Ornithologe. Einige Ornithologen beobachteten um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Abnahme sowohl der Zahl der Arten wie auch der Individuen in der Avifauna. Sie führten dies vor allem auf eine veränderte, rationellere Bewirtschaftung der Agrarflächen und der Wälder zurück. Hecken und Feldgehölze wurden beseitigt, Flächen zusammengelegt, Wege begradigt, Kleingewässer trockengelegt und so weiter. Der Rückgang in der Vogelwelt hatte dann immer öfter Massenvorkommen von Schädlingen zur Folge, die wiederum die Ernten gefährdeten. Deshalb forderten damals erstmals einige wenige Ornithologen den Schutz von Vögeln. In diesen Kreis wuchs Martin hinein, aufgrund eigener, sehr ähnlicher Beobachtungen in seinem Umfeld. Er wurde zu einem Mitstreiter im sich allmählich entwickelnden Vogelschutz, dessen Begründung in einer auf den Menschen bezogenen Nützlichkeit einzelner Arten dieser Tiergruppe bestand. Also das, was wir eine anthropozentrisch-utilitaristische Begründung nennen. Aber über den Schutz einzelner Vogelarten hinaus dachte damals niemand in diesem Kreis.

US: Und was ist dann das Besondere an Philipp Leopold Martin?

GH: Er war zunächst nur einer von mehreren. Aber in seiner Veröffentlichung von 1871 dehnte er die bestehende Forderung nach einem Schutz einzelner Vogelarten nicht nur auf die gesamte Avifauna aus, sondern auch auf den Schutz anderer Tiere. Und wo er schon einmal dabei war, ging er gleich über Deutschland hinaus und dachte international. Er geißelte den Walfang, wohlgemerkt im Jahr 1871! Er geißelte auch die Robbenschlächterei, den Pelzhandel und beklagte die Büffeljagd in Amerika und schrieb, dass damit ganzen Volksstämmen die Lebensgrundlage entzogen werde. Das war ein Paukenschlag und ging weit über alles hinaus, was seine Mitstreiter bis dahin formuliert hatten.

US: Es handelt sich also um die Weiterentwicklung des Vogelschutzes hin zu einem weiter gefassten Tierartenschutz.

RK: Ja, aber es blieb nicht bei den Tieren. Er forderte die Einrichtung von, wie er es nannte, „Freistätten“ zum Schutz selten gewordener Tiere. Und damit waren nicht Zoos gemeint, sondern großräumige Schutzgebiete, also so etwas wie die heutigen Nationalparks. Vergessen Sie nicht, dass es auch dafür damals noch keine Begrifflichkeit gab. Soweit uns bekannt ist, war er damit zumindest in deutscher Sprache der Erste, bei dem der Gebietsschutz als Maßnahme des Naturschutzes aufschien. In den folgenden gut zehn Jahren publizierte er weiter zum Thema und er stellte immer neue, bis dahin meist ungehörte Forderungen und machte immer neue Vorschläge. Denn er forderte wirklich nicht nur, er sagte auch gleich, wie es gehen könnte und war dabei sehr konkret.

US: Können Sie dafür Beispiele nennen?

RK: Beispiel Gesetzgebung Er forderte eine strenge und durchgreifende Gesetzgebung – die gab es ja überhaupt noch nicht – und schlug vor, den um 1880 diskutierten ersten Entwurf für ein Vogelschutzgesetz direkt „auf das ganze Naturleben“ auszudehnen. Er schlug dazu, wiederum wohl als Erster, die Einrichtung einer einheitlichen Reichsnaturschutzbehörde vor. Er hoffte, dass durch gesetzliche Regelungen der internationale Handel mit Vögeln und deren Transport unter Kontrolle zu bekommen wäre.

GH: Unbedingt nennen sollte man einige Beispiele aus dem Feld der Ökonomie: Martin schlug vor, Fehlentwicklungen durch die Belegung mit Steuern entgegenzuwirken. Konkret nannte er die Einfuhr von Elfenbein und von Produkten aus dem Walfang sowie die damals weit verbreiteten Vogelfedern auf Damenhüten. Er schlug vor, den Walfang auf indirekte Art zurückzudrängen, und zwar, indem der große Tranverbrauch durch passende Äquivalente reduziert werden sollte. Die Holzpreise wollte er künstlich erhöhen, um den übermäßigen Holzverbrauch zu regulieren. Diese Maßnahmen – also Besteuerung, künstliche Preiserhöhung, Ersatz problematischer Materialien durch schonendere – sind für uns ja heute selbstverständlich. Zu Martins Zeit ist mir niemand bekannt, der das auf diesem Themenfeld so formuliert hätte.

RK: Und wir könnten immer noch so weitermachen. Martin wies 1882 auf den damals vor sich gehenden Raubbau an den Wäldern in Nordamerika hin und er befürchtete, dass dadurch das Klima der nördlichen Halbkugel, wie er schrieb, „gänzlich umgewandelt“ und die menschliche Existenz bedroht werden könnte.

US: Wie wollte er eigentlich seine Ideen den Menschen nahe bringen? Denn die besten Vorschläge nützen ja nichts, wenn man sie nicht vermitteln kann.

GH: Philipp Leopold Martin war niemand, der im Elfenbeinturm lebte, ganz im Gegenteil. Dreh- und Angelpunkt seiner Bemühungen war die Verbesserung der naturkundlichen Bildung weiter Bevölkerungsschichten, ganz im Sinne des bekannten Zitats „Was wir nicht kennen, das achten wir nicht“. Deshalb veröffentlichte er nicht nur im wissenschaftlichen Umfeld, sondern auch in populären Journalen. Er wies auf den seiner Meinung nach jämmerlichen Biologieunterricht in den Schulen hin, der nicht altersgemäß wäre. In der Erwachsenenbildung schlug er die Gründung „gemeinnütziger Volksmuseen“ vor, die wissenschaftlichen Sammlungen seiner Zeit empfand er als „Todtenkammern“.

US: Wie kam er zu diesem harten Urteil?

GH: Zu seiner Zeit sahen die Schausammlungen in den naturkundlichen Museen so aus: Die Präparate waren nacheinander in langen Reihen und meistens in einer einheitlichen Grundhaltung aufgestellt. Da war kein Leben erkennbar, es diente rein wissenschaftlichen Zwecken. Martin machte Vorschläge und wirkte darauf hin, die Tierpräparate in der Bewegung zu modellieren und auch nicht nur ein einziges Exemplar zu zeigen, sondern eine ganze Gruppe zu präsentieren, also beispielsweise eine Tierfamilie oder ein Rudel, und das möglichst in einer naturähnlichen Umgebung. Dazu wurden gemalte Hintergründe angefertigt und es brauchte auch Oberlichter. Es entstand also das, was später ein Diorama genannt wurde, mit dessen Einsatz sich die Naturkundemuseen erheblich veränderten und für ein breites Publikum interessant wurden. An dieser Entwicklung war Martin wesentlich beteiligt.

US: Dabei geht es ja eher allgemein um naturkundliche Bildung. Hat Martin auch Vorschläge zur Popularisierung seiner Naturschutzideen gemacht? Sie sagten, er habe sich immer sehr konkret geäußert.

RK: Das tat er auch hier. Er wollte die Menschen für die Sache der Natur zusammenbringen. Deshalb schlug er vor, sich „in freiwilligen Verbänden für den allgemeinen Naturschutz“ zusammenzuschließen. Denen sprach er dann sogar Kontrollfunktionen bezüglich der Überwachung des Naturhaushalts zu. Und die größeren unter Ihnen sollten Aufgaben des internationalen Naturschutzes übernehmen. Außerdem befürwortete Martin das Zusammenwirken von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Jagd im Interesse der Natur.

US: Das alles ist nun 150 Jahre her. Hat uns Philipp Leopold Martin heute noch etwas zu sagen?

GH: Das Wichtigste ist sicher das, was wir zuletzt angesprochen haben. Er wollte breiten Schichten der Bevölkerung eine gute naturkundliche Bildung ermöglichen. Nur so könnte man die Liebe zur Natur wecken und viele Menschen für deren Schutz begeistern. Ohne eine Mitwirkung vieler Menschen schien ihm Naturschutz nicht Erfolg versprechend zu sein. Das ist das Gegenteil einer elitären Einstellung, wie sie dann im Natur- und Heimatschutz um 1900 nicht gerade selten sein sollte. Mir fällt an dieser Stelle die Kampagne „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ein, die man durchaus als eine Fortentwicklung dieses Grundgedankens ansehen kann.

RK: Vielleicht noch ein Zweites: Martin forderte schon damals sowohl eine staatliche Naturschutzbehörde wie auch die Gründung privater Vereine mit Kontrollfunktionen. Dieses Zusammenwirken des staatlichen und privaten Naturschutzes hat sich später tatsächlich entwickelt, wir haben es heute noch und es hat sich durchaus bewährt.

US: Sie beide haben vor genau zehn Jahren in unserer Zeitschrift über Ihre Wiederentdeckung von Philipp Leopold Martin in Bezug zum Naturschutz berichtet. Die spannende Frage zum Schluss lautet: Wieso konnte er im Naturschutz in Vergessenheit geraten?

GH: Da gibt es verschiedene Aspekte. Zum einen ist zu beachten, dass er eben nur im Naturschutzkontext in Vergessenheit geraten ist, als bedeutender Tierpäparator wie auch als Museumsbildner war er immer anerkannt. Dann muss man unbedingt die verschiedenen Zeitebenen auseinanderhalten.

US: Was meinen Sie damit?

GH: Eine bedeutende und spannende Frage ist meines Erachtens, warum seine Publikationen damals, also etwa in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts, keine Wirkmächtigkeit im Bereich des Naturschutzes entfaltet haben und hier schon um 1900 weitgehend in Vergessenheit geraten waren. Das letzte, wirklich winzige Zeichen einer Wahrnehmung seitens des Naturschutzes, das wir bei unseren Forschungen bisher finden konnten, datiert aus dem Jahr 1925. In diesem Jahr fand der erste Deutsche Naturschutztag statt und aus diesem Anlass wurde eine Auswahlbibliographie zur Naturschutzliteratur erstellt. Im Nachtrag dazu findet sich Martins Buch „Mensch und Thierwelt im Haushalt der Natur“ aus dem Jahr 1880, aber auch nur dieses eine Werk. Danach nichts mehr. Dass er anschließend für etwa 100 Jahre im Naturschutzkontext überhaupt nicht mehr aufgetaucht ist, ist schon bemerkenswert, aber nicht mehr ganz so wichtig. Irgendwann fällt so jemand wieder auf und mein Kollege hatte das Glück der Wiederentdeckung.

US: Lassen Sie uns auf Ihren ersten Satz zurückkommen. Was geschah im Naturschutz und mit Philipp Leopold Martin während des letzten Quartals des 19. Jahrhunderts?

RK: Über diese Frage grübeln wir, seit wir auf ihn gestoßen sind, und man kann da letztlich nur mehr oder weniger gut begründete Vermutungen aufstellen. Kann es eine Rolle gespielt haben, dass er vielleicht kein ganz umgänglicher Charakter war? Das könnte dazu beigetragen haben, dass Martins Ideen zum Naturschutz in Vergessenheit gerieten, war aber sicher nicht entscheidend. Etwas stärker mag da schon die Tatsache wiegen, dass er ja keinerlei wissenschaftliche Qualifikation vorweisen konnte. Aber wie schon gesagt, das Schicksal, vergessen zu werden, ist ihm auf seinem Hauptfeld, der Tierpräparation, erspart geblieben und auch in der Präsentationsgeschichte der Naturkundemuseen ist das nicht geschehen. Es kann also eigentlich nur in der speziellen Situation des Naturschutzes begründet sein.

US: Zu welchem Schluss kommen Sie da?

RK: Ich bin mir mittlerweile sicher, dass er seiner Zeit einfach voraus war. Seine ab 1870 publizierten Ansichten überschritten die Gedankenwelt der zeitgleich agierenden Vogelschützer, aus deren Umfeld er stammte, erheblich. Und dann starb er 1885 (siehe Abb. 4) zu einem Zeitpunkt, als sich seine neuen Ideen noch quer zum Zeitgeist stellten. Da kam jemand daher und stellte abenteuerliche Thesen auf, ohne jemals eine Universität besucht zu haben. Wie sollte man so jemanden ernst nehmen?

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Abb. 4: Grabstätte der Familie Martin auf dem Bergfriedhof in Stuttgart.
Fig. 4: Gravesite of the Martin family at the Bergfriedhof cemetery in Stuttgart.
(Foto: Katharina Koch)

GH: Wir haben zu Beginn unseres Gesprächs kurz die Klageschrift des Musikprofessors Ernst Rudorff aus dem Jahr 1880 erwähnt, die so lange als erste, vorwiegend ästhetische Bestandsaufnahme der Natur- und Landschaftszerstörung in Deutschland galt, und die natürlich nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt hat. Aber auch auf diese Publikation hat es nach unserem heutigen Kenntnisstand keinerlei öffentliche Reaktion gegeben! Das hat Rudorff so frustriert, dass er erst acht Jahre später einen neuen Anlauf in der Öffentlichkeit unternahm, wieder erfolglos. Und zu diesem Zeitpunkt war Martin ja schon drei Jahre tot. Erst in den letzten zehn oder eigentlich sogar fast nur fünf Jahren des 19. Jahrhunderts, also nach einer Durststrecke von fast zwanzig Jahren, begannen sich Rudorffs Anstrengungen auszuzahlen und er wurde schließlich zu einer zentralen Figur des deutschen Naturschutzes und zum Begründer des Heimatschutzes. Er hatte einfach das Glück, 25 Jahre, also eine ganze Generation, jünger zu sein als Martin, und während der eine den Durchbruch des Naturschutzes erlebte, war der andere schon lange verstorben und geriet in Vergessenheit.

US: Wenn Sie es auf eine kurze, griffige Formulierung bringen müssten: Welche Rolle würden Sie Philipp Leopold Martin in der deutschen Naturschutzgeschichte zubilligen?

RK: Tatsächlich war Martin sehr rührig, hat viel publiziert und war beispielsweise auch als Vereinsgründer tätig. Aber natürlich: Wirklich wirkmächtig war er nicht, dafür war er seiner Zeit zu weit voraus und ist zu früh verstorben. Aber er hat eine große Bedeutung als Vordenker des deutschen Naturschutzes, als jemand, der viele Dinge, die später umgesetzt wurden und noch viel später als selbstverständlich galten, als erster formuliert hat.

US: Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Hinweis der Redaktion

Über Philipp Leopold Martin als Naturschützer können Sie im Band 417 der BfN-Skripten aus dem Jahr 2015 nachlesen. Dort sind neben weiterführenden Texten und einem Lebenslauf auch alle seine naturschutzbezogenen Schriften als Faksimile abgedruckt. Der Band enthält zudem eine vollständige Bibliographie aller Publikationen von Philipp Leopold Martin sowie die relevante naturschutzfachliche Sekundärliteratur, somit auch sämtliche hier genannte Literatur. Band 417 der BfN-Skripten finden Sie als Download unter https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/service/Dokumente/skripten/Skript417.pdf. Für eine kostenfreie gedruckte Fassung der Publikation richten Sie bitte eine Anfrage an bibliothek-bonn@bfn.de.

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Dipl.-Bibl. Gerhard Hachmann

Korrespondierender Autor

Bundesamt für Naturschutz

Referat Z 4 – Literaturdokumentation, Bibliotheken, Schriftleitung

Konstantinstraße 110

53179 Bonn

E-Mail: gerhard.hachmann@bfn.de Jahrgang 1958. 1977 – 1981 Studium des Bibliothekswesens in Köln; 1981 – 1982 Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung (wissenschaftliche Spezialbibliothek mit politisch-historischen Beständen); 1983 – 1986 Mitarbeit an einem Forschungsprojekt der DFG zur Dokumentation des Briefwechsels deutscher Philosophen des Zeitraums 1750 – 1850 am Philosophischen Institut der Universität Düsseldorf; seit 1987 in der Bibliothek des Bundesamtes für Naturschutz, seither immer wieder Beschäftigung mit naturschutzhistorischen Fragestellungen.

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Dipl.-Bibl. Rainer Koch

Bundesamt für Naturschutz

Referat Z 4 – Literaturdokumentation, Bibliotheken, Schriftleitung

Konstantinstraße 110

53179 Bonn

E-Mail: rainer.koch@bfn.de

Dr. Ulrich Sukopp

Schriftleitung von „Natur und Landschaft“

Bundesamt für Naturschutz

Konstantinstraße 110

53179 Bonn

E-Mail: nul-schriftleitung@bfn.de

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